Die neue Praxisleitlinie Substitutionsbehandlung bei Opioidfehlgebrauch in der Schmerztherapie

Ein bis drei Prozent der Patienten mit einer Langzeitverordnung von Opioiden zur Schmerztherapie entwickeln einen „Fehlgebrauch“. Abhängigkeit und Suchtverhalten können die Folge sein. Die neue DGS-Praxisleitlinie „Substitutionsbehandlung bei Opioidfehlgebrauch in der Schmerztherapie“ widmet sich erstmalig diesem speziellen Problembereich.

Opioide haben per se ein Gewöhnungs- und Suchtpotenzial. Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen der physischen Abhängigkeit und Gewöhnung (Toleranz) und einer psychischen Abhängigkeit (Sucht). Die klinischen Zeichen einer Abhängigkeit und Sucht gehen mit einer Verhaltensänderung einher: Es steht nicht mehr die Schmerzlinderung bei der Einnahme des Opioids im Vordergrund, sondern das Erleben von Euphorie und das intensive, nicht zu unterdrückende Verlangen nach dem Opiat.

Bei Anzeichen von „Fehlgebrauch“ ist die Diagnose Prescription Opioid Misuse (POM) zu stellen. Steht die Diagnose POM und ist die Entscheidung zu einem Therapiewechsel gefallen, kann der Einsatz eines Substitutionsmittels erwogen werden. Zur Substitution stehen heutzutage mehrere Substanzen zur Auswahl, die ihrerseits als Opioide in der Schmerztherapie Verwendung finden, sich aufgrund ihrer langen Halbwertszeit und aus pharmakologischen Gründen aber auch für kontrollierte Substitutionsbehandlungen eignen.

SanRat Dr.med. Oliver M.D. Emrich
Die bisherigen Leitlinien haben die Problematik verschriebener Opioide weitgehend ausgeblendet.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709120066730018
Zeitraum 15.08.2020 - 14.08.2021
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent SanRat Dr.med. Oliver M.D. Emrich
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Animierter Vortrag (eTutorial)
Lernmaterial Vortrag (25:33 Min.), Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner INDIVIOR Deutschland GmbH
Bewertung 4.3 (538)

Einleitung

Ein Fehlgebrauch verschriebener Opioide ist international zu beobachten. Im August 2017 hat die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund der dortigen Entwicklungen die „opioid crisis“ ausgerufen und damit gewissermaßen einen nationalen Notstand für das Gesundheitssystem. Daten von 2014 beziffern etwa 50.000 Drogentote in den USA. Dort leben 325 Millionen Einwohner, das heißt etwa viermal so viele wie in der Bundesrepublik Deutschland. Hierzulande lag die Zahl der Drogentoten im Jahr 2014 bei unter 1000. Es ist in erster Linie also ein sehr akutes und spezifisches Problem der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser Trend setzte sich bis 2016 fort mit einem weiteren Anstieg auf mehr als 60.000 Drogentote in den USA [1]. Eine Analyse der Art der eingenommenen Drogen zeigt, dass jedes vierte Opfer direkt auf den Gebrauch (legal) verschriebener Opioide zurückzuführen ist (14.400 Tote), gefolgt von Kokain (10.600 Tote), Amphetaminen (7650 Tote) und Methadon (3280 Tote). Angeführt wird die Liste der tödlichen Drogen mittlerweile von Fentanyl und Analoga (20.100 Tote), die Heroin auf dem zweiten Platz verdrängt haben (15.400 Tote) [1]. In Europa ist Heroin nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegal beschaffte Opioid. Es spielen jedoch zunehmend auch andere Opioide eine Rolle. Der Europäische Drogenbericht zeigt auf, dass in 17 europäischen Ländern mehr als zehn Prozent aller Opioidklienten eine spezialisierte Drogentherapie antreten, primär aufgrund von Problemen mit anderen Substanzen als Heroin. Zu den bei Behandlungsbeginn genannten Opioiden zählten Methadon, Buprenorphin, Fentanyl, Codein, Morphin, Tramadol und Oxycodon [2]. Innerhalb Europas gibt es deutliche Unterschiede beim Fehlgebrauch von Opioiden. Zwar ist Heroin weiterhin die am häufigsten missbrauchte Droge, mit einem Anteil von mehr als 50 Prozent überwiegt jedoch in Estland Fentanyl und in Finnland Buprenorphin. In Polen und den neuen europäischen Ländern sind es andere Opioide [2].

Drogentote in Deutschland

Der aktuelle Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von 2017 beziffert die Zahl der Drogentoten im Jahr 2016 auf 1333. Dies entspricht einem Anstieg von neun Prozent gegenüber dem Vorjahr (1226). Bezogen auf die 12-Monats-Prävalenz des Opiatkonsums war seit dem Jahr 1995 keine statistisch bedeutsame Veränderung zu verzeichnen. In allen Fällen lagen die Prävalenzwerte um beziehungsweise unter 0,5 Prozent. Die Zahlen zur Aufnahme einer Behandlung aufgrund primärer Opioidprobleme sind rückläufig. Dieser Trend lässt sich sowohl für den stationären als auch den ambulanten Behandlungsbereich bestätigen. Allerdings nimmt sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich der Anteil der Cannabis-bezogenen Störungen zu. Cannabis ist auch nach wie vor der häufigste Grund dafür, dass Personen sich erstmalig in eine suchtspezifische Behandlung begeben [3].

Rationale für die neue Praxisleitlinie POM

Eine Leitlinie zum Problembereich „Opioidfehlgebrauch in der Schmerztherapie“ gibt es bislang nicht, obwohl jeder Arzt Patienten, die „aus dem Ruder laufen“, aus seiner eigenen Praxis kennt. Die hier vorgestellte neue Praxisleitlinie, die derzeit im Abstimmungsprozess ist, spiegelt den aktuellen Wissenstand zur Abhängigkeitsentwicklung bei Opioiden in der Schmerztherapie wider. Sie mündet in Handlungsempfehlungen (Aussagen), die einen adäquaten Umgang mit den Patienten und den Beschwerden, die dieser Problematik zugeschrieben werden, erwarten lassen. In bisherigen Leitlinien blieb die Abhängigkeitsproblematik bei Opioiden, die verordnet werden, weitgehend unberücksichtigt. Im Vordergrund stand vielmehr die Diagnostik und Therapie von Polytoxikomanien sowie die Substitutionsbehandlung bei primär Heroinabhängigen oder Opioidabhängigen von anderen Substanzen. Damit liefert die neue Praxisleitlinie erstmals wertvolle Hinweise und Orientierungsmöglichkeiten für den Umgang mit der Substitutionsbehandlung bei abhängig gewordenen Schmerzpatienten. Weitere empfehlenswerte Quellen sind die Leitlinie „Therapie der Opiatabhängigkeit“ der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) von 2014, die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger (2017) sowie der Leitfaden für Ärzte zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger der Bayerischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen (2016) [4]. In Deutschland entwickeln „etwa ein bis drei Prozent der Patienten im Rahmen einer Langzeitverordnung von Opioiden zur Schmerztherapie einen ‚Fehlgebrauch‘ des Opioids, verbunden mit psychischen Abhängigkeitssymptomen im Sinne eines Suchtverhaltens“ – so eine der Kernaussagen (Aussage 2) in der sich in Entwicklung befindlichen Praxisleitlinie. Zwar gibt es bislang keine belastbaren Daten, doch dürfte die Rate bei Patienten mit vorbestehenden Opioidproblemen oder anderen Abhängigkeitserkrankungen vergleichsweise höher sein [5].

Gewöhnung – Toleranz – Abhängigkeit

Opioide haben per se ein Gewöhnungs- und Suchtpotenzial. Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen der physischen Abhängigkeit und Gewöhnung (Toleranz) und einer psychischen Abhängigkeit (Sucht). Die psychische Abhängigkeit lässt sich bereits am Patientenverhalten erkennen, beispielsweise bei gesteigertem Verordnungswunsch oder sie ist aus dem Gebrauchsverhalten der Opioide abzuleiten. Es gibt aber auch Instrumente über die Anamnese und Exploration hinaus, wie der Prescription Opioid Misuse Index (POMI). Dieser Test umfasst sechs Fragen, die vom Patienten beantwortet werden. Mit dem Begriff der Toleranz wird primär ein physisches Phänomen bezeichnet. Der Patient benötigt dabei eine stetig höhere Opioiddosis, um denselben schmerzstillenden Effekt zu erhalten. Hintergrund ist eine pharmakodynamische Adaptation beziehungsweise eine Sensibilisierung der Opioidrezeptoren im gesamten Nervensystem aufgrund von neuroplastischen Veränderungen, zum Beispiel über die NMDA-Rezeptoren (NMDA = N-Methy-D-Aspartat) auf der Rückenmarksebene. Methadon ist das einzige Opioid, das über einen intrinsischen NMDA-Antagonismus verfügt, weshalb die Substanz bei der Substitutionsbehandlung im Fokus steht. Eine Sensibilisierung findet unter Methadon relativ selten statt [6, 7]. Der Hauptunterschied zwischen Toleranz und psychischer Abhängigkeit ist die Änderung des Einnahmezwecks (nicht mehr nur Linderung von Schmerzen) und dezidierte Verhaltensänderungen.

Rezeptor-Sensibilisierung

Opioidrezeptoren können unterschiedlich schnell adaptieren. In aller Regel erfolgt die Sensibilisierung (klinisches Phänomen der Toleranzentwicklung) dabei langsam und vollzieht sich im Verlauf von zehn bis 20 Jahren. Bei Patienten, die über viele Jahre Opioide einnehmen müssen, um ihre Lebensqualität zu erhalten, sind toleranzbedingte Dosisanpassungen relativ häufig. Schnelle Sensibilisierungen sind dagegen sehr selten. Ein Beispiel ist das klinische Phänomen der opioidinduzierten Hyperalgesie (OIH). Dabei werden sehr schnell sehr hohe therapeutische Dosen erreicht, ohne einen ausreichenden schmerzhemmenden Effekt zu erzielen. Unter der Hochdosistherapie können sogar noch stärkere Schmerzen oder anders geartete Schmerzen wie Hyperpathien entstehen [8]. Begünstigt wird eine Sensibilisierung durch schnelle und ausgeprägte Rezeptorschwankungen der Opioide an den Opioidrezeptoren. So führt ein sehr lipophiles und sehr schnell die Blut-Hirn-Schranken überwindendes Opioid wie Diamorphin (Heroin), bevorzugt intravenös oder nasal appliziert, zu hohen Anflutungen an den Rezeptoren und damit sehr schnell zur Abhängigkeit. Ähnlich ist es beim Fentanyl, wenn es nicht retardiert transmukosal verabreicht wird. Die Patienten werden sehr schnell, bereits innerhalb weniger Tage, abhängig. Wegweisend für unser heutiges Verständnis dieser Sensibilisierung durch Rezeptorschwankungen waren die Forschungen von Sandkühler (2015). In seiner Arbeit hat der Forscher Opioidrezeptoren schnell freisetzenden Substanzen ausgesetzt und so die Hyperalgesie, ein Phänomen der Upregulation der Opioidrezeptoren, nachvollzogen. Er konnte auch zeigen, dass dieses Phänomen bei retardierten Opioiden vergleichsweise selten auftritt [9]. Opioide binden an die Opioidrezeptoren µ (Oprm1), d (Oprd1), ? (Oprk1), und den non-opioid orphanin FQ/nociceptin (Oprl1) des Nervensystems und wirken dabei analgetisch im „Pain-Network“ und euphorisierend beziehungsweise belohnend im „Reward-Network“. Diese Regionen für Schmerz und Belohnung liegen anatomisch benachbart im Gehirn [10].

Abhängigkeit und Sucht

Die klinischen Zeichen einer Abhängigkeit und Sucht gehen mit einer Verhaltensänderung einher. Die Einnahme des Opioids erfolgt nicht mehr vorrangig zum Zweck der Schmerzlinderung, sondern zur Erreichung von Euphorie, zur Besserung einer Dysphorie oder aufgrund eines unstillbaren Verlangens. Anhaltspunkte für eine Substanzgebrauchsstörung (Substanzfehlgebrauch) sind entsprechend der in Planung befindlichen Praxisleitlinie im DSM-5 der American Psychiatric Association formuliert. Darin werden insgesamt elf mögliche Kriterien benannt. Diese müssen dezidiert erfragt werden, gegebenenfalls auch in der Fremdanamnese von Angehörigen oder Bezugspersonen. Bei Auftreten von zwei Merkmalen innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums gilt die Diagnose einer Substanzgebrauchsstörung (POM) als erfüllt. Die Schwere der Symptomatik wird spezifiziert beim Vorliegen von zwei bis drei Kriterien als moderat und beim Vorliegen von vier oder mehr Kriterien als schwer (Aussage 3 der geplanten Praxisleitlinie) [11]. Der Begriff Substanzabhängigkeit ist nicht mehr aktuell und wurde im neuen DSM-5 ersetzt durch Substanzfehlgebrauch beziehungsweise Opioidfehlgebrauch. Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatiken werden bei Opioidpatienten unter medizinischer Supervision nicht mehr primär als Anzeichen für Sucht gewertet, sondern nur dann, wenn sie im Zusammenhang mit typischen Verhaltensauffälligkeiten stehen. Hierzu gehört beispielsweise, dass sich Patienten Opioide von mehreren Ärzten verschreiben lassen, wobei diese nichts voneinander wissen. Weiterhin werden Dosissteigerungen und Einnahmeintervalle eigenmächtig durch den Patienten bestimmt und erfolgen nicht mehr auf ärztlichen Rat. Solche Patienten stellen sich typischerweise mit inadäquat häufigem Rezeptwunsch in der Praxis vor. In der Sprechstunde berichten sie mitunter von einer „Allergie“ oder Unverträglichkeit gegenüber vielen Arzneimitteln, nicht aber gegenüber Opioiden [11]. Bei Anzeichen von „Fehlgebrauch“ ist die Diagnose Prescription Opioid Misuse (POM) zu stellen. Hierfür stehen verschiedene Screening-Tools zur Verfügung, die den klinischen Verdacht stützen beziehungsweise ergänzen können, wie der Prescription Opioid Misuse Index (POMI). Dieser Index kommt mit hoher Sensitivität und Spezifität zum Einsatz: Die bestätigende Beantwortung nur einer einzigen der sechs Fragen weist in die Richtung eines wahrscheinlich vorliegenden POM. Der Vorteil des POMI liegt darin, dass ihn die Patienten selbst ausfüllen, der Behandler-Bias ist somit limitiert. Ein Screening bietet Hinweise, ersetzt die ärztliche Diagnose jedoch nicht. Unter den bisher bekannten Tools ist der POMI der kürzeste und bekannteste (Aussage 7). Der POMI kann zum Beispiel online, innerhalb der Dokumentationslösung „I Doc Life“ ausgefüllt werden [12]. POM-Patienten werden in der ICD 10 mit den Ziffern F11.1 und F11.2 kodiert, also als psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide, schädlichen Gebrauch beziehungsweise Abhängigkeitssyndrom. Zusätzlich muss, so der Hinweis in der neuen Praxisleitlinie Schmerz (z. B. F45.41 und/oder R52.x und/oder F62.80), klassifiziert werden, damit kenntlich ist, dass es sich um einen Schmerzpatienten handelt. Die Polytoxikomanie (Fehlgebrauch von mehr als einer bis vielen Substanzen) wird als F19.2 klassifiziert (Aussage 9).

Opioide: Schmerzbehandlung und Substitution

Ohne den gezielten Einsatz von Opioiden ist eine suffiziente Schmerztherapie häufig nicht möglich. Auch in der der Substitution (von Drogenabhängigen) sind sie essenziell wichtig. Die pharmakologische Vielfalt der gebräuchlichen Opioide weist sie für die jeweilige Indikation als geeignet aus. Die lange Halbwertszeit von Buprenorphin und der NMDA-Antagonismus von DL-Methadon und Levomethadon prädestinieren die beiden Substanzen für die Substitution und die Schmerztherapie gleichermaßen. Der Einsatz von Opioiden in der Schmerztherapie unterscheidet sich grundlegend von der Anwendung in der Substitution. Bei Schmerzpatienten beginnt das Behandlungs-Setting mit Opioiden eher spät und niedrig dosiert und anschließend auftitriert bis zu einem Therapieoptimum zwischen Schmerzlinderung und unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Schmerzpatienten erhalten in der Regel mittlere bis niedrige Opioiddosen. Bei der Substitution ist das Prozedere genau umgekehrt: Man beginnt mit hohen Dosen, um Craving zu verhindern, und dosiert schrittweise herab, im günstigsten Fall bis zur Drogenfreiheit unter begleitender Behandlung der psychosozialen Anpassungsstörung. Stabile Patienten (Schmerz und Sucht) treffen sich nicht selten auf vergleichbar hohem Therapieniveau in der Langzeittherapie. Die Vorgehensweise ist logistisch jeweils eine völlig andere.

Substitutionstherapie

Zur Substitution dürfen nur die in § 5 Absatz 6 in Verbindung mit § 2 BtMVV genannten Substitutionsmittel eingesetzt werden. „Aktuell stehen mehrere Substanzen zur Auswahl, die als Opioide selbst auch in der Schmerztherapie Verwendung finden, wegen ihrer langen Halbwertszeit und aus pharmakologischen Gründen sich aber besonders für die kontrollierte Substitutionsbehandlung eignen: DL-Methadon (1 : 1 Razemat aus rechts- und linksdrehender Form), respektive L-Polamidon (Levomethadon = nur linksdrehende Form), Buprenorphin, mit und ohne Naloxon-Zusatz, sowie retardiertes Morphin“, heißt es in der neuen Praxisleitlinie (Aussage 23). Die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger wurde im Jahr 2017 umfangreich aktualisiert. Die Verschreibung zum unmittelbaren Verbrauch über ein Substitutionsmittel ist mit dem Buchstaben „S“ zu kennzeichnen (ein bis fünf Tage). Für stabile Patienten wurde eine Take-Home-Regelung eingeführt. Diese ermöglicht die Verschreibung des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme für eine Dauer von bis zu 30 Tagen. Auf dem Rezept wird dies mit der Kennzeichnung „Z“ angegeben. Die erforderliche Qualifikation zur Substitutionsbehandlung ist entsprechend der neuen Praxisleitlinie die „suchtmedizinische Grundversorgung“ (Aussage 18). Wenn der behandelnde Schmerztherapeut (Teilnehmer an der Schmerztherapievereinbarung) nicht gleichzeitig über diese Zusatzqualifikation verfügt, kann er dennoch bis zu zehn Patienten gleichzeitig mit Substitutionsmitteln im Rahmen einer Konsiliarbehandlung versorgen (§ 5 Absatz 4 BtMVV). Hierzu muss sich der POM-Patient einmal pro Quartal beim suchtmedizinisch qualifizierten Arzt vorstellen. An den übrigen Terminen kann der Patient von seinem Schmerzmediziner ohne Zusatzqualifikation betreut werden.

Vergleich: Methadon – Buprenorphin

Buprenorphin ist ein partieller Agonist am µ-Rezeptor und ein Antagonist am ?-Rezeptor. Es handelt sich um eine gut verträgliche Substanz, auch in höheren Dosen. Sie zeigt einen sogenannten Ceiling-Effekt für die Atemdepression. Somit lässt sich die Dosis steigern, ohne dass es zu einer klinisch bedeutsamen Erhöhung des Risikos von Atemdepressionen kommt. Dysphorische Wirkungen sind nicht beschrieben. Die Obstipation ist unter Buprenorphin weniger ausgeprägt, und es gibt keine Beeinträchtigung von Libido und Potenz. Eine Verlängerung des QT-Intervalls im Oberflächen-EKG ist unter Buprenorphin in therapeutischen Dosierungen nicht klinisch relevant. DL-Methadon ist ein Vollantagonist am µ- und ?- Rezeptor. Eine dysphorische und sedierende Wirkung ist daher möglich. Die Einstellung auf DL-Methadon/L-Polamidon ist nicht einfach und dauert bis zum Erreichen eines „steady state“ mindestens drei Tage. Durch die lange Halbwertszeit von 15 bis 60 Stunden reicht eine einmalige tägliche Gabe zur Substitution aus (Aussage 47). Bei der Gabe von Methadon/Levomethadon kann es zu einer QT-Zeit-Verlängerung kommen, die bei schon vorbestehender lange QT-Zeit kritisch werden kann (Aussage 47 der geplanten Praxisleitlinie). Zudem ist die Gefahr von Atemdepressionen bei Überdosierung hoch (Tabelle 1) [13]. Tabelle 1: Vergleich Methadon–Buprenorphin nach [13]

Besonderheiten von Buprenorphin

Buprenorphin wird in mehreren Verteilungsräumen (Plasma, Muskel und Knochengewebe, Fettgewebe) des Körpers deponiert. Die extrem hohe Lipophilie bedingt eine kontinuierliche Freigabe aus dem Kompartiment des Fettgewebes an das zentrale Kompartiment (Plasma), sodass eine dosisabhängige Wirkdauer von bis zu 72 Stunden möglich ist. Aufgrund dieser Pharmakologie kann Buprenorphin in den Dosierungen der Suchtbehandlung auch alternierend jeden zweiten oder dritten Tag verabreicht werden, was am Wochenende oder vor Feiertagen vorteilhaft sein kann. Patienten, die ihre Buprenorphin-Einnahme vergessen, erleben kaum Entzugserscheinungen, auch nicht bei höheren Dosen. Aufgrund des vermehrten intravenösen (i.v.) oder intranasalen Missbrauchs und eines zunehmenden Schwarzmarkthandels wurde Buprenorphin mit dem Opiatantagonisten Naloxon in einem Verhältnis von 4 : 1 kombiniert. Naloxon hilft, Missbrauch vorzubeugen, denn bei sublingualer Einnahme wird Naloxon nur zu maximal zehn Prozent resorbiert. Ein pharmakologisch wirksamer Spiegel wird somit nicht erreicht. Bei einem i. v. Konsum oder Sniefen des Präparates wird hingegen eine ausreichende Menge Naloxon aufgenommen, was beim Konsumenten in der Regel Entzugssymptome auslöst. Durch diese Negativerfahrung soll der Patient davon abgehalten werden, den Missbrauch des Medikamentes zu wiederholen.

Praxis der Substitution

Steht die Diagnose POM und ist die Entscheidung über einen Therapiewechsel gefallen und mit dem Patienten vereinbart, dann ist zunächst eine schrittweise Dosisreduktion im Rahmen einer „strukturierten Opioidtherapie“ zu versuchen (Aussage 13). Wenn dieses Vorgehen scheitert und der Patient die Fehlgebrauchskriterien erfüllt, kann der Einsatz eines Substitutionsmittels erwogen werden (Aussage 14 der Praxisleitlinie). Die Substitutionstherapie erfordert ein anderes Vorgehen als in der Schmerztherapie und unterliegt den besonderen Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG). Zunächst muss eine Patientenaufklärung erfolgen und die Einwilligung zum Prozedere der substitutionsgestützten ambulanten Entwöhnungstherapie vorliegen. Weitere Anforderungen sind anfänglich eine tägliche Visite zur Medikamentenausgabe, regelmäßige Urin-, Alkohol- und Drogen-Screenings, eine psychosoziale Betreuung und die Dokumentation und Meldungen an verschiedene Institutionen wie die Bundesopiumstelle, die Drogenberatungsstelle, die Kassenärztliche Vereinigung sowie die Krankenkasse. Im Folgenden wird die Durchführung einer Substitutionsbehandlung entsprechend den Vorschlägen in der neuen Praxisleitlinie am Beispiel von Buprenorphin/Naloxon erläutert. Demnach muss die erste Gabe in der Praxis exakt geplant werden. Die Therapie sollte vorzugsweise montags beginnen, um unter der Woche Dosisanpassungen kurzfristig realisieren und Nebenwirkungen durch eine ständige Erreichbarkeit abfangen zu können (Aussage 32). Der Patient sollte sichtbar „entzügig“ (Schwitzen, Schmerzen etc.) morgens in die Praxis kommen und seine bisherige Opioidmedikation auch schon am Vorabend nicht mehr eingenommen haben. Wenn das vorher genommene Opioid DL-Methadon oder L-Polamidon war, sollte die Karenzzeit mindestens 24 Stunden betragen. Die empfohlene Buprenorphin-Initialdosis beträgt 2 bis 4 mg sublingual, je nach Ausgangsdosierung des vorgenommenen Opioids. Die Kinetik von Buprenorphin bedingt, dass die Wirkung stark verzögert einsetzt, beginnend nach etwa 30 Minuten, exponenziell steigend bis zum Wirkmaximum. Nach zwei Stunden kann beurteilt werden, ob die Wirkung ausreichend ist oder ob nochmals 2 bis 4 mg zugegeben werden müssen, jedoch nicht mehr am 8 mg am ersten Tag, um Entzugssymptome und Schmerz ausreichend zu kupieren. Dies bedeutet, dass der Patient am Tag der Ersteinstellung sehr lange in der Praxis ist. Die maximale tägliche Einzeldosis nach dem ersten Tag der Substitutionstherapie darf 24 mg nicht überschreiten. Zu Beginn der Therapie ist die exakte sublinguale Applikation und der klinische Befund des Patienten täglich persönlich durch den Arzt zu kontrollieren (Aussage 33 bis 36). Die Substitutionstherapie ist bei POM-Patienten zunächst auf zwölf bis 14 Wochen ausgelegt, kann aber, wie es bei der Substitution von Drogenabhängigen fast regelhaft zu beobachten ist, auch sehr lange darüber hinaus notwendig sein.

Zusammenfassung

Ein verantwortungsvoller Umgang mit Opioiden von Anfang an kann die Gefahr der psychischen Abhängigkeitsentwicklung reduzieren. Bei der Anamnese sollte regelhaft überprüft werden, ob frühere Abhängigkeitserkrankungen vorgelegen haben. Vor dem Hintergrund, dass schätzungsweise drei Prozent der Patienten mit einer Langzeitverordnung von Opioiden zur Schmerztherapie einen „ungünstigen“ Verlauf und „Abhängigkeit und Suchtverhalten“ entwickeln, könnte der Anteil allein hierdurch auf etwa ein Prozent reduziert werden. Zu beachten ist, dass ein Opioid trotzdem indiziert sein kann, um die Schmerzen ausreichend zu behandeln. Ist es zu einem Fehlgebrauch im Sinne von POM gekommen, ist eine Substitutionsbehandlung gegen eine anders geartete Entzugsbehandlung abzuwägen [14].

Literatur:

1. Inside a Killer Drug Epidemic: A Look at America’s Opioid Crisis. The New York Times 1.6.2017: https://www.nytimes.com/2017/01/06/us/opioid-crisis-epidemic.html 2. Europäische Drogenbericht http://www.emcdda.europa.eu/system/files/publications/4541/TDAT17001DEN.pdf_en 3. Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von 2017 https://www.drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateien-dba/Drogenbeauftragte/4_Presse/1_Pressemitteilungen/2017/2017_III_Quartal/Drogen-_und_Suchtbericht_2017_V2.pdf 4. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS e.V.): Therapie der Opiatabhängigkeit – Teil 1: Substitutionsbehandlung 5. S3-Leitlinie Schmerztherapie: Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS), 09/2014, Überarbeitung 01/2015 6. Morgan MM, MacDonald JC: Analysis of opioid efficacy, tolerance, addiction and dependence from cell culture to human. Br J Pharmacol 2011 Oct;164(4):1322–1334 7. Koppert W et al.: Different profiles of buprenorphine-induced analgesia and antihyperalgesia in a human pain model. Pain 2005;118(1–2):15-22. Epub 2005 Sep 9 8. Lee M et al. A comprehensive review of opioid-induced hyperalgesia. Pain Physician 2011;14(2):145–161 9. Sandkühler J: Translating synaptic plasticity into sensation. Brain 2015;138(Pt 9):2463–2464 10. Lieberman MD, Eisenberger NI: Pains and Pleasures of Social Life. 2009 VOL 323 SCIENCE S. 890 f 11. Falkai P, Wittchen HU (Hrsg.): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. 1. Aufl. Hogrefe, Göttingen 2014 12. Becker WC et al.: Instruments to assess patient-reported safety, efficacy or misuse of current opioid therapy for chronic pain: A systematic review. Pain 2013 Jun; 154(6): 905–916 13. Leitfaden für Ärzte zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger. 3. vollständig überarbeitete Auflage, September 2016. Hrsg. Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen BAS Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) 14. Emrich O. et al.: DGS-Praxisleitlinie Substitutionsbehandlung bei Opioidfehlgebrauch in der Schmerztherapie (POM, Prescription Opioid Misuse)