Mukopolysaccharidosen im Überblick – Teil 2

Die Mukopolysaccharidose Typ I (MPS I) ist eine progrediente Multisystemerkrankung mit vielfältigen Symptomen variabler Ausprägung. Aufgrund der multisystemischen Beteiligung und Progredienz der Erkrankung ist die Behandlung von Patienten mit MPS I komplex und erfordert die Zusammenarbeit in einem multidisziplinären Team.

Die einzelnen Manifestationen der MPS I können wichtige diagnostische Hinweise liefern und müssen frühzeitig einer adäquaten Behandlung zugeführt werden. Zu den wichtigsten Organmanifestationen der MPS I zählen Gesichtsdysmorphie, disproportionierter Minderwuchs, Gelenkkontrakturen und Gelenksteifigkeit, Visus- und Hörverlust, Karpaltunnelsyndrom sowie Herzklappenvitien und andere Herzerkrankungen.

Zur initialen diagnostischen Einordnung bieten heutzutage viele Labore Urintests zur ersten Orientierung an oder eine einfache Trockenbluttestung an, mit der mehrere Formen der MPS simultan getestet werden können. Patienten mit MPS I benötigen häufig im Krankheitsverlauf operative Eingriffe. Die Anästhesie kann jedoch unter anderem aufgrund der beeinträchtigten Atemwege mit einem erhöhten Komplikationsrisiko verbunden sein. Eine engmaschige multiprofessionelle Begleitung der Betroffenen und ihrer Familien ist essentiell.

Zum Teil 1 der Fortbildung.


Kursinfo
VNR-Nummer 2760709123078170017
Zeitraum 28.08.2023 - 27.08.2024
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte 4 Punkte (Kategorie D)
Zielgruppe Ärzte
Referent Dr. med. Christina Lampe
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Fachartikel
Lernmaterial Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner Sanofi-Aventis Deutschland GmbH
Bewertung 4.4 (393)

Einleitung

Die Mukopolysaccharidose Typ I (MPS I) ist eine progredient verlaufende Multisystemerkrankung mit vielfältigen Symptomen variabler Ausprägung. Betroffene werden traditionell entweder der schweren Form Morbus Hurler oder den beiden attenuierten Varianten Morbus Hurler-Scheie oder Morbus Scheie zugeordnet. Die klinischen Zustandsbilder überschneiden sich jedoch erheblich, und ein in der klinischen Praxis anwendbares biochemisches Unterscheidungskriterium ist bislang nicht verfügbar. MPS I wird durch Nachweis einer mangelhaften Aktivität des lysosomalen Enzyms α-L-Iduronidase (IDUA) und durch die molekulargenetische Identifikation biallelisch pathogener Varianten im IDUA-Gen diagnostiziert. Aufgrund der unspezifischen und variablen Symptome wird die Diagnose MPS I häufig mit Verzögerung gestellt. In dieser Zeit schreitet die Erkrankung voran, irreversible Organschädigungen können eine Folge sein. Besonders kritisch ist die frühe Diagnose der schweren Verlaufsform Morbus Hurler, da eine Stammzelltransplantation in den ersten beiden Lebensjahren zum Erhalt der geistigen Fähigkeiten beitragen kann. Die Erkrankungsgruppe der Mukopolysaccharidosen wurde unter besonderer Berücksichtigung von MPS I ausführlich im ersten Teil dieses Kurses vorgestellt. In dem hier vorliegenden zweiten Kursteil wird das Therapiemanagement der wichtigsten Organmanifestationen der MPS I vorgestellt.

Gesichtsdysmorphie bei MPS I

Bei MPS I gilt die Gesichtsdysmorphie als ein typisches und meist frühes Symptom der Erkrankung. Ursache der Gesichtsdysmorphie ist die orofaziale Akkumulation von Glykosaminoglykanen (GAG). Zu den typischen Gesichtsveränderungen bei MPS I zählen:
  • Verdickte Nasenflügel
  • Tiefliegender Nasenrücken
  • Hypertelorismus
  • Verdickte Lippen
  • Makroglossie
  • Verdickte Ohrläppchen
  • Hohe Stirn
  • Grobes und struppiges Haar
  • Buschige Augenbrauen
  • Kurzer Hals
  • Makrozephalus
Die Ausprägung der Gesichtsdysmorphie bei MPS I ist abhängig vom Schweregrad des Krankheitsverlaufes. So zeigen Patienten mit Morbus Hurler eine ausgeprägtere Veränderung der Gesichtszüge als Patienten mit attenuierten Verlaufsformen. Der Übergang kann allerdings fließend sein. Bei 86 % der Morbus Hurler-Patienten treten Vergröberungen der Gesichtszüge bereits in den ersten zwölf Lebensmonaten auf. Auch beim Morbus Hurler-Scheie zeigen >70 % der Betroffenen in einem medianen Alter von 3,4 Jahren Veränderungen der Gesichtszüge. Bei Patienten mit Morbus Scheie treten die Veränderungen nur bei knapp der Hälfte der Patienten auf, treten meist erst relativ spät im Krankheitsverlauf zutage (medianes Alter von 8,7 Jahren) und können bei sehr milden Verläufen fehlen oder sehr diskret ausgeprägt sein. Daher ist das Fehlen einer offensichtlichen Gesichtsdysmorphie keinesfalls ein Ausschlusskriterium für MPS I. Liegen neben der Gesichtsdysmorphie weitere Auffälligkeiten vor, wie z. B. eine Hornhauttrübung, Gelenkkontrakturen oder ein vermindertes Größenwachstum, sollte eine Untersuchung auf MPS I mittels Urin- oder Trockenbluttest oder eine direkte Überweisung in ein spezialisiertes Zentrum erfolgen.

Kleinwuchs und Wachstumsverzögerung bei MPS I

Die Akkumulation von GAG im Knochengewebe führt zu einer Ossifikationsstörung und damit zu einem beeinträchtigten Knochenwachstum. Viele Patienten mit MPS I zeigen ein vermindertes Größenwachstum, das unabhängig vom sonstigen Schweregrad der Erkrankung auftreten kann. Differenzialdiagnostisch sind zahlreiche andere Ursachen für Kleinwuchs oder Wachstumsverzögerungen zu berücksichtigen. In Verbindung mit anderen für die MPS I typischen Symptomen, wie z. B. Gelenkkontrakturen, Karpaltunnelsyndrom und Hornhauttrübung, muss das Vorliegen von MPS I in Betracht gezogen werden. Eine Störung des Größenwachstums lässt sich an Wachstumskurven erkennen, die bei den obligatorischen Früherkennungsuntersuchungen (U1 bis U9 sowie J1) routinemäßig erfasst werden. Eine verringerte Körpergröße sollte insbesondere dann den Verdacht auf MPS I lenken, wenn die Körpergröße im Verlauf um mehr als einen Standard-Deviation- Score-(SDS-)Wert verringert ist oder der SDS mehr als zwei Standardabweichungen unter dem Ziel-SDS (elterliche Größe) liegt oder die Größe unterhalb von -2 SDS liegt. Eine weitere Abklärung sollte bei Vorliegen dieser Auffälligkeiten möglichst zeitnah angestrebt werden. Neugeborene mit MPS I unterscheiden sich zunächst nicht von gesunden Kindern. Patienten mit Morbus Hurler sind sogar häufig etwas überdurchschnittlich groß, und das Wachstum ist anfangs eher schnell. Im zweiten Lebensjahr verlangsamt sich das Wachstum jedoch zusehends, ab einem Alter von etwa drei bis vier Jahren verlassen die Patienten dann typischerweise den Normbereich der Wachstumskurve. Ab dem sechsten Lebensjahr stagniert das Wachstum. Auch bei den attenuierten Verlaufsformen der MPS I kann sich die Wachstumsgeschwindigkeit bereits in den ersten zwei bis drei Lebensjahren verlangsamen. Ab dem neunten Lebensjahr kann je nach Verlauf der Erkrankung die Körpergröße unter die dritte Perzentile der Normwachstumskurve fallen; der pubertäre Wachstumsschub setzt verzögert ein, ist verringert oder bleibt vollständig aus.

Gelenkkontrakturen und Gelenksteifigkeit bei MPS I

Glykosaminoglykanen (GAG) kommen vor allem im Knochen-, Knorpel- und Bindegewebe vor, daher führt ihre Akkumulation v. a. zu Bewegungseinschränkungen in Gelenken. Hiervon können alle Gelenke betroffen sein. Zusammen mit Nabel- und Leistenhernien gehören Gelenkbeschwerden häufig zu den ersten Symptomen einer attenuierten MPS I-Form. Daher sind Gelenkbeschwerden oftmals ausschlaggebend für die erstmalige ärztliche Konsultation. Gelenkveränderungen tragen im Krankheitsverlauf besonders zum Lebensqualitätsverlust von Patienten mit MPS I bei. Patienten mit Morbus Hurler entwickeln eine Gelenksymptomatik im medianen Alter von etwa 1,6 Jahren. Bei diesen Patienten gehen andere Beschwerden, wie z. B. Hernien und rezidivierende Atemwegsinfekte, den Gelenkproblemen in aller Regel zeitlich voraus. Bei den attenuierten Verlaufsformen treten Gelenkbeschwerden in einem medianen Alter von etwa vier Jahren auf. Eine Gelenkbeteiligung bei MPS I manifestiert sich häufig zuerst an den Schulter- und Fingerendgelenken. Ellbogen-, Knie- und Hüftgelenke können ebenfalls betroffen sein. Die Patienten zeigen bei Schulterbeteiligung eine zunehmend eingeschränkte Mobilität des Schultergelenkes und können z. B. die Arme nicht vollständig über den Kopf strecken (Hands-Up-Praxistest; siehe erster Teil der Fortbildung). Sind die Fingerendgelenke betroffen, sind das Greifen und die Feinmotorik zunehmend erschwert. Bei Fingergelenkbeteiligung fällt der Verdacht häufig zunächst auf rheumatische Erkrankungen. Gerade bei den attenuierten Verlaufsformen kann es aufgrund der ähnlichen Symptomatik zu einer Verwechslung mit der juvenilen idiopathischen Arthritis (JIA) oder der rheumatoiden Arthritis (RA) kommen. Die JIA- und RA-bedingten Gelenkkontrakturen können allerdings meist anhand mehrerer Parameter differenzialdiagnostisch von einer Gelenkbeteiligung bei MPS I abgegrenzt werden: Eine JIA- oder RA-bedingte Gelenkerkrankung geht mit typischen Entzündungszeichen sowie Morgensteifigkeit einher. Weiterhin sind bei JIA und RA hauptsächlich die proximalen Fingergelenke und das Fingergrundgelenk betroffen. Bei einer MPS I hingegen fehlen die typischen Entzündungszeichen; es sind vorwiegend die distalen Fingergelenke betroffen, und die Hand deformiert sich zu einer sogenannten „Krallen- oder Klauenhand” (siehe auch erster Teil der Fortbildung). Die Schwellung der Gelenke beruht bei MPS I nicht auf entzündlichen Synovialergüssen, sondern auf einer ossären Gelenkdeformität. Ein weiterer Hinweis auf MPS I kann ein fehlendes bzw. ungenügendes Ansprechen der Gelenkbeschwerden auf nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) oder andere entzündungshemmende Medikamente sein. Der ursprünglich von Cimaz und Kollegen eingeführte und hier in modifizierter Form wiedergegebene Diagnosealgorithmus beschreibt das Vorgehen zur Diagnose von MPS I bei Vorliegen von Gelenkbeschwerden. Patienten mit MPS I weisen häufig eine okuläre Beteiligung auf. Generell leiden Patienten mit einer schweren Verlaufsform (Morbus Hurler) häufiger unter einer ausgeprägten Hornhauttrübung, unter Netzhautdegeneration, Glaukom- Entwicklung sowie an einer Schwellung und Atrophie des Sehnervs. Diese Störungen können letztlich zur Erblindung führen. Treten okuläre Symptome wie Lichtempfindlichkeit oder Hornhauttrübung mit zusätzlichen Symptomen wie Gelenkkontrakturen und Skelettveränderungen auf, sollten diese den Verdacht auf MPS I lenken. Zur Diagnosestellung hilft die Bestimmung der GAG im Urin oder die Enzymaktivitätsmessung z. B. mittels eines Trockenbluttests. Bei positivem Testergebnis ist eine Überweisung an ein spezialisiertes Zentrum zur weiteren Diagnostik und Therapie sinnvoll.

Hornhauttrübung

Im Hornhautstroma befinden sich bei Gesunden parallel angeordnete Fasern aus Kollagen, GAG und Proteoglykanen. Die Anordnung dieser Strukturen ist essenziell für die Transparenz der Hornhaut (Cornea). Bei MPS I wird diese Anordnung durch die unkontrollierte Anreicherung von GAG in der Hornhaut gestört. Etwa 70 % der Patienten mit MPS I sind im Verlauf von einer Hornhauttrübung betroffen. Diese kann sich initial in Lichtempfindlichkeit äußern und im späteren Verlauf zu einer milchigen Trübung der Hornhaut führen. Folge kann ein Visusverlust bis hin zur vollständigen Erblindung sein. Die Hornhauttrübung lässt sich im frühen Stadium noch nicht mit bloßem Auge erkennen. Eine Spaltlampenuntersuchung kann jedoch frühe Hornhautveränderungen erkennbar machen. Die Hornhauttrübung manifestiert sich oftmals nicht isoliert. Es kann daneben zu weiteren okulären Komplikationen wie Schwellung und Atrophie des Sehnervs, Retinopathie und Glaukom kommen. Die Erstmanifestation der Hornhauttrübung kann sich je nach Verlaufsform unterscheiden. Bei Morbus Hurler sind erste Anzeichen einer Augenbeteiligung bereits im Kleinkindalter sichtbar, bei den attenuierten Verlaufsformen zeigen sich erste Symptome vor dem zehnten Lebensjahr, meist in Form einer erhöhten Lichtempfindlichkeit. Bei Patienten mit attenuierter Verlaufsform manifestiert sich die Hornhauttrübung später und ist meist etwas milder ausgeprägt. Sie kann aber ebenso mit einer Netzhautdegeneration, einem Glaukom und einer Beeinträchtigung des Sehnerven assoziiert sein, wobei sich die Netzhautdegeneration dann meist erst im Erwachsenenalter zeigt.

Schwellung des Sehnervs

Als Ursachen für die Schwellung des Sehnervs bei Patienten mit MPS I werden mehrere Faktoren beschrieben: erhöhter intrakranieller Druck und Akkumulation von GAG in der Sehnervenscheide. Anzeichen für eine Sehnervschwellung sind Verschlechterung des Sehvermögens und Gesichtsfeldausfälle. Die Untersuchung des Gesichtsfeldes und des Augenhintergrundes (Fundus) kann Hinweise auf eine Schwellung des Sehnervs liefern.

Rentinopathie

Bei MPS I lagern sich GAG in den retinalen Pigmentepithelzellen und in der Fotorezeptormatrix ab. In der Folge kommt es zu einem fortschreitenden Fotorezeptorverlust, zur Netzhautdegeneration und Dysfunktion der Netzhaut (Retina). Erste Anzeichen einer Retinopathie sind somit Lichtempfindlichkeit und Nachtblindheit, die im Krankheitsverlauf zu Gesichtsfeldausfällen führen können. Der Farbsehtest kann hierbei Hinweise auf eine Retinadegradation liefern.

Glaukom

Bei MPS I kann der Abfluss des Kammerwassers durch GAG-Ablagerungen im Trabekelwerk (Offenwinkelglaukom) oder durch GAG-Ablagerungen in Iris und Hornhaut (Engwinkelglaukom) beeinträchtigt sein. In der Folge erhöht sich der Augeninnendruck, was schließlich zur Schädigung des Sehnervs führen kann. Im Rahmen der Glaukomdiagnostik wird normalerweise der Augeninnendruck bestimmt. Bei MPS I ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Augeninnendruckmessung aufgrund der häufig begleitenden Hornhautverdickung (siehe oben) fehlerhaft ausfallen kann. Zur Feststellung eines Glaukoms kann bei MPS-I-Patienten jedoch die Gesichtsfelduntersuchung und die optische Kohärenztomografie genutzt werden.

Hörverlust bei MPS I

Ein Hörverlust ist bei schwerer MPS I besonders häufig zu beobachten. Die Gehöreinschränkung korreliert mit dem allgemeinen Schweregrad der Erkrankung. Der Hörverlust bei MPS I ist multifaktoriell bedingt. Er resultiert aus häufigen Otitiden, Dysfunktion der Eustachischen Röhre (die durch Speicherung von GAG im Oropharynx verursacht wird), Dysostosis der Gehörknöchelchen des Mittelohres, einer Vernarbung des Trommelfelles und einer Schädigung des achten Hirnnervs.

Karpaltunnelsyndrom bei MPS I

Das Karpaltunnelsyndrom zählt zu den typischen Manifestationen von MPS I. Ein Karpaltunnelsyndrom im Kindesalter ist in 58 % der Fälle auf MPS I zurückzuführen. Die Diagnose MPS I sollte daher bei Kindern mit Karpaltunnelsyndrom stets in Betracht gezogen werden. Ursache des Karpaltunnelsyndroms bei MPS I ist die Anreicherung von GAG im Gewebe des Retinaculum flexorum und der Sehnenscheide in Kombination mit einer veränderten Skelettanatomie. Zusammen führen diese Faktoren zu einer Kompression des Nervus medianus an der Handgelenkinnenseite. Die GAG-Ablagerung in der Sehnenscheide kann neben dem Karpaltunnelsyndrom auch zu einem sogenannten schnellenden Finger (Triggerfinger) führen. Typische Symptome des Karpaltunnelsyndroms bei Erwachsenen, wie Taubheit, Kribbeln und nächtliche Schmerzen, fehlen häufig bei Kindern und Jugendlichen. Es ist daher wichtig, auch subtile Zeichen des Karpaltunnelsyndroms zu erkennen. Dazu gehören manuelle Ungeschicklichkeit, Nagen an den Händen, Schwierigkeiten bei feinmotorischen Aufgaben, Veränderungen des Spielverhaltens und Thenaratrophie. Der schleichende Beginn und die anfangs geringe Spezifität der Symptome führen häufig zu Fehldiagnosen. Dies betrifft insbesondere Patienten mit attenuierten Formen von MPS I, die mit einer geringen Symptomatik einhergehen können. Patienten mit Morbus Hurler weisen im Vergleich zu den attenuierten Formen seltener ein Karpaltunnelsyndrom auf. Bei Patienten mit Morbus Hurler-Scheie treten die ersten Symptome eines Karpaltunnelsyndroms bereits im medianen Alter von 7,4 Jahren auf und betreffen mehr als ein Viertel der Patienten. Die ersten Symptome manifestieren sich bei der Hälfte der Morbus Scheie-Patienten im medianen Alter von 12,5 Jahren.

Kardiale Beteiligung bei MPS I

Eine kardiale Beteiligung ist bei allen Individuen mit schwerer MPS I zu beobachten. Eine Herzbeteiligung kann anhand von Echokardiografie meist vor dem Auftreten klinischer Symptome detektiert werden. Kardiorespiratorisches Versagen zählt zu den häufigsten Todesursachen bei Patienten mit MPS I. Klappenvitien (Stenose, Regurgitation und seltener Prolaps) treten bei bis zu 88 % aller Patienten mit MPS I im Verlauf der Erkrankung auf und sind meist progredient. Ursächlich ist eine Verdickung der Klappenvitien durch interstitielle Kollageneinlagerung. Bei Klappenvitien in Kombination mit weiteren Symptomen der MPS I sollte eine Diagnostik auf MPS erfolgen. Bei Patienten mit Morbus Hurler treten erste Anzeichen einer Herzbeteiligung bereits früh im Krankheitsverlauf auf (medianes Alter bei Erstmanifestation 1,3 Jahre) und werden oft von weiteren kardialen Symptomen, wie Arrhythmien, Kardiomyopathie, Herzinsuffizienz, sowie pulmonaler und systemischer Hypertension, begleitet. Klappenvitien treten auch bei Patienten mit attenuierten Formen der MPS I häufig auf. Etwa 59 % der Patienten mit Morbus Hurler-Scheie weisen im medianen Alter von 5,7 Jahren eine Veränderung der Herzklappen auf, bei Patienten mit Morbus Scheie sind es 70,1 % im medianen Alter von 11,7 Jahren. Diagnostisch können Herzgeräusche einen ersten Hinweis auf Herzklappenbeteiligung liefern, wobei bei MPS I am häufigsten die Mitral- und Aortenklappen betroffen sind. Trikuspidal- und Pulmonalklappen sind weitaus seltener und dann meist in geringerem Ausmaß betroffen. Die Echokardiografie zeigt anfangs meist eine leichte Verdickung der Herzklappen, die jedoch mit der Zeit fortschreitet. Im weiteren Verlauf führen eine Kalzifikation und Versteifung zu einer Herzklappenstenose bzw. Insuffizienz. Ein Klappenprolaps scheint ausschließlich die Mitralklappe zu betreffen. Bei Patienten mit Morbus Hurler stellt die Mitralklappen-Regurgitation das häufigste Klappenvitium dar. Es existieren zahlreiche Ursachen für Herzerkrankungen bei Kindern, was die Differenzialdiagnose erschweren kann. Behandelnde sollten das Vorliegen von MPS I in Erwägung ziehen, wenn zusätzlich zu den kardialen Beschwerden weitere typische MPS-I-Zeichen wie skelettale Veränderungen, Hernien oder rezidivierende Atemwegsinfekte hinzukommen. Unbehandelt können kardiale Komplikationen die Mortalität steigern. Durch die kontinuierliche lysosomale Ablagerung im Myokard können Kardiomyopathie und plötzlicher Herztod infolge einer Arrhythmie auftreten. Zudem weisen Patienten mit attenuierter MPS I ein erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankung auf.

Symptomatisches Therapiemanagement

Aufgrund der multisystemischen Beteiligung und Progredienz der Erkrankung ist die Behandlung von Patienten mit MPS I komplex und erfordert die Zusammenarbeit in einem multidisziplinären Team, das Experten aus den Bereichen Kinderheilkunde/Innere Medizin, Kardiologie, Orthopädie, Chirurgie, Neurochirurgie, Augenheilkunde, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (HNO), Humangenetik, Neuropsychologie, Physiotherapie, Ergotherapie, Heil- und Sonderpädagogik sowie Sozialarbeit einschließen sollte. Die hämatopoetische Stammzelltransplantation kann, wenn frühzeitig durchgeführt, die kognitive Entwicklung günstig beeinflussen, das Wachstum fördern, die Gesichtsdysmorphie abmildern, die Hepatosplenomegalie reduzieren. Das Gehör, die Prognose der Herz- und Atemwegserkrankungen und das Gesamtüberleben können verbessert werden. Für nicht neurologisiche Krankheitsmanifestationen gibt es die Option einer Enzymersatztherapie. Die systemische Therapie der MPS I wurde im ersten Teil dieses Kurses vorgestellt. Im Folgenden wird die symptomatische Therapie ausgewählter MPS-I-Manifestationen vorgestellt.

Behandlung des Skelettsystems

Die Physiotherapie stellt einen wichtigen Bestandteil der Behandlung dar. Sie kann erheblich zum Erhalt der Gelenkfunktion beitragen und sollte daher möglichst früh begonnen werden. Eine einmal verlorene Gelenkfunktion kann durch Physiotherapie allein jedoch selten wiederhergestellt werden. In Kombination mit der hämatopoetischen Stammzelltransplantation oder einer Enzymersatztherapie kann aber ein höherer Bewegungsumfang erreicht werden. Bei fortgeschrittener Gelenkdestruktion stehen orthopädische Eingriffe zur Verfügung, die insbesondere bei Patienten mit attenuierten Verlaufsformen erfolgsversprechend sind. Dazu gehören u. a. Gelenkersatz und Stabilisierung bei atlantookzipitaler Instabilität. Gelenkoperationen zur Korrektur der Kontrakturen haben sich als nicht zielführend erwiesen.

Behandlung des Karpaltunnelsyndroms

Die Behandlung des Karpaltunnelsyndroms zeigt insbesondere bei Patienten mit attenuierten Verläufen sowie bei Patienten mit Morbus Hurler, die bereits eine hämatopoetische Stammzelltransplantation erhalten haben, nachhaltige Ergebnisse. Typische Symptome des Karpaltunnelsyndroms, wie Schmerzen, Kribbeln oder Taubheitsgefühl, fehlen meist initial und machen sich erst bei fortgeschrittener Kompression bemerkbar. In diesem Stadium kann die Prognose durch einen Eingriff oftmals nicht mehr wesentlich verbessert werden. Daher sollten routinemäßige Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit früh im Krankheitsverlauf erfolgen. Eine rechtzeitige chirurgische Dekompression des Nervus medianus kann zur Wiederherstellung der Handmotorik führen.

Perioperatives Management

Patienten mit MPS I weisen ein erhöhtes Anästhesierisiko auf mit erhöhter anästhesieassoziierter Mortalität. Wird eine Allgemeinanästhesie benötigt, sollten Patienten mit MPS I in einem Zentrum behandelt werden, das über entsprechende Erfahrungen verfügt. Die folgenden Aspekte sind bei MPS I im Rahmen der Anästhesie zu berücksichtigen:
  • Dysostosis multiplex kann zu einer Instabilität der Wirbelsäule führen, davon kann auch das Atlantoaxialgelenk betroffen sein. Sorgfältige Positionierung und Vermeidung einer Überstreckung des Halses sind erforderlich.
  • Das Freihalten der Atemwege ist häufig erschwert, die Trachea ist häufig verengt und die Stimmbänder verdickt. Daher kann die Intubation die Nutzung eines relativ kleinen Tubus erfordern.
  • Für die Intubation ist eine fiberoptische Laryngoskopie empfohlen.
  • Die Erholung von der Anästhesie kann verzögert stattfinden.
  • Eine postoperative Obstruktion der Atemwege kommt häufig vor.
  • Es sollte immer ein Intensivbett bereitstehen

Versorgung des Hydrozephalus

Eine Liquorzirkulationsstörung mit konsekutivem Hydrozephalus wird bei etwa 25 % der Patienten mit schwerer MPS I und bei ca. 5 % der Patienten mit attenuierten Varianten beobachtet. Ein erhöht gemessener Liquordruck und eine in der kranialen Bildgebung zu beobachtende fortschreitende Ventrikelerweiterung weisen auf die Notwendigkeit eines Shuntverfahrens hin. Bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer MPS I ist ein ventrikuloperitonealer Shunt meist nur palliativ wirksam; eine Verbesserung der Lebensqualität lässt sich durch das Shuntverfahren jedoch zumeist erreichen.

Ophthalmologisches Therapiemanagement

Das Tragen von Schirmmützen oder Augenschirmen kann helfen, die Blendung, welche aus der Hornhauttrübung resultiert, zu reduzieren. Eine Hornhauttransplantation kann bei Patienten mit attenuiertem Erkrankungsverlauf erfolgreich sein. Aufgrund der häufigen Mitbeteiligung von Netzhaut und Sehnerv kann auch unmittelbar nach erfolgreicher Transplantation weiterhin eine Einschränkung der Sehkraft vorliegen.

Therapie von Klappenvitien

Ein Herzklappenersatz sollte frühzeitig in Betracht gezogen werden. Eine bakterielle Endokarditisprophylaxe wird bei Personen mit kardialen Anomalien empfohlen

Behandlung des Hörverlustes

Durch Tonsillektomie und Adenoidektomie kann die Dysfunktion der Eustachischen Röhre und die Obstruktion der oberen Atemwege korrigiert werden. Bei schwer Betroffenen wird eine frühzeitige Platzierung von Ventilationstuben empfohlen. Eine Versorgung mit Hörgeräten kann angezeigt sein.

Sonstiges

Patienten mit MPS I sollten regelmäßig neurologisch untersucht werden, um rechtzeitig eine Rückenmarkkompression zu entdecken. Ein frühzeitiger chirurgischer Eingriff kann schwerwiegende Komplikationen verhindern. Eine obstruktive Schlafapnoe kann eine Tracheotomie oder eine CPAP-Therapie (engl. continuous positive airway pressure) erforderlich machen. Eine Tracheotomie ist im Krankheitsverlauf bei schweren Verlaufsformen häufig zur Aufrechterhaltung freier Atemwege erforderlich.

Follow-up und Surveillance

Eine engmaschige professionelle Begleitung der Betroffenen und ihrer Familien sind essenziell. Es sollte eine jährliche Beurteilung durch ein Ärzteteam mit entsprechender Expertise erfolgen. Zu den erforderlichen regelmäßigen fachärztlichen Kontrollen gehören
  • Orthopädische Untersuchungen,
  • Augenärztliche Kontrollen,
  • Kardiologische Abklärung (einschließlich Echokardiografie),
  • Pneumologie mit Beurteilung der Lungenfunktion und ggf. Schlaflabor bei Hinweisen auf eine obstruktive Schlafapnoe,
  • Audiologische und Hals-Nasen-Ohrenärztliche Untersuchungen
  • Untersuchung auf gastrointestinale Beschwerden und Hernien nach Bedarf,
  • frühe und kontinuierliche Überwachung des Kopfwachstums bei Säuglingen und Kindern mit Bildgebung nach Bedarf,
  • neurologische Untersuchung zur Überwachung auf etwaige Rückenmarkkompression mit regelmäßiger spinaler Bildgebung,
  • Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus medianus,
  • jährliche Beurteilung der geistigen Entwicklung,
  • Einschluss in Förderprogramme.

Fazit

  • Die Mukopolysaccharidose Typ I (MPS I) ist eine progredient verlaufende Multisystemerkrankung mit vielfältigen Symptomen variabler Ausprägung.
  • Eine engmaschige professionelle Begleitung der Betroffenen und ihrer Familien ist unverzichtbar.
  • Bei MPS I gilt die Gesichtsdysmorphie als ein typisches und meist frühes Symptom der Erkrankung
  • Gelenkveränderungen tragen im Krankheitsverlauf besonders zum Lebensqualitätsverlust von Patienten mit MPS I bei.
  • Okuläre Manifestationen, einschließlich Hornhauttrübung, Netzhautdegeneration, Glaukom sowie einer Schwellung und Atrophie des Sehnervs, kommen bei MPS I häufig vor und können zur Erblindung führen.
  • Patienten mit MPS I können bereits im Kindesalter ein Karpaltunnelsyndrom entwickeln; die klinischen Zeichen sind zunächst aber unspezifisch, daher sind routinemäßige Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus medianus angezeigt.
  • Die Mehrzahl der Patienten mit MPS I entwickelt Herzklappenvitien und andere kardiale Erkrankungen. Regelmäßige kardiologische Kontrollen mit Echokardiografie werden daher empfohlen.
  • Bei MPS I sind im Verlauf oftmals operative Eingriffe vonnöten; die Anästhesie ist jedoch aufgrund anatomischer Besonderheiten anspruchsvoll.

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