Hämophilie – Erblich bedingte Erkrankung
Hämophilie ist eine mit dem X-Chromosom verknüpfte, angeborene Blutungsstörung, die durch einen Mangel an Gerinnungsfaktor VIII (bei Hämophilie A) oder Faktor IX (bei Hämophilie B) verursacht wird [1]. Dieser Mangel ist das Ergebnis von Mutationen in den jeweiligen Gerinnungsfaktor-Genen.
Hämophilie A tritt deutlich häufiger auf als Hämophilie B: Etwa 80-85% der Menschen mit dieser Gerinnungsstörung haben Hämophilie A [1]. Die Inzidenz der Hämophilie A liegt bei 1 bis 2 pro 10.000 männliche Geburten, die Inzidenz der Hämophilie B bei etwa 1 bis 2 pro 50.000.
In Deutschland waren 2017 ca. 4.550 Hämophiliepatienten in Behandlung [2], davon etwa 3.850 mit Hämophilie A und rund 700 mit Hämophilie B.
Weltweit leiden nahezu 200.000 Menschen an Hämophilie, weitere 115.000 an anderen Blutungsstörungen [2]. Aufgrund des X-chromosomal rezessiven Erbgangs bei Hämophilie A werden in der Regel nur Männer klinisch auffällig. Frauen haben als Überträger der Genmutation eine um etwa 50% verringerte Faktor-VIII- bzw. Faktor-IX-Aktivität [1]. Die meisten Trägerinnen sind dennoch, im Alltagsleben zumeist asymptomatisch, können aber im Rahmen von Verletzungen, oder bei operativen Eingriffen substitutionspflichtig werden.
Das Faktor-VIII-Molekül in der Blutgerinnung
Faktor VIII ist ein hauptsächlich von der Leber gebildetes, großes Glykoprotein mit einem Molekulargewicht von ca. 300 kDa, welches im Plasma als Komplex mit dem von Willebrand-Faktor (vWF) zirkuliert [3]. Die Verbindung mit dem vWF stabilisiert FVIII und schützt es vor vorzeitiger Proteolyse [3], so dass eine normale Halbwertszeit von 8-12 Stunden für FVIII resultiert.
Das Fehlen oder die Dysfunktion des von vWF verkürzt die Halbwertszeit von FVIII auf ca. 2-3 Stunden, so dass die gesteigerte Blutungsneigung auch durch den Mangel an Faktor-VIII bedingt ist [4]. Somit spielt der vWF eine wichtige protektive Rolle. Am von Willebrand-Syndrom leiden weltweit ca. 76.000 Menschen [2].
Die Aufgaben von Gerinnungsfaktor VIII und vWF im Rahmen der Hämostase ergeben sich durch ein enges Zusammenspiel dieser beiden Komponenten (sogenanntes Faktor-VIII/vWF-Komplex). Die wesentliche Funktion des aktivierten Faktor-VIII (FVIIIa) besteht darin, in Gegenwart von Kalziumionen und Pospholipiden, welche bei Verletzungen freigesetzt werden, die Umwandlung von Faktor X in die aktive Form (FXa) zu beschleunigen.
Schweregrade der Hämophilie A
Der Schweregrad der klinischen Symptome der Hämophilie A wird durch die Restaktivität des Gerinnungsfaktors VIII bestimmt [1]. Liegt die Faktor-VIII-Aktivität unter 1% des Normalwertes, besteht eine schwere Hämophilie mit der Neigung zu spontanen Blutungen [5]. Die Diagnose wird meist in den ersten 2 Lebensjahren gestellt, wenn die Kinder Laufen lernen und sich z.B. beim Fallen verletzen [5].
Von einer mittelschweren Hämophilie spricht man, wenn die Aktivitäten des Gerinnungsfaktors zwischen 1% und 5% der Norm betragen. Blutungen treten hier selten spontan auf. Es kann aber schon nach kleineren Verletzungen zu verlängerten Blutungen kommen. Die Häufigkeit der Blutungsepisoden variiert, in der Regel von einmal im Monat bis einmal im Jahr [5]. Für gewöhnlich erfolgt die Diagnose im 5. oder 6. Lebensjahr [5].
Eine leichte Hämophilie wird diagnostiziert, wenn die Aktivität des Gerinnungsfaktors zwischen 5% und 40% liegt [1]. Werte über 40% werden noch als normal angesehen. Anomale Blutungen treten hier nur selten und meist nach Operationen und Zahnextraktionen auf. Daher werden Personen mit leichter Hämophilie A oft erst im späteren Leben diagnostiziert [5].
Symptome und Verlauf der Hämophilie A
70-80% der Blutungen bei Hämophilie treten intraartikulär auf. Wiederholte Einblutungen führen zu einer Ausweitung der Gelenkkapsel und Vernarbungen des Gelenkinnenraumes. Daher entwickeln viele Patienten schon in jungen Jahren eine Hämarthrose. Am häufigsten davon betroffen sind Scharniergelenke wie Sprung-, Knie- und Ellbogengelenk, seltener Schulter, Handgelenk und Hüfte [1].
Hämatome in der Muskulatur haben einen Anteil von 10-20% an den Blutungen. Typische Blutungsstellen sind auch die Schleimhäute von Mund und Nase, das Zahnfleisch sowie der Urogenitaltrakt. Blutungen, die intrakraniell, gastrointestinal oder im Rachen auftreten, können lebensbedrohlich sein [1].
Bei unzureichender Behandlung führen rezidivierende Blutungen innerhalb der ersten ein bis zwei Lebensjahrzehnte zu einer fortschreitenden Schädigung der Gelenke und Muskeln mit Funktionsverlust, Muskelatrophie, Gelenkdeformationen und Kontrakturen, die chronische Schmerzen und Behinderungen zur Folge haben können [1].
Behandlung der Hämophilie
Die Behandlung der Wahl bei Hämophilie A ist die Faktor-VIII-Substitution. Diese hat sich von einem reaktiven Therapieansatz („On-demand-Therapie“, d.h. bedarfsorientierte Behandlung während einer Blutung) zu einem proaktiven (Prophylaxe, routinemäßige Substitution mit Gerinnungsfaktoren) weiterentwickelt [1]. Ziel der Behandlung ist es, einen FVIII-Spiegel von > 1% aufrechtzuerhalten, um das Risiko schwerwiegender Blutungen zu reduzieren [1].
Wie eine aktuelle Metaanalyse zeigt, hat die Prophylaxe einen signifikant besseren Einfluss auf die Blutungsprävention und die Lebensqualität als eine „On-Demand“-Therapie. [6]. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer Faktor-VIII-Restaktivität unter 1%, also der schweren Verlaufsform, ist die Prophylaxe daher die Therapie der Wahl. Durch sie können spontane Blutungen verhindert und chronischen Gelenkerkrankungen vorgebeugt werden [1]. Allerdings stellt die lebenslange Therapie hohe Anforderungen an die Patienten. Dazu gehört ein hohes Maß an Einsicht, Eigenverantwortung und ein gutes Krankheitsmanagement.
Aktuelle Therapieoptionen
Zur Faktor-VIII-Substitution stehen derzeit Präparate der ersten, zweiten und dritten Generation zur Verfügung.
1. Generation
Bis zum Ende der 80 Jahre wurde Faktor-VIII ausschließlich aus humanem Blutplasma gewonnen, was jedoch eine Gefahr für die Übertragung infektiöser Krankheiten darstellte. Diese sog. Plasma-Derivate (pdFVIII-Präparate) werden mittlerweile verschiedenen Virusinaktivierungsmaßnahmen unterzogen und umfassend getestet, so dass sie als sehr sicher gelten.
2. Generation
Seit Anfang der 90er Jahre wird Faktor-VIII auch mittels einer rekombinanten DNA-Technologie hergestellt. Diese biotechnologisch (rekombinant) hergestellten rFVIII-Präparate bieten eine sehr viel höhere Sicherheit vor Viren und anderen Verunreinigungen als die pdFVIII-Präparate. Zu den rFVIII-Präparaten gehört u.a. auch Octocog alfa.
3. Generation
Faktorpräparate der dritten Generation enthalten kein tierisches oder menschliches Protein mehr. Auch die verwendeten Zellkulturen sind frei von Proteinen aus tierischem oder menschlichem Blut. Zu diesen Präparaten gehören u a. Faktorpräparate mit verlängerter Halbwertszeit, sogenannte Extended-Half-Life(EHL)-FVIII-Präparate. Diese verfügen über eine längere Wirkdauer, wodurch der Schutz vor Blutungen erhöht, das Injektionsintervall vergrößert und die Zahl der Injektionen reduziert werden kann.
Extended-Half-Life (EHL)-FVIII-Präparate
Aktuell stehen in Deutschland drei rFVIII-Präparate mit verlängerter Halbwertszeit (HWZ) zur Verfügung:
- Efmoroctocog alfa
- Rurioctocog alfa pegol
- Damoctocog alfa pegol
Die mittleren Halbwertszeiten lagen nach einer Einzeldosis gemäß chromogenem Test zwischen ca. 13 und 17 Stunden [7–9]. Im Vergleich zur Standardmedikation rFVIII wurde die HWZ durch ein EHL-FVIII-Präparat um das ca. 1,2- bis 1,5-fache verlängert [10–14].
Spontanblutungen trotz Prophylaxe mit FVIII
Zu den größten Herausforderungen in der Hämophilie-Behandlung gehören Spontanblutungen. Real-World-Daten haben gezeigt, dass es trotz Prophylaxe bei einem Großteil der Patienten zu Spontanblutungen kommt [15–17].
Ein möglicher Grund kann die mangelnde Adhärenz sein, die häufig bei jungen Hämophilie-Patienten beobachtet wird [18]. Zudem gibt es hinsichtlich der Pharmakokinetik große interindividuelle Unterschiede: Sowohl von Patient zu Patient als auch in den verschiedenen Altersstufen wird Faktor-VIII unterschiedlich schnell abgebaut. Bei zu kurzer Halbwertszeit des FVIII-Präparates ist die Faktorkonzentration am Ende des Injektionsintervalls nicht ausreichend, um vor Blutungen zu schützen. Präparate mit längerer Halbwertszeit können – bei unverändertem Injektionsintervall – zu höheren Talspiegeln führen und so das Risiko für Spontanblutungen verringern und die Behandlungssicherheit steigern.
Anmerkung: Keine Referenz für die Aussage „>50%“
Verlängerung der Halbwertszeit (Pegylierung)
Heute werden im Wesentlichen zwei biotechnologische Verfahren zur Verlängerung der Halbwertszeit von FVIII-Produkten eingesetzt: Die Fusion des Gerinnungsfaktors mit einem anderen, rekombinant hergestellten Protein (Fc-Region von Immunglobulin G bzw. Albumin) und die PEGgylierung [19].
Bei der PEGylierung werden Polyethylenglycol(PEG)-Moleküle kovalent an bestimmte Stellen der FVIII-Moleküle gebunden, so dass durch die Vergrößerung des Gesamtkomplexes die renale Ausscheidung verlangsamt wird [20, 21]. Gleichzeitig ist das Protein vor proteolytischem Abbau geschützt ist [22]. Beides führt zu einer längeren Verweildauer im Blut.
Durch eine verminderte Bindung des pegylierten FVIII-Proteins an den Clearance-Rezeptor reduziert sich auch die Clearance-Rate [20]. Da die PEG-Moleküle das Protein sterisch abschirmen, ist auch dessen Immunogenität verringert [22].
Zur PEGylierung verwenden die Hersteller von Faktor-VIII-Präparaten unterschiedlich große PEG Moleküle und binden diese an unterschiedliche Stellen des Gerinnungsfaktors.
Sicherheitsaspekte der Pegylierung
Die PEGylierung ist ein international bewährtes Verfahren zur Verlängerung der Halbwertszeit von Arzneimitteln. PEGylierte Therapeutika sind seit den 90er Jahren verfügbar und werden fortwährend weiterentwickelt [21, 23, 24]. PEG-Moleküle mit einer molekularen Größe ≤ 30 kDa werden über die Niere und die Leber eliminiert und reichern sich nicht im Körper an [20, 23]. PEG wird als nicht immunogen eingestuft und im Rahmen der Zulassungsstudie zu Rurioctocog alfa pegol wurden keine neuen Antikörper gefunden, die gegen die pegylierten Epitope des FVIII gerichtet waren [13]. Bislang wurden auch keine PEG-spezifischen Nebenwirkungen unter Rurioctocog alfa pegol beobachtet [13, 25, 26].
PROLONG-ATE: Zulassungsstudie für Rurioctocog alfa pegol
Rurioctocog alfa pegol ist seit Januar 2018 zur Behandlung und Prophylaxe von Personen ab 12 Jahren mit Hämophilie Typ A zugelassen. Die Zulassung basiert u.a. auf der PROLONG-ATE-Studie, einer multizentrischen, offenen, zweiarmigen Phase II/III-Studie mit insgesamt 137 vorbehandelten Patienten mit schwerer Hämophilie A [13].
Ziel der Studie war die Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit sowie die Erhebung von pharmakokinetischen Parametern von Rurioctocog alfa pegol. Die Patienten erhielten entweder eine Prophylaxe mit Rurioctocog alfa pegol in einer Dosierung von 40-50 IE/kg Körpergewicht zweimal wöchentlich (Studienarm A) oder eine Behandlung nach Bedarf in einer Dosierung von 10-60 IE/kg Körpergewicht (Studienarm B). Eine Teilpopulation von 25 Patienten aus Studienarm A wurde PK-Messungen unterzogen [13].
Der primäre Endpunkt war die annualisierte Blutungsrate (Annualized Bleeding Rate, ABR) im Vergleich zwischen Patienten mit prophylaktischer Dosierung und Patienten mit Bedarfsmedikation. Wichtige sekundäre Endpunkte waren die Anzahl der Infusionen zur Behandlung einer Blutungsepisode, die Länge der Intervalle zwischen den Blutungsepisoden sowie die Beurteilung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität durch die Patienten [13].
PROLONG-ATE: Ergebnisse
Bei Patienten unter prophylaktischer Behandlung mit Rurioctocog alfa pegol war die mediane annualisierte Blutungsrate (ABR) im Vergleich zur On-demand-Behandlung während des 6-monatigen Zeitraums um 95% reduziert. Die mediane (ABR) im Bedarfsbehandlungs-Arm betrug 41,5, die im Prophylaxe-Arm betrug 1,9. Dabei blieben fast 40% der Patienten unter Prophylaxe blutungsfrei; ca. 57% hatten keine Blutungsepisoden in Gelenken und ca. 57% hatten keine spontanen Blutungsepisoden.[13]. Alle Patienten im Bedarfs-Arm hatten eine Blutungsepisode, darunter eine Episode mit Gelenkblutung oder spontaner Blutung.
98% der Patienten, die mit Rurioctocog alfa pegol prophylaktisch behandelt wurden, benötigten im Behandlungszeitraum keine Dosisanpassung. Bei 2 Patienten wurde die Dosis aufgrund von Blutungen in Zielgelenken während der Prophylaxe auf 60 IE/kg erhöht [13].
96% der Blutungsepisoden wurden mit einer oder zwei Injektionen wirksam behandelt. Es wurden weder FVIII-Inhibitoren noch Antikörper gegen CHO-(chinese hamster vary cells)-Proteine oder PEG beobachtet [13].
PROTECT VIII: Zulassungsstudie für Damoctocog alfa pegol
Damoctocog alfa pegol ist seit Januar 2019 zur Behandlung und Prophylaxe von Blutungen bei vorbehandelten Patienten ab 12 Jahren mit Hämophilie A zugelassen [9]. Die Zulassung basiert auf den Ergebnissen der multizentrischen, teilrandomisierten, offenen Phase-II/III Studie bei 134 Patienten mit schwerer Hämophilie A [27].
Die Studie untersuchte die Prophylaxe, Bedarfsbehandlung und perioperative Behandlung bei vorbehandelten Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren mit schwerer Hämophilie A. Nach einer 10-wöchigen Run-in-Phase mit einem Standard-Präparat wurden für die 36-wöchige Hauptstudie die Patienten auf eine Injektion 1x pro Woche (60 IE/kg) oder eine Injektion alle 5 Tage (45-60 IE/kg) mit dem neuen Präparat randomisiert. Zudem erhielten 11 Patienten 2 Injektionen pro Woche (30-40 IE/kg). 13 Patienten mit erhöhter Blutungsneigung erhielten ebenfalls 2 Injektionen pro Woche mit dem neuen Präparat.
PROTECT VIII: Ergebnisse
Bei den Patienten mit normaler Blutungsneigung, die alle 5 Tage, bzw. 2x pro Woche Injektionen mit Damoctocog alfa pegol erhielten, betrug die annualisierte Blutungsrate (ABR) jeweils 1,9 [27].
Rund ein Viertel der Patienten, die 1 Injektion pro Woche erhielten, erlitten in der Hauptstudie Durchbruchsblutungen und verkürzten daraufhin das Injektionsintervall. Bei den verbleibenden Patienten betrug die ABR unter wöchentlicher Injektion 1,0. Die Hälfte davon hatte keine Blutungen. Bei den Patienten mit erhöhter Blutungsneigung betrug die ABR 4,1. Patienten unter Bedarfstherapie hatten eine ABR von 23,4.
91% der aufgetretenen Blutungen konnten mit ein oder 2 Injektionen des neuen Präparats kontrolliert werden. Damoctocog alfa pegol weist ein für ein Faktor-VIII-Präparat typisches Sicherheitsprofil auf. 2 Patienten beendeten die Studie vorzeitig aufgrund von Hypersensitivitätsreaktionen. Kein Patient bildete Faktor-VIII-Inhibitoren oder neutralisierende anti-PEG-Antikörper
Vorteile der verlängerten Halbwertszeit
FVIII-Präparate mit verlängerter Halbwertszeit (HWZ) eröffnen die Möglichkeit, die Behandlung noch besser an die Bedürfnisse der Patienten anzupassen. Die Abbildung zeigt die Pharmakokinetik des Faktor-VIII-Spiegels eines Standard-Präparates (hellblau), welches in der Regel dreimal wöchentlich gespritzt wird im Vergleich zu einem Präparat mit verlängerter HWZ (dunkelblau), welches – bei gleichem Talspiegel – nur zweimal gespritzt werden muss.
Für den Patienten ermöglicht eine Prophylaxe mit einem FVIII-Präparat mit verlängerter Halbwertszeit weniger Injektionen bei gleichbleibend hohem Blutungsschutz. Bei einem typischen Patienten können auf diese Weise mehr als 50 intravenöse Injektionen pro Jahr erspart werden. Damit einhergehende längere therapiefreie Intervalle lassen eine Erhöhung der Lebensqualität sowie eine erleichterte Teilhabe am normalen sozialen und beruflichen Leben erwarten. Durch die Reduktion der als belastend empfundenen Applikation kann zudem eine Verbesserung der Therapieadhärenz erreicht werden. Das wiederum kann sich positiv auf den Therapieerfolg auswirken.
Wird das Behandlungsregime beibehalten, können durch das HWZ-verlängerte Produkt auch deutlich höhere Talspiegel erzielt und so der Schutz vor Spontanblutungen verstärkt werden. Möglicherweise steigt die Akzeptanz gegenüber der Prophylaxe und Betroffene, die bisher nur „on demand“ behandelt wurden, wechseln in ein Prophylaxe-Modell. Das wichtigste Ziel ist in jedem Fall eine Verbesserung der Behandlungsergebnisse.
Die individuelle Halbwertszeit
Nicht nur die FVIII-Präparate zeigen unterschiedliche Halbwertszeiten. Auch unter den Patienten besteht eine erhebliche Variabilität in der pharmakokinetischen Reaktion auf den Gerinnungsfaktor [28].
Was das für die FVIII-Prophylaxe bedeuten kann, zeigt das vorliegende Beispiel dreier Patienten: Morgens verabreichen sich alle dieselbe Menge FVIII pro kg Körpergewicht. Am Abend beträgt die FVIII-Aktivität bei Patient A, der eine lange individuelle HWZ aufweist, 37%, bei Patient B mit kurzer individueller HWZ 9,2% und bei Patient C mit einer mittleren individuellen HWZ 18%.
Forscher der Medizinischen Universität Wien, die die individuellen FVIII-Halbwertszeiten von 42 Hämophilie-A-Patienten ermittelten, fanden Werte zwischen zwischen 6,2 und 20,7 Stunden, bei einem medianen Wert von 10 Stunden [28]. Einfluss auf die HWZ hatten in dieser Untersuchung das Alter, die Blutgruppe und der von-Willebrand-Faktor-(vWF)Serumspiegel, jedoch nicht das Körpergewicht [28].
Diese Ergebnisse machen deutlich, dass eine rein gewichtsbasierte Prophylaxe mit FVIII-Fixdosen zwar effektiv sein kann, aber auch zu Fehleinschätzungen des jeweiligen Faktorspiegels führen kann. Das „One size fits all“-Prinzip ist zudem wenig flexibel und entspricht in der Regel nicht den individuellen Bedürfnissen und Erwartungen der Patienten [29].
Die personalisierte Prophylaxe
Eine optimale Behandlung der Hämophilie A ist auf die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Patienten abgestimmt: Zu den wichtigsten Faktoren der personalisierten Prophylaxe gehören Alter und Gewicht, körperliche Aktivität und Lebensstil, die Ziele des Patienten und seine Therapietreue, die individuelle Pharmakokinetik, Blutungsfrequenz, Gelenkstatus und Komorbiditäten [29, 30]. Ein ideales Prophylaxeprogramm sollte alle oben genannten Punkte berücksichtigen und den Bedürfnissen der Patienten gerecht werden können [29, 31–33].
Die Bestimmung der individuellen Pharmakokinetik ist Grundlage einer optimierten, persönlichen Prophylaxe, die Patienten mehr Flexibiltät und mehr Sicherheit hinsichtlich der Vermeidung und Vorbeugung von Blutungen bieten kann [34, 35].
Die PK-gesteuerte Prophylaxe
Um die Pharmakokinetik (PK) von FVIII vorherzusagen, sind Körpergewicht und Lebensalter allein nicht ausreichend [36]. Zur Berechnung der individuellen Verweildauer des Faktor-VIII wurden bislang bis zu 11 Blutproben von einem Patienten benötigt.
Heute bieten webbasierte-Tools wie der präparateübergreifende Service „WAPPS-Hemo“ (Web Accessible Population Pharmacokinetics Service, Hemophillia) oder das präparategebundene, CE-zertifizierte Medizinprodukt „myPKFiT“ (für Octocog alfa und Rurioctocog alfa pegol) die Möglichkeit, anhand von nur 2 Blutproben die individuelle Pharmakokinetik für ein bestimmtes FVIII-Präparat zu berechnen und zu monitoren. Dabei beruht die PK-Analyse auf einem Prognosemodell (Bayes-Analyse), dem die in klinischen Studien gewonnenen pharmakokinetischen Daten einer Population zugrunde liegen [37, 38].
Mit den Programmen lassen sich individuelle Behandlungspläne simulieren und die individuell erforderliche Dosierung und der passende Zeitpunkt für eine Faktor-VIII-Substitution errechnen. Mit dieser Information kann das jeweilige Aktivitätslevel des Patienten an die prognostizierten Spitzen- und Talspiegel angepasst werden und in manchen Fällen die Zahl der Injektionen verringert werden [38].
Patienten-Apps für die individualisierte Prophylaxe
Mithilfe der passenden Smartphone-Apps („myWAPPS“ bzw. „myPKFiT“) erhalten die Patienten – nach Freischaltung durch den Arzt – Zugriff auf ihre aktuellen und prognostizierten FVIII-Aktivitätslevel, um ihre körperlichen Aktivitäten entsprechend anpassen zu können.
In der MyPKFiT-App beispielsweise wird der geschätzte, aktuelle FVIII-Wert patientenfreundlich über einen sogenannten „Faktormeter“ in Form eines Batteriesymbols dargestellt. Die Zeit bis zum Erreichen des Talspiegels wird ebenfalls angezeigt. Wenn der prognostizierte Faktor-VIII-Spiegel niedrig ist und ein erhöhtes Blutungsrisiko besteht, werden die Patienten von der App gewarnt.
Die Patienten können außerdem Datum, Uhrzeit und Details ihrer Injektionen protokollieren und mit ihrem Arzt teilen.
Individualisierte Prophylaxe und Alltagsgestaltung
Ein wesentlicher Vorteil der PK-gesteuerten Prophylaxe besteht darin, dass die Dosierungsschemata nach den Vorlieben des Patienten modifiziert werden können. Sollte ein Patient an bestimmten Wochentagen regelmäßig körperlich aktiv sein, kann das Applikationsregime so gewählt werden, dass das FVIII-Niveau zu diesem Zeitpunkt entsprechend hoch ist.
Anhand der durch die App bereitgestellten Grafiken können im Arzt-Patient-Gespräch abstrakte pharmakokinetische Konzepte, die unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit des Patienten haben, visualisiert werden. Dies könnte zu einem besseren Verständnis hinsichtlich der prophylaktischen Substitutionstherapie führen und den Patienten in die eigene Behandlung stärker involvieren.
PROPEL-Studie
Patienten mit schwerer Hämophilie A haben eine Faktoraktivität <1 IE/dl bzw. <1% der normalen Aktivität; bei mittelschwerer Hämophilie A liegt die Aktivität zwischen 1-≤5 IE/dl (1-≤5%) [1]. Seit den 1970er Jahren war das Ziel der prophylaktischen Behandlung, das Blutungsmuster der schweren Hämophilie A in das einer mittelschweren Hämophilie A zu überführen [39]. Daher wurden traditionell in der Prophylaxe FVIII-Talspiegel von 1-3 IE/dl angestrebt, um Spontanblutungen zu reduzieren [39].
Klinische und Real-World-Studien zeigen jedoch, dass diese Talspiegel in vielen Fällen nicht ausreichen und darunter immer noch Blutungen auftreten, die bleibende Schäden für Betroffene haben können [11, 16, 39, 40].
Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko könnten von höheren FVIII-Talspiegeln profitieren. Es gibt Hinweise darauf, dass ein FVIII-Spiegel ≥10% die annualisierte Gesamtblutungsrate (ABR) sogar auf Null reduzieren könnte [41]. Inwieweit dieses möglich ist, wurde in der PROPEL-Studie untersucht und damit erstmals aufgezeigt, welche Möglichkeiten eine personalisierte Prophylaxe bieten kann [42].
PROPEL-Studie: Studiendesign und -ziele
In der prospektiven, randomisierten, multizentrischen klinischen Phase-III-Studie wurde die Sicherheit und Wirksamkeit von Rurioctocog alfa pegol bei Patienten mit PK-gesteuerter Prophylaxe und verschiedenen FVIII-Talspiegeln verglichen. Untersucht wurden Blutungsraten bei 115 Patienten (12-61 Jahre) mit schwerer Hämophilie A mit niedrig (1-3%) und hoch (8-12%) eingestellten Talspiegeln [42]. Die Kontrolle der Talspiegel erfolgte mit dem Programm myPKFiT. Primärer Endpunkt war der Anteil der Studienteilnehmer in jeder Gruppe, die eine annualisierte Blutungsrate von Null im Verlauf der zweiten 6-monatigen Studienperiode erreichten.
PROPEL-Studie - Ergebnisse
Den primären Endpunkt, eine annualisierte Gesamtblutungsrate (ABR) von Null, erreichten im Studienzeitraum von 6 Monaten 66% der Patienten in der Gruppe mit hohen Talspiegeln und nur 39% der Patienten mit niedrigen Talspiegeln [42]. Statistisch war der Unterschied nicht signifikant.
Der gleiche Trend zeigte sich auch in den sekundären Endpunkten: 84% der Patienten mit hohen Talspiegeln wiesen keine spontanen annualisierten Blutungsereignisse und 90% keine spontanen annualisierten Gelenkblutungsraten auf im Vergleich zu 61% bzw. 68% der Patienten mit niedrig eingestellten Talspiegeln [42]. Das Sicherheitsprofil von Rurioctocog alfa pegol zwischen beiden Behandlungsgruppen war vergleichbar und stimmte mit dem früherer Studien überein [42].
Die Studienergebnisse unterstützen die Annahme, dass mit höheren Talspiegeln, die durch eine personalisierte, PK-gesteuerte Prophylaxe erzielt wurden, ein verbesserter Blutungsschutz für viele Patienten erreicht werden kann.
Zusammenfassung
Eine schwere Hämophile A ist gekennzeichnet durch häufige Spontanblutungen mit Einblutungen in die Gelenke bei einer Faktor-VIII-Aktivität unter 1% des Normalwertes. Bei unzureichender Behandlung führen rezidivierende Blutungen zu Gelenkdeformationen und Kontrakturen, die chronische Schmerzen und Behinderungen zur Folge haben können.
Die prophylaktische Behandlung erfolgt durch intravenöse Gabe von Faktor-VIII-Präparaten, durch die Talspiegel von ≥1% erzielt werden sollen. Die Patienten weisen jedoch eine erhebliche Variabilität in der pharmakokinetischen Reaktion auf den Gerinnungsfaktor auf, so dass eine rein gewichtsbasierte Prophylaxe mit FVIII-Fixdosen zu Fehleinschätzungen des jeweiligen Faktorspiegels führen kann.
Extended-Half-Life (EHL)-FVIII-Präparate verfügen über verlängerte Halbwertszeiten (HWZ), wodurch das Injektionsintervall vergrößert und die Zahl der Injektionen reduziert werden kann. Zudem können höhere Talspiegel erzielt und so der Schutz vor Blutungen erhöht werden.
Die personalisierte Prophylaxe berücksichtigt neben Alter und Gewicht, körperlicher Aktivität und Lebensstil, auch die individuelle Pharmakokinetik des Patienten. Diese kann mittels webbasierte Software mit nur zwei Blutproben berechnet werden. Auf diese Weise lassen sich individuelle Behandlungspläne simulieren und die individuell erforderliche Dosierung und der passende Zeitpunkt für eine Faktor-VIII-Substitution errechnen. Smartphone-Apps warnen die Patienten bei erhöhtem Blutungsrisiko und geben die Möglichkeit, ihre körperlichen Aktivitäten an die prognostizierten FVIII-Spiegel anzupassen.