Einleitung
Das Reizdarmsyndrom gehört zur Gruppe der funktionellen Darmerkrankungen und spiegelt darin die wichtigste Entität wider. Funktionelle Darmerkrankungen haben ein heterogenes Krankheitsbild in Bezug auf die Art und Schwere der Symptome, den klinischen Verlauf und die Beeinträchtigung im Alltag. Das Reizdarmsyndrom äußert sich in chronisch abdominellen Beschwerden und Schmerzen, die auf den Darm bezogen werden. Typische Symptome sind krampfartige Abdominalschmerzen, Diarrhö, Obstipation, Flatulenzen und Meteorismus (abdominelle Distension), ohne dass eine eindeutige organische Ursache auszumachen ist. Die Beschwerden gehen häufig mit Veränderungen des Stuhlganges einher (Stuhlfrequenz, -konsistenz) und führen zu einer stark beeinträchtigten Lebensqualität der Betroffenen. Unterschiedliche ätiopathogenetische und pathophysiologische Prozesse liegen der Erkrankung zugrunde, wobei interagierende somatische und psychosoziale Faktoren zu Prädisposition, Auslösung und Schweregrad beitragen können. Nach derzeitigem Verständnis wird die Erkrankung als Störung der Darm-Hirn-Achse definiert. Je nach verwendeten Definitionskriterien und Populationen ergaben epidemiologische Studien eine weltweite Prävalenz zwischen 2,5 bis 37 % (Ø 19 %). Frauen sind in der Regel häufiger betroffen als Männer; das Verhältnis liegt bei etwa 2 : 1. Aufgrund der hohen direkten Kosten (Diagnostik, Medikamente, Begleiterkrankungen) und indirekten sozialen Kosten (Fehlzeiten Arbeit/Schule, Produktivitätsverlust und verminderte Lebensqualität) stellt das Reizdarmsyndrom eine hohe sozioökonomische Belastung dar. Eine ständige Analyse und Bewertung neuer Forschungserkenntnisse ist daher notwendig, um Diagnose- und Behandlungsstrategien in den Leitlinien anzupassen.
Die wichtigsten Änderungen in der Diagnosestellung
Paradigmenwechsel in der Definition des Reizdarmsyndroms
Neue Erkenntnisse zur Pathophysiologie führen zu einem Paradigmenwechsel in der Leitliniendefinition des Reizdarmsyndroms. Damit wird den Ergebnissen der Rom-IV-Konsensuskonferenz gefolgt, die das Krankheitsbild als „Störung der Darm-Hirn-Interaktion“ definiert. Die heterogenen Ausprägungen und Symptome reflektieren die individuell betroffenen Elemente der Darm-Hirn-Achse. Um die klinische Realität besser abzubilden, wird das Reizdarmsyndrom in der Leitlinie abweichend von den Rom-IV-Kriterien definiert.
Für ein Reizdarmsyndrom müssen drei Kriterien erfüllt sein:
- 1. Es bestehen länger als drei Monate anhaltende oder rezidivierende Darmbeschwerden (z. B. Abdominalschmerzen, Flatulenzen, Meteorismus, Gefühl unvollständiger Entleerung), die in der Regel mit Stuhlgangveränderungen einhergehen: a. Stuhlfrequenz (<3 Stuhlgänge pro Woche oder >3 Stuhlgänge pro Tag); b. Stuhlkonsistenz (hart/klumpig oder breiig/wässrig)
- 2. Die Lebensqualität ist dadurch stark beeinträchtigt.
- 3. Es liegen keine anderen Krankheitsbilder vor, die für die Symptome verantwortlich sind.
Koordination von Patienten
Hausärztlich tätige Ärzte begleiten Patienten meist langjährig und übernehmen daher eine wichtige Funktion in der Koordination der weiterführenden Diagnostik und Therapien. Eine interdisziplinäre Versorgung sollte zudem durch eine fachdisziplinübergreifende Kommunikation gewährleistet sein (u. a. Gastroenterologie, Gynäkologie, Psychosomatik). Für eine rationale und praktikable Koordination in der Diagnosesicherung erscheint laut aktualisierter Leitlinie die nachfolgende Aufteilung der Aufgaben sinnvoll:
- Basisuntersuchungen: Hausarzt
- Diagnosesicherung: Gastroenterologe
- Diagnosemitteilung: Hausarzt oder Gastroenterologe
Strukturiertes diagnostisches Vorgehen
Die aktualisierte Reizdarm-Leitlinie hat die bisherigen diagnostischen Maßnahmen evaluiert und einige ihrer Empfehlungen aktualisiert. Aufgrund fehlender Validität und Aussagekraft gibt es derzeit keine spezifischen Biomarker, mit deren Hilfe die Diagnose sicher gestellt werden kann. Eine Differenzialdiagnostik ist beim Reizdarmsyndrom daher unumgänglich. Um zu vermeiden, dass mehrere Jahre bis zur Erstdiagnose vergehen (Stand 2019: bis zu acht Jahre), legt sie ihren Schwerpunkt auf die wichtigsten Differenzialdiagnosen, um eine möglichst frühe und verlässliche Diagnose zu ermöglichen. Der Verdacht auf ein Reizdarmsyndrom wird zunächst durch eine kompatible Beschwerdekonstellation und -schwere sowie durch weitere anamnestische Kriterien geäußert. Eine gesicherte Diagnose kann erst nach folgenden Punkten gestellt werden: Nach einer ausführlichen Anamnese und nach Ausschluss relevanter Krankheiten oder Störungen, die sich ebenfalls mit Symptomen eines Reizdarmsyndroms äußern, jedoch kausal behandelt werden können (z. B. Nahrungsmittelintoleranzen). Bereits die initiale Aufklärung der Patienten über die einzelnen Diagnoseschritte sowie der darauf folgende überzeugende Ausschluss relevanter organischer Erkrankungen tragen zu einer verbesserten Akzeptanz einer Erkrankung ohne nachweisbare organische Ursachen bei. Darüber fördert dieser wichtige Schritt ein positives Verhältnis zwischen dem Arzt und dem Patient und trägt durch die damit verbundene Beruhigung (Reassurance) auch zum Therapieerfolg bei. Wenn nach sorgfältiger initialer Diagnosestellung im weiteren Management keine neuen Aspekte oder Warnzeichen auftauchen, ist die Diagnose „Reizdarmsyndrom“ sehr stabil, und eine erneute Diagnostik soll vermieden werden. Eine rasche Diagnosestellung vermeidet Diagnose- und Therapieverschleppung anderer, womöglich schwerwiegender Ursachen, Gesundheitsökonomisch ineffiziente Wiederholungsdiagnostik.
Wichtigste Differenzialdiagnosen
Die Diagnose Reizdarmsyndrom ist eine Ausschlussdiagnose. Daher müssen organisch verursachte Erkrankungen, die zu einem ähnlichen Symptomkomplex führen können, zügig ausgeschlossen werden. Der Ausschluss richtet sich nach den individuell auftretenden Leitsymptomen Diarrhö, Obstipation, Abdominalschmerzen und Meteorismus/Flatulenzen.
Zentral: Relevante Aspekte in der Anamnese beachten
Die ausführliche Anamnese stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik des Reizdarmsyndroms dar. Dazu gehört v. a. die gezielte Abfrage
- des typischen Symptomkomplexes (Leitsymptome) und der Dauer,
- der subjektiven Einschätzung der Patienten zu Schwere und Auswirkung,
- von vorangegangenen Ereignissen, u. a. Darminfektionen, Operationen, Antibiotikabehandlungen, stark belastende Lebensereignisse,
- von anderen funktionellen Störungen (z. B. Reizmagen),
- von psychischen Komorbiditäten (z. B. Ängstlichkeit, Depression),
- von individuell feststellbaren Triggerfaktoren, u. a. Nahrungsmittel, psychische Belastung (z. B. Beruf, persönlicher Verlust, Trauma), Medikamente
- von Warnzeichen.
Um ein Verständnis der Erkrankung und ihrer Bedeutung für die Patienten zu gewinnen, ist die objektive Erfassung der Symptomschwere sowie der beeinträchtigten Lebensqualität notwendig. Dies sollte möglichst standardisiert erhoben werden, um die Behandlung auf die wichtigsten Beschwerden auszurichten und den Verlauf zu beurteilen. Aspekte, die sich aus der Anamnese ergeben, können zwar auf ein Reizdarmsyndrom hinweisen, reichen zur Diagnosesicherung jedoch nicht aus. Sogenannte Warnzeichen haben dagegen eine hohe Spezifität für das Vorliegen entzündlicher oder maligner Grundkrankheiten und schließen die Arbeitsdiagnose eines Reizdarmsyndroms für das weitere diagnostische Vorgehen zunächst aus.
Methoden zum Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen
- Körperliche und rektale Untersuchung; bei Frauen auch gynäkologische Vorstellung
- Basislabor und Zöliakie-Antikörper (Gewebstransglutaminase-IgA-Antikörper inkl. Gesamt-IgA) und Lipase und C-reaktives Protein (CRP)/Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) und Urinstatus und Stuhl: Calprotectin A/Lactoferrin
- Abdomensonografie
Weiterführende individuelle Diagnostik
Bei Diarrhö, familiären Risiken oder klarem Verdacht aus der Anamnese oder den Basisuntersuchungen wird eine weiterführende Diagnostik individuell und je nach führendem Symptom angeschlossen. Besteht Diarrhö als wesentliches Symptom, soll grundsätzlich eine umfassende diagnostische Abklärung durchgeführt werden, da häufig eine behandelbare Ursache zugrunde liegt. Bei Verdacht empfiehlt die Leitlinien u. a. den Nachweis von Glutensensitivität und Histaminintoleranz, v. a. mithilfe ernährungsmedizinischer Betreuung. Auch aus der Labordiagnostik können sich wichtige Warnzeichen ergeben, die auf eine organische Pathologie oder Erkrankung hindeuten. Das Fehlen hat jedoch auch hier nur einen geringen prädiktiven Wert. Schon bei der Diagnose ist es hilfreich, unter Nutzung der Bristol-Stuhlformen-Skala den Reizdarmtyp zu beurteilen. Dies erleichtert es, hinsichtlich der heterogenen Symptomatik, Ausprägung und Beeinträchtigungen im Alltag ein zielführendes therapeutisches Konzept zu erstellen
- RDS-O (Obstipation dominant)
- RDS-D (Diarrhö dominant)
- RDS-M (gemischt, Diarrhö und Obstipation alternierend)
Die Rolle des Mikrobioms beim Reizdarmsyndrom
Neue Erkenntnisse zu Risikofaktoren
In den letzten Jahren gab es relevante Fortschritte und neue Erkenntnisse hinsichtlich der Pathophysiologie des Reizdarmsyndroms. Diese wurden im Leitlinien-Update berücksichtigt und sind nun in der Definition sowie den Empfehlungen zur Diagnose und Therapie integriert. Die Genese und Aufrechterhaltung des Beschwerdebildes wird multifaktoriell begünstigt und ist oft komplex. Dennoch sind einige Risikofaktoren als initiale Auslöser bekannt, die auch den Verlauf eines Reizdarmsyndroms ungünstig beeinflussen können. Dazu gehören u. a.:
- Enterale Infekte
- Antibiotikatherapien
- Psychische Faktoren (akut sowie chronisch): Zu beachten ist, dass psychische Belastungen auch sekundär als Folge der chronischen gastrointestinalen Beschwerden auftreten können.
Die Darm-Hirn-Achse und das Mikrobiom gewinnen an Bedeutung
Die neue Definition des Reizdarmsyndroms als „Störung der Darm-Hirn-Interaktion“ basiert auf einer Vielzahl neuer Erkenntnisse zur Pathophysiologie. Dabei spielt das intestinale Mikrobiom eine zentrale Rolle, da es verschiedene Bereiche der humanen Physiologie stark beeinflusst. Zu den diversen molekulare und zellulären Pathomechanismen beim Reizdarmsyndrom gehören:
- Motilitätsstörungen und veränderter intestinaler Reflex
- Verändertes Darmmikrobiom
- Gestörter Gallensäuremetabolismus
- Veränderte Schleimhautfunktionen mit gestörter intestinaler Barriere und Sekretion
- Viszerale Hypersensitivität
- Veränderte enterale Immunantworten
- Veränderte Signalverarbeitung in verschiedenen Hirnarealen
- Veränderte Dichte und Funktion enteroendokriner Zellen
- Änderungen der Protease-vermittelten Funktionen
- Verändertes Fettsäuremuster im Stuhl
- Veränderungen der extrinsischen Innervation und im enterischen Nervensystem
- Veränderter hormoneller Status
- Mögliche genetische Prädisposition
- Veränderte epigenetische Faktoren
Dysfunktionales Mikrobiom
In der aktualisierten Leitlinie wird hervorgehoben, dass das Reizdarmsyndrom durch ein verändertes (dysbiotisches) Darmmikrobiom gekennzeichnet ist. Trigger für ein dysbiotisches Mikrobiom sind neben einem ungünstigen Lebensstil oder einer ungünstigen Ernährung auch die erwähnten Risikofaktoren der Reizdarmgenese. Verändert sich die Zusammensetzung der Darmmikrobiota, verändern sich auch funktionelle Abläufe im Mikrobiom sowie Muster mikrobieller Stoffwechselprodukte. Beispiele:
- Verringerte mikrobielle Biotransformation von primären Gallensäuren in sekundäre Gallensäuren bei RDS-D-Patienten. Die damit verbundene Malabsorption primärer Gallensäuren kann die veränderte Sekretion mit antreiben.
- Auffälligkeiten in der mikrobiellen Synthese von kurzkettigen Fettsäuren wie u. a. Propionsäure und Buttersäure. Veränderte Spiegel oder Muster können die immunologische und epitheliale Aktivität stark beeinflussen.
Darmbarrierestörung
Die Darmmikrobiota ist auch ein essenzieller Regulator intestinaler Permeabilität und Homöostase. Neben ihrer Schutzfunktion vor Pathogenen (Kolonisationsresistenz) liefert sie u. a. Energiequellen für die Regeneration von Epithelzellen und regt Becherzellen zur Schleimproduktion an. Eine intakte Darmbarriere verhindert die ungewollte Schleimhautpassage von Antigenen und Pathogenen, die eine Aktivierung des enterischen Immunsystems auslösen würden. Bei einem signifikanten Anteil der Reizdarmpatienten liegt eine Barrierefunktionsstörung vor. Diese erhöhte intestinale Permeabilität ist nachweislich mit einer unterschwelligen Immunaktivierung, einer viszeralen Hypersensitivität, mit Veränderungen der Darmfunktion sowie Abdominalschmerzen assoziiert.
Mukosale Immunaktivierung
Die Darmmikrobiota weist normalerweise einige immunmodulatorische Funktionen auf, um die Homöostase im Körper aufrechtzuerhalten. Einige der kommensalen Bakterien können direkten Kontakt mit Zellen des darmassoziierten Immunsystems aufnehmen und so die Immunabwehr beeinflussen. Bei Reizdarmpatienten wird eine erhöhte Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine nachgewiesen, die sich in einer unterschwelligen, also nur histopathologisch nachweisbaren, Entzündung äußert.
Dysregulation des enterischen Nervensystems
In der Lamina propria bilden Chemosensoren und sensorische Nervenfasern ein Netzwerk, das intestinale Reize über extrinsische Bahnen in das zentrale Nervensystem (ZNS) weiterleitet. Während diese Sensoren physiologisch nur auf starke Reize reagieren, ist bei Reizdarmpatienten die Aktivierungsschwelle deutlich herabgesetzt, sodass normale Reize als schmerzhaft wahrgenommen werden (viszerale Hypersensitivität). Histologische Untersuchungen bei Reizdarmpatienten zeigen zudem eine erhöhte Konzentration von Immunzellen, besonders von Mastzellen. Diese positionieren sich in direkter Nähe zu Nervenendigungen – eine Schlüsselstellung für die Immun-Nerven-Kommunikation, die wesentlich zur Entstehung der viszeralen Hypersensitivität beiträgt. Die Mikrobiota interagiert zudem direkt und indirekt mit dem enteroendokrinen System und dem enterischen Nervensystem. Mikrobielle Botenstoffe sind z. B. an der Aktivierung oder Sensibilisierung afferenter Schmerzrezeptoren beteiligt. Des Weiteren können Hormon- bzw. Neurotransmitterspiegel beeinflusst werden, die auf die Darmmotilität, aber auch auf das ZNS einwirken. Dazu gehören u. a. Gamma-Aminobuttersäure (GABA), Dopamin, Noradrenalin und insbesondere Serotonin, das zu 90 % in enterochromaffinen Zellen im Darm gebildet wird. Dysbiose-bedingt veränderte Neurotransmitterkonzentrationen können so u. a. zur viszeralen Hypersensitivität sowie zu heterogen veränderter Darmmotilität und Transitzeit beitragen (RDS-O, RDS-D).
Neues Konzept für verbesserten Therapieerfolg
Basismaßnahme: Aufklärung und Stärkung der Eigenverantwortung
Nachdem die Diagnostik abgeschlossen ist, ist ein zentraler Baustein der Therapie die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit durch Edukation der Patienten, u. a. auf Basis der Vertrauensbeziehung zwischen dem Arzt und dem Patienten und durch unterstützende Broschüren. Diese positive Beziehung führt zu einer geringen Zahl an Rekonsultationen, u. a. aufgrund einer besseren Therapieadhärenz und eines höheren Therapieerfolges. Neben einer guten Vertrauensbeziehung können Informationsmaterialien, Selbsthilfegruppen, der normale zeitliche Krankheitsverlauf und der Placeboeffekt Faktoren sein, die zu einer symptomatischen Beschwerdebesserung beitragen.
Individueller multimodaler Therapieansatz
Aufgrund der Heterogenität des Reizdarmsyndroms gibt es keine kausale Behandlung oder Standardtherapie. Auf Basis der individuell zugrunde liegenden pathophysiologischen Störungen kann es zudem zu einem unterschiedlichen Therapieansprechen kommen. Das Leitlinien-Update berücksichtigt die neuen Erkenntnisse zum Reizdarmsyndrom und die neue Definition („Störung der Darm-Hirn-Interaktion“) und verweist darauf, dass mehrere Behandlungsstrategien kombiniert werden sollten, um eine möglichst effiziente und schnelle Linderung der Beschwerden zu erzielen. Ein realistisches Therapieziel bei einem Reizdarmsyndrom ist die Linderung der Symptome und die Verbesserung der Lebensqualität. Das multimodale Therapiekonzept verbindet die symptomorientierte medikamentöse Therapie in Kombination mit anderen Therapieverfahren aus den pathophysiologischen Bausteinen Mikrobiom, Ernährung und Psyche. Dieser multimodale Ansatz ermöglicht einen möglichst großen Therapieerfolg, sodass Betroffene nicht zum „Ärzte-Hoppern“ werden und in einer Behandlung ankommen können.
Akut: Symptomorientierte medikamentöse Therapie
Eine medikamentöse Therapie sollte stets symptomorientiert, d. h. anhand des Hauptsymptoms erfolgen (Abdominalschmerzen, Diarrhö, Obstipation, Flatulenzen). Die empfohlenen Therapien werden in der Leitlinie detailliert vorgestellt. Bei unzureichendem Therapieerfolg sollten, wenn nötig, sukzessiv unterschiedliche Medikamente probiert werden. Auch eine Kombination verschiedener Medikamente oder unterschiedlicher Therapieverfahren kann zum Einsatz kommen.
Generelle Behandlungsdauer
Da es keine einheitliche Standardtherapie gibt, hat jede Therapie zunächst einen probatorischen Charakter. Die Dauer sollte a priori mit den Betroffenen besprochen werden. Ein medikamentöser Therapieversuch ohne Ansprechen sollte nach spätestens drei Monaten abgebrochen werden. Eine erfolgreiche symptomatische Therapie sollte, je nach Verlauf, langfristig und kontinuierlich fortgeführt werden. Für nicht medikamentöse Behandlungsansätze können abweichende Zeiträume gelten.
Die Darm-Hirn-Achse als therapeutischer Ansatz
Wie beschrieben, verweisen die neuen Erkenntnisse zur Pathophysiologie auf eine Störung der Darm-Hirn-Interaktion, in der das intestinale Mikrobiom eine zentrale Rolle spielt. Die aktualisierte Leitlinie trägt der Erkenntnis Rechnung und widmet dem intestinalen Mikrobiom erstmals ein eigenes Kapitel. Die wissenschaftliche und klinische Forschung konzentrierte sich in den letzten Jahren auf die Mikrobiommodulation als therapeutischen Ansatz, um so Einfluss auf Stoffwechselvorgänge, Immunreaktionen und auf neuromuskuläre Funktionen des Darmes zu nehmen. Dafür bieten sich verschiedene Interventionen an, die das Mikrobiom modulieren können.
Angemessene Bewältigungsstrategien
Einfache psychoedukative Elemente wie angeleitete Selbsthilfestrategien sowie komplementärmedizinische Strategien zur Stressreduktion haben positive Effekte auf die Beschwerden und Lebensqualität von Reizdarmpatienten. Sie sollten daher als Teil des multimodalen Behandlungskonzeptes angeboten werden. Falls indiziert oder auf Wunsch der Patienten sollen psychotherapeutische Verfahren als Teil des Behandlungskonzeptes angeboten werden. Diese können mit einer Psychopharmakotherapie kombiniert werden. Gleichzeitig sollte aber die allgemein- und fachärztliche Betreuung weitergeführt werden. Geeignete psychotherapeutische Verfahren bei Reizdarm sind:
- Kognitive Verhaltenstherapie
- Psychodynamische Psychotherapie
- Verfahrensmischformen („multi-component psychotherapy“)
Fäkaler Mikrobiomtransfer
Das Leitlinien-Update gibt keine Empfehlungen für den fäkalen Mikrobiomtransfer. Denn obwohl einige Fallberichte und inzwischen mehrere kontrollierte Studien moderate therapeutische Effekte für den fäkalen Mikrobiomtransfer belegen konnten, bleibt eine Vielzahl technischer, ethischer und sicherheitsrelevanter Fragen noch ungeklärt.
Antibiotika
Neu ist, dass beim therapierefraktären Reizdarmsyndrom ohne Obstipation das Antibiotikum Rifaximin zur Off-Label-Behandlung erwogen werden sollte. Die Ergebnisse einer Metaanalyse von fünf randomisierten kontrollierten Studien, „randomized controlled trials“ (RCT), belegen, dass die Gabe von Rifaximin zur signifikanten Besserung sowohl der globalen Symptome als auch einzelner Beschwerden wie Blähungen, abdominelle Schmerzen und ungeformter Stuhl beiträgt. In einer weiteren Studie führte Rifaximin bei Patienten vom Diarrhö-/Schmerztyp zu einer signifikanten Verringerung der abdominellen Schmerzen, jedoch nicht zu einer Verbesserung der Stuhlkonsistenz.
Ernährung
Die Ernährung, insbesondere langfristige Essgewohnheiten, beeinflusst nicht nur direkt die Zusammensetzung, sondern auch die Funktion des Mikrobioms und damit die Gesundheit. Auf diese Weise können beim Reizdarmsyndrom Ernährungsfaktoren Symptome direkt triggern oder modulieren, d. h. sowohl exazerbieren als auch lindern. Das Leitlinien-Update sieht daher eine therapeutische Modulation der Darmmikrobiota durch die Ernährung als sinnvollen Bestandteil eines Therapiekonzeptes für Reizdarmpatienten. Eine allgemeine ernährungsbezogene Empfehlung zur Prävention des Reizdarmsyndroms kann nicht gegeben werden. Auch einheitliche Ernährungsempfehlungen, die für alle Reizdarmpatienten gleichermaßen gelten, können nicht gegeben werden. Als Basisernährung bei funktionellen Darmbeschwerden eignet sich die „angepasste Vollkost“ (ausgewogene Vollkost, in der individuell unverträgliche Lebensmittel vermieden werden), um Verdauungsorgane und -prozesse zu entlasten. Es stehen jedoch individuelle Empfehlungen zur Verfügung, die sich an den jeweiligen Symptomen orientieren.
Der Reizdarmspezialist: Die Low-FODMAP-Diät
Die Low-FODMAP-Diät ist derzeit die einzige evidenzbasierte Eliminationsdiät, die in einigen Studien einen Rückgang gastrointestinaler Beschwerden bei Reizdarmpatienten gezeigt hat. Die höchste Wirksamkeit zeigte sich bei RDS-D-Typen mit Abdominalschmerzen und Flatulenz sowie ggf. auch bei RDS-O-Typen. Zu fermentierbaren Oligo-, Di-, Monosacchariden und (and) Polyolen (FODMAP) gehören vor allem Fructose und Galactose, Lactose, Fructane, Inulin und Galacto-Oligosaccharide sowie Sorbit und Mannit. Sie stehen im Verdacht, besonders bei Reizdarmpatienten zu den Symptomen beitragen zu können. Eine FODMAP-arme Ernährungsumstellung ist komplex und langwierig (drei Phasen: Elimination, Toleranzfindung, finaler Ernährungsplan). Zudem sind in allgemein als gesund geltenden Nahrungsmitteln oft mehrere FODMAP in unterschiedlichen Mengen enthalten. Daher sollte laut aktualisierter Leitlinie eine begleitende medizinische Ernährungsberatung empfohlen werden, um zu starke oder unnötige Einschränkungen und eine Mangelernährung zu vermeiden sowie um orthorektische oder anorektische Patienten zu identifizieren. Die Ernährungsumstellung sollte außerdem nur dann längerfristig angewendet werden, wenn eine deutliche Verbesserung des Beschwerdebildes feststellbar ist.
Präbiotika
Für spezifische Präbiotika wird in der Behandlung des Reizdarmsyndroms keine Empfehlung abgegeben. Die Begründung basiert darauf, dass das Wirkprinzip von Präbiotika nicht vollständig verstanden ist und — selbst für das am häufigsten untersuchte Präbiotikum Inulin — die Studienlage bei diesem Krankheitsbild noch unzureichend ist.
Probiotika
Erstmals gibt die neue Leitlinie eine klare positive Empfehlung für ausgewählte Probiotika. In den S3-Leitlinien aus dem Jahr 2011 wurden Probiotika in der Behandlung des Reizdarmsyndroms mit dem Empfehlungsgrad 0 („Kann“-Empfehlung) ausgezeichnet. Die stark vorangeschrittene Forschung der letzten Dekade lieferte eine Vielzahl an Erkenntnissen, dass probiotische Bakterienstämme relevante Symptome des Reizdarmsyndroms (u. a. Schmerzen, Flatulenzen, Diarrhö und Obstipation) sowie die Lebensqualität verbessern können. Aufgrund dessen erlangen ausgewählte Probiotika nun im aktuellen Leitlinien-Update den Empfehlungsgrad B („Sollte“-Empfehlung).
Stammspezifität einfach erklärt
Bei einem Bakterienstamm handelt es sich um eine genetische Variante einer Bakterienspezies. Wie stark sich Bakterienstämme in ihren Eigenschaften unterscheiden können, lässt sich sehr gut anhand des Bakteriums Escherichia coli feststellen. Diese Spezies ist ein wichtiger natürlicher Bestandteil der kommensalen intestinalen Mikrobiota und übernimmt dort vielfältige Aufgaben, wie z. B. die Regulation der Sauerstoffkonzentrationen. Forscher der LMU München veröffentlichten 2021 eine Studie, die zeigte, dass diese kommensalen E. coli-Varianten dazu beitragen, pathogenen Salmonellenarten die Nahrungsquelle zu entziehen und so vor Infektionen schützen. Doch neben den kommensalen Stämmen gibt es auch E. coli-Stämme mit genetischen Variationen, die pathogene Eigenschaften mit sich bringen. In der Klinik spielen z. B. E. coli-Vertreter eine Rolle, die enterohämorrhagische Eigenschaften (EHEC) haben und Shiga-ähnliche Toxine produzieren können. Andere Stämme haben wiederum enteroinvasive Eigenschaften (EIEC) – können also in intestinale Zellen eindringen, um sich dort rasch zu vermehren.
Konsequenzen für die indikationsspezifische Mikrobiommodulation
Verschiedene probiotische Stämme haben dementsprechend auch unterschiedliche Eigenschaften. Ein Beispiel für spezifische Eigenschaften ist Lactobacillus plantarum 299v, ein Stamm der beim Reizdarmsyndrom sowohl klinisch als auch präklinisch sehr gut untersucht ist. Er bringt u. a. folgende für das Reizdarmsyndrom relevante Wirkmechanismen mit:
- Spezifische Modulation des dysbiotischen Mikrobioms
- Inhibierung der Anheftung von Krankheitserregern an Wirtszellen
- Antimikrobielle Metabolite, die spezifische Krankheitserreger direkt hemmen
- Stärkung der intestinalen Barrierefunktion und Mukusbildung
- Regulation der viszeralen Sensitivität und gastrointestinalen Motilität
- Regulation der unterschwelligen mukosalen Immunaktivierung
Nicht alle probiotischen Stämme haben jede dieser Fähigkeiten und auch nicht im gleichen Ausmaß. Dies kann erklären, warum verschiedene Stämme der gleichen Spezies bei einer bestimmten Indikation unterschiedlich effektiv wirken. Bei einer anderen Indikation können wiederum abweichende Mechanismen erforderlich sein, sodass Stämme benötigt werden, die entsprechende Eigenschaften mit sich bringen.
Klinische Studien zu Probiotika beim Reizdarmsyndrom
Die Autoren der Leitlinie folgen den aktuellen Kenntnissen zur Stamm- und Indikationsspezifik von Probiotika. Es werden unterschiedliche probiotische Stämme erwähnt, die in randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studien (RCT) signifikante positive Effekte bei Reizdarmpatienten gezeigt haben. Verwiesen wird darauf, dass relevante Unterschiede in der Wirksamkeit bestehen und die Ergebnisse nur für die in den Studien verwendeten Bakterienstämme, Dosierung und Einnahmedauer gelten. In der Konsequenz empfehlen die Autoren des LeitlinienUpdates derzeit, Behandlungsversuche mit einem Probiotikum zunächst probatorisch zu konzipieren (mindestens vier Wochen sind sinnvoll) und bei überzeugender Beschwerdelinderung nach diesem Zeitraum fortzuführen oder ggf. zu wechseln. Im Folgenden wird eine Übersicht über die Studienlage der relevantesten Stämme aus der Leitlinie gegeben. Anzumerken ist, dass aufgrund der Heterogenität von Einschlusskriterien und Endpunkten in dieser Tabelle keine Bewertung der klinischen Relevanz der Ergebnisse vorgenommen wurde.
Detaillierte Studienlage der Bakterienstämme
Der Vollständigkeit halber wird die umfängliche Studienlage der erwähnten Bakterienstämme beschrieben und damit auch auf aktuellere oder schwächere Studien hingewiesen (alphabetisch sortiert):
Bifidobacterium animalis DN173010
Bei Betroffenen vom Obstipationstyp (RDS-O) zeigte im Vergleich zur Placebogruppe der Trinkjoghurt lediglich in der Subgruppe mit weniger als drei Mal Stuhlgang pro Woche nach sechs Wochen eine signifikant erhöhte Stuhlfrequenz, jedoch keine Verbesserung der Lebensqualität. Bei 32 Frauen mit RDS-O stellte man nach vierwöchigem Verzehr eine beschleunigte Transitzeit und reduzierte Abdominalschmerzen fest. Keine signifikante Wirkung zeigte sich bei den Symptomen Blähbauch, Blähungen, Stuhlkonsistenz, -frequenz und dem Gefühl unvollständiger Entleerung. Eine aktuellere Studie aus dem Jahr 2013 über vier Wochen mit 76 Reizdarmpatienten (RDS-O und RDS-M) zeigte keine signifikanten Unterschiede zwischen der Interventions- und Placebogruppe.
Bifidobacterium bifidum MIMBb75
Die vierwöchige Studie zeigte bei Reizdarmpatienten auf einer 7-Punkte-Skala eine signifikante Reduktion des Allgemeinbefindens um −0,88 Punkte. Verbesserte sekundäre Endpunkte umfassten die Symptome „Schmerz/Unwohlsein“ (−0,82 Punkte), „Aufblähung/Völlegefühl“ (−0,92 Punkte), „Dringlichkeit“ (−0,67 Punkte) sowie die Verbesserung der Lebensqualität (von 45,53 auf 51,11 Punkte). Für die Häufigkeit des Stuhlganges und für das Gefühl unvollständiger Darmentleerung konnten keine Effekte festgestellt werden.
Bifidobacterium bifidum HI-MIMBb75
Nach achtwöchiger Einnahme wurde eine geringfügige bis wesentliche Verbesserung der Gesamtsymptomatik bei 60 % der Patienten festgestellt. Auf einer 10-Punkte-Skala konnte beim sekundären Endpunkt „Abdominalschmerzen“ im Vergleich zu Placebo ein leichter, aber rechnerisch signifikanter Unterschied erfasst werden (−1,29 Punkte vs. −0,93 Punkte). Ähnliches wurde auf einer 7-Punkte-Skala für Symptome wie „Blähungen“ (Verum −0,69; Placebo −0,5 Punkte) und dem „Gefühl dringlicher Entleerung“ (Verum −0,69; Placebo −0,52 Punkte) festgestellt.
Bifidobacterium infantis 35624
Eine erste Studie zeigte, dass der Verzehr eines Malzgetränkes mit 1 x 1010 KbE über acht Wochen die Werte für Bauchschmerzen, Blähbauch und dem Gefühl der dringlichen/unvollständigen Entleerung signifikant verringerte. Stuhlfrequenz und -konsistenz wurden hingegen nicht beeinflusst. In einer vierwöchigen Studie aus dem Jahr 2006 wurden drei Tagesdosierungen getestet. Lediglich die Dosierung mit 1 x 108 KbE zeigte Verbesserungen gegenüber dem Ausgangswert bei Abdominalschmerzen, Allgemeinbefinden, Blähbauch, dem Gefühl unvollständiger Entleerung und der subjektiven Stuhlgangzufriedenheit. Das Gefühl dringlicher Entleerung wurde nicht signifikant verbessert. Zwei Studien aus den Jahren 2013 und 2017 zeigen für die Tagesdosis von 1 x 109 KbE ebenfalls keinen Effekt.
Escherichia coli DSM 17252
Eine im Jahr 1988 durchgeführte Studie schloss Patienten ein, die nach unbekannten Kriterien die Diagnose Reizdarmsyndrom erhalten hatten. Die Anzahl der Responder (definiert als beschwerdefreie Patienten) war in der Gruppe, die über acht Wochen das Bakterienlysat einnahm, signifikant höher als in der Placebogruppe. Zwar wurde auch in der Placebogruppe ein Ansprechen festgestellt, dieses stagnierte jedoch nach 42 Behandlungstagen. Abdominalschmerzen, Stuhlkonsistenz und -frequenz sowie Blähbauch verbesserten sich signifikant. Neuere Studien nach aktuelleren Kriterien stehen allerdings noch aus.
Lactobacillus casei Shirota
Eine erste Studie untersuchte die Kolontransitzeit bei Frauen mit chronischer Obstipation. Der vierwöchige Verzehr des Trinkjoghurts führte zu einer signifikanten Abnahme der Kolontransitzeit. Eine weitere Studie zeigte über acht Wochen eine signifikante Verbesserung der Werte für Unwohlsein, Blähungen und des Beschwerdegesamt-Scores.
Lactobacillus plantarum 299v (LP299V, DSM 9843)
In einer Studie verringerte die Einnahme signifikant die Blähungen der Reizdarmpatienten. Die Abnahme der Abdominalschmerzen war in der Behandlungsgruppe schneller und ausgeprägter. Im Vergleich zu Placebo war die gastrointestinale Gesamtfunktion auch zwölf Monate nach Behandlungsende noch besser. In einer weiteren Studie wurde in der Interventionsgruppe ein signifikant größerer Anteil an Patienten mit verbesserter Gesamtsymptomatik und signifikanter Schmerzlinderung festgestellt. Eine kleinere RCT-Studie untersuchte bei Patienten u. a. die Gasproduktion nach vierwöchiger Einnahme. Nach einem Lactulose-Provokationstest reduzierte sich der H2-Gehalt in der Atemluft in der LP299V-Gruppe signifikant. Dies deutet auf eine Modulation des Mikrobioms und damit des intestinalen Stoffwechsels durch LP299V hin. Eine Studie aus dem Jahr 2012 mit 214 Reizdarmpatienten zeigte, dass die Einnahme von 1 x 1010 KbE sowohl den Schweregrad als auch die Häufigkeit der typischen Reizdarmsymptome wie Schmerzepisoden, Blähungen, dem Gefühl unvollständiger Entleerung und Stuhlgangveränderungen signifikant verringerte. Eine signifikante Anzahl an Patienten (78 % LP299V; 8 % Placebo) gab eine ausgezeichnete oder gute Wirkung des Präparates an. Demgegenüber steht eine Studie mit 81 Patienten, die über acht Wochen keine signifikanten Unterschiede und einen hohen Placeboeffekt aufwies. Die Autoren vermuteten, dass die hohe Drop-out-Rate und die dadurch nicht ausbalancierte Gruppengrößen (27 vs. 54) mögliche signifikante Effekte verschleierten.
Effekte von Probiotika unter Praxisbedingungen
Viele Faktoren, die in der Praxisroutine eine Rolle spielen, wie Begleiterkrankungen, gleichzeitige Einnahme weiterer Arzneimittel, Selbstmedikation oder Adhärenz, können in streng regulierten klinischen Studien häufig nicht berücksichtigt werden. Daher sind Studien unter Alltagsbedingungen als Ergänzung zu RCT sehr wünschenswert. Zuletzt wurde in einer multizentrischen, nicht interventionellen Studie z. B. die Verträglichkeit und Wirksamkeit des Bakterienstammes Lactobacillus plantarum 299v unter Praxisbedingungen in Deutschland untersucht. Zusätzlich wurde analysiert, inwieweit die Behandlungsdauer Einfluss auf die Wirksamkeit hat. Die Behandlung mit der RCT-konformen Tagesdosis von 1 x 1010 KbE erfolgte durch niedergelassene Ärzte (Gastroenterologie und Allgemeinmedizin) über einen Zeitraum von mindestens vier bis maximal zwölf Wochen. Die gewonnenen Daten über den Therapieerfolg von 243 Reizdarmpatienten basieren auf der Auswertung von validierten Reizdarmfragebögen sowie ärztlicher Evaluierung. Über den Studienverlauf kam es zu einer kontinuierlichen, signifikanten Reduktion des Schweregrades und der Häufigkeit von typischen Reizdarmbeschwerden (Abdominalschmerzen, Blähungen, Diarrhö) in der Gesamtkohorte und des Obstipationsschweregrades in der RDS-O-Subgruppe. Parallel verbesserte sich nach zwölf Wochen das psychische Wohlbefinden der Patienten signifikant um durchschnittlich 110 %. Der Anteil der Patienten mit adäquater Verbesserung der Gesamtbeschwerden stieg von 52 % in Woche 4 auf 83 % in Woche 12. Dieses kontinuierlich wachsende Therapieansprechen wurde durch die ärztliche Einschätzung bestätigt, wonach sich die Gesamtsymptomatik signifikant von „mäßig“ (Woche 4) auf „deutlich“ (Woche 12) verbesserte. Alle Reizarmtypen (RDS-D, RDS-O, RDS-M) profitierten dabei in gleichem Maße. Mit zunehmender Einnahmedauer des Probiotikums mit L. plantarum 299v verstärkte sich der Therapieerfolg also nachweislich und signifikant.
Fazit
- Nach derzeitigem Verständnis liegt dem Reizdarmsyndrom eine Störung der Darm-Hirn-Achse zugrunde.
- Eine gründliche Anamnese sowie empathische und aufklärende Kommunikation sind zentrale Maßnahmen, um eine schnelle Diagnosesicherung zu ermöglichen und eine Wiederholungsdiagnostik zu vermeiden.
- Es gibt keine einheitliche Standardtherapie. Ein multimodales Therapiekonzept sollte individuell auf Basis der Leitsymptome (RDS-O, RDS-M, RDS-D) durchgeführt werden und mit Maßnahmen aus symptomorientierter Medikation, Mikrobiommodulation, Ernährung und Psyche kombiniert werden.
- Psychoedukative Elemente und Bewältigungsstrategien sollten angeboten werden (u. a. Yoga, bauchgerichtete Hypnose). Falls indiziert oder auf Wunsch der Patienten auch psychotherapeutische Verfahren.
- Eine einheitliche Ernährungsempfehlung steht nicht zur Verfügung, wohl aber einige Optionen, die sich an den jeweiligen Symptomen und an individuellen Unverträglichkeiten orientieren.
- Ausgewählte Probiotika sollten in der Therapie des Reizdarmsyndroms eingesetzt werden.
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