Herausforderung frühe Diagnose: Mukopolysaccharidosen anhand skelettaler Manifestationen erkennen

Die Mukopolysaccharidosen (MPS) gehören zu den lysosomalen Speicherkrankheiten, einer Gruppe von seltenen, angeborenen Stoffwechselstörungen mit einer hochgradigen Heterogenität im klinischen Bild und im Verlauf. Skelett- und Gelenkbeteiligungen sind eine der wichtigsten Krankheitsmanifestationen bei den MPS. Die Gelenkerkrankung bei den MPS ist progredient und typischerweise ohne klinische Anzeichen einer Entzündung. Die Arthropathie bei den MPS führt zu einem fortschreitenden Verlust der manuellen Fertigkeit, der Wirbelsäulenausrichtung, der Hüftgelenkfunktion und beeinträchtigt die Beweglichkeit und damit die Lebensqualität stark.

Kinderärzte spielen eine Schlüsselrolle in der Früherkennung von MPS, jedoch sind die Seltenheit der Erkrankung, das variable Alter bei Symptombeginn und die Komplexität des Krankheitsbildes eine große Herausforderung. Dies gilt insbesondere für die zunächst weniger auffälligen, langsam progredienten, attenuierten Formen, die oft über Jahre unerkannt bleiben. Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, da mit einer frühen und adäquaten Therapie das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt werden kann. In dieser Fortbildung erfahren Sie u. a., welche skelettalen Manifestationen bei MPS charakteristisch sind, woran Sie frühzeitig eine attenuierte MPS-Form erkennen können, und was im Falle eines Verdachts zu tun ist.

Dr. med. Christina Lampe, Gießen
"Die Variabilität und Heterogenität der einzelnen MPS-Erkrankungen ist so groß, dass eine Blickdiagnose alleine nicht genügt. Nur die Kombination der Symptome führt in der Zusammenschau letztendlich zum Verdacht".


Kursinfo
VNR-Nummer 2760709123047150017
Zeitraum 12.05.2023 - 11.05.2024
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Dr. med. Christina Lampe
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Fachartikel
Lernmaterial Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner Sanofi-Aventis Deutschland GmbH
Bewertung 4.3 (164)

Herausforderung frühe Diagnose: Mukopolysaccharidosen anhand skelettaler Manifestationen erkennen

Mukopolysaccharidosen (MPS) sind seltene Stoffwechselstörungen, die zwischen 3,4 und 4,5 pro 100.000 Lebendgeburten betreffen. Sie gehören zur Gruppe der lysosomalen Speicherkrankheiten und werden durch spezifische Enzymdefekte verursacht, die für den Katabolismus von Glykosaminoglykanen (GAG) verantwortlich sind. GAG sind langkettige Polysaccharide, die mit einem Proteinkern verbunden sind und die Grundsubstanz des Bindegewebes bilden. Der unvollständige Abbau von GAG führt zu ihrer Akkumulation in den Lysosomen von Zellen im gesamten Körper, in der Folge zu einer Multiorgandysfunktion und bei den meisten Patienten zu einer erheblichen Morbidität.

Die MPS sind hochgradig heterogen

Wie die meisten anderen metabolischen Erbkrankheiten zeigen die MPS eine hochgradige Heterogenität im klinischen Bild und im Verlauf. Anhand des Enzymdefektes werden sieben verschiedene MPS-Formen unterschieden (MPS I, II, III, IV, VI, VII, IX). In Abhängigkeit von der enzymatischen Restaktivität können bei fast allen MPS-Formen schwere bis attenuierte, also langsamer progredient verlaufende, Formen auftreten. Kinder mit schnell progredienten Verlaufsformen sind schon im frühen Säuglingsalter in ihrer Symptomatik sehr auffällig und werden daher bereits in den ersten Lebensjahren diagnostiziert. Bei den langsamer progredienten Verlaufsformen ist der Symptombeginn meist später, und die Symptomatik ist weniger auffällig. So vergehen Jahre, bis die korrekte Diagnose gestellt wird. Daher benötigen insbesondere die langsamer progredienten, attenuierten MPS-Formen besondere Aufmerksamkeit. Letztlich lässt nur die langfristige Beobachtung des Patienten eine Beurteilung des Schweregrades zu. Auffällig bei MPS sind die Skelett- und Gelenkbeteiligungen, die ein wichtiges diagnostisches Merkmal dieser multisystemischen Erkrankung darstellen und in dieser CME im Fokus stehen.

Die Früherkennung ist besonders wichtig

Je früher eine MPS erkannt wird, desto eher kann der Krankheitsverlauf mit einer adäquaten Behandlung positiv beeinflusst werden, denn für einen Großteil der MPS-Formen stehen neben den supportiven Behandlungen auch kausale Therapien zur Verfügung. Deshalb gilt: Je früher, desto besser, da eine frühe Behandlung die Progression aufhalten oder zumindest verlangsamen kann und sich positiv auf Morbidität und Lebensqualität auswirkt. Die Herausforderung für den Kinderarzt und auch für andere Fachärzte besteht darin, die meist sehr unspezifischen Symptome zu erkennen, zusammenzuführen und richtig einzuordnen. Die Verdachtsdiagnose MPS wird in der Regel durch eine Kombination verschiedener Merkmale gestellt, wobei die skelettalen Manifestationen eine äußerst wichtige Rolle spielen. Zur Diagnosesicherung kommen dann einfach durchzuführende Trockenbluttests (Enzymtests) zum Einsatz. Für die weitere Versorgung und Therapieeinstellung werden die Patienten in der Regel an ein spezialisiertes Expertenzentrum überwiesen.

Typische Skelett- und Gelenkveränderung bei MPS

Charakteristisch für die meisten MPS-Formen sind neben Gelenkkontrakturen und -steifigkeit auch skelettale Deformitäten. Folgende orthopädischen Veränderungen können bereits ohne röntgenologischen Befund auffallen und sind je nach Verlaufsform stärker oder schwächer ausgeprägt:
  • Kleine Statur, gedrungener Körperbau (attenuierte Verlaufsformen)
  • Disproportionierter Kleinwuchs mit kurzem Rumpf und fast normal langen Extremitäten (schwerere Verlaufsformen)
  • Schlaffe oder überstreckbare Gelenke (nur bei MPS IV)
  • Gelenkkontrakturen (Finger/Hände, Knie, Ellenbogen, Schultern) ohne Entzündungszeichen
  • Gelenkversteifungen v. a. der großen Gelenke
  • Hüftprobleme (Hüftdysplasie)
  • Kiel- oder Trichterbrust
  • Wirbelsäulenverkrümmung (Kyphose, Skoliose, Hyperlordose, Gibbus)
  • X-Beinstellung der Kniegelenke (Genua valga)
  • Verbreiterter Mittelfuß
  • Fehlstellungen der Füße (Knick-Senkfuß, Spitzfuß)
  • Karpaltunnelsyndrom
  • Verdickte und verkürzte Finger mit verbreiterter Mittelhand („Klauenhände”)
  • Triggerfinger
Auf einige Besonderheiten von Gelenkversteifungen und -kontrakturen, Hüftdysplasie, X-Beinstellung, Wirbelsäulenverkrümmung, Rückenmarkkompression, Karpaltunnelsyndrom und Triggerfinger werden wir später noch ausführlicher eingehen.

Besonderheiten bei MPS: Dysostosis multiplex

Als „Dysostosis multiplex” werden die radiologisch sichtbaren Veränderungen bei MPS bezeichnet. Alle Formen von MPS-Erkrankungen weisen mehr oder weniger stark eine Dysostosis multiplex auf. Dabei müssen nicht immer alle Skelettveränderungen bei allen Kindern auftreten. Im Röntgenbild können je nach Ausprägung folgende Skelettveränderungen auffallen.
  • Eine verdickte Schädelkalotte,
  • anomal J-förmige Sella turcica,
  • ruderblattförmige Rippen,
  • kurze, oft verdickte Schlüsselbeine,
  • abgeflachte Wirbelkörper mit Hakenwirbelbildung, abgerundete Beckenschaufeln,
  • steil gestellte Hüftpfanne und dysplastische Hüftköpfe, verkürzte und plumpe Röhrenknochen,
  • hypoplastische Epiphysen, verdickte Diaphysen sowie verdickte und verkürzte Phalangen (sog. Zuckerhut-Phalangen).

Pathophysiologie der Kochen- und Gelenkmanifestationen bei MPS

Es wird angenommen, dass die Akkumulation von teilweise abgebauten Glykosaminoglykanen (GAG) in Bindegewebszellen und Chondrozyten für die meisten der muskuloskelettalen Manifestationen verantwortlich ist. Gelenksteifigkeit und -kontrakturen entstehen als Folge der Ablagerung von GAG in Bändern, Sehnen, Gelenkkapseln und anderen Weichteilen. Zusätzlich tragen epiphysäre und metaphysäre Deformitäten aufgrund eines gestörten Skelettumbaus dazu bei. Steifigkeit und Kontrakturen können sämtliche Gelenke betreffen, jedoch mit unterschiedlichen Progressionsraten. Die Gelenkerkrankung bei den MPS ist progredient und weist typischerweise keine lokalen und systemischen Anzeichen einer Entzündung auf.

Klinisches Bild der Gelenk- und Skelettbeteiligung am Beispiel von MPS I

Im Hinblick auf Gelenk- und Skelettmanifestationen ist das klinische Erscheinungsbild von MPS I, II, VI und VII sowohl bei schweren als auch bei langsam progredienten Verlaufsformen recht ähnlich. Das Alter bei Erstmanifestation der Symptome ist abhängig vom Schweregrad der Erkrankung: So treten die Symptome bei der schweren Verlaufsform von MPS I, Morbus Hurler, Median mit sechs Monaten auf, bei Patienten mit Morbus Scheie, der langsam progredienten MPS-I-Verlaufsform, hingegen durchschnittlich mit 5,3 Jahren. Daten einer MPS-I-Registerstudie zeigen, dass bei Scheie-Patienten erstmals Gelenkkontrakturen, Dysostosis multiplex und Hüftdysplasie im medianen Alter von 7,6 bis 8,4 Jahren auftraten. Bei Hurler-Scheie-Patienten fielen erstmals im Alter von 4,1 bis 4,6 Jahren Dysostosis multiplex, Gelenkkontrakturen und Kyphose/Gibbus auf. Dies sind jedoch in der Regel nicht die ersten Symptome. Erstsymptome der attenuierten Verlaufsformen sind meist unspezifisch wie rezidivierende Infekte der Atemwege und Ohren sowie Nabel- und Leistenhernien. Aufgrund der unspezifischen Symptomatik wird die Diagnose meist erst viel später, und zwar Median mit 9,4 Jahren gestellt. Schon früh im Krankheitsverlauf kann bei den attenuierten MPS-I-Formen eine Beteiligung der distalen Interphalangealgelenke (DIP) sowie der Schulter- und Kniegelenke beobachtet werden. Durch die Steifigkeit in den DIP kommt es nach und nach zur charakteristischen Ausprägung einer Klauenhand, die oft zu Einschränkungen der Feinmotorik der Hände führt. Bei MPS III sind die Gelenke weniger betroffen. MPS-IV-Patienten weisen hingegen eine Hypermobilität der Gelenke und in der Regel eine schwerere skelettale Dysplasie auf als die anderen MPS-Formen. Eine weitere typische muskuloskelettale Manifestation der MPS sind Wachstumsstörungen und Kleinwüchsigkeit. Diese treten bei allen MPS-Patienten auf, unabhängig von Typ oder Schweregrad. Bei den attenuierten Formen können bereits im Alter von neun Monaten leichte Abweichungen von der normalen Wachstumskurve auftreten. Unabhängig von der MPS-Form fallen signifikante Wachstumsdefizite vor dem zwölften Lebensjahr und ein geringerer oder fehlender pubertärer Wachstumsschub auf. Eine Wirbelsäulenverkrümmung ist häufig und kann zu Gibbus, Skoliose, Kyphose und Rückenmarkkompression führen. Gelenkkontrakturen, -steifigkeit und -schmerzen sowie beidseitige Hüftdysplasie sind auffällige Manifestationen der attenuierten Verlaufsformen von MPS I, II, VI und VII. Bei den schwereren Verlaufsformen können Makrozephalie sowie Deformitäten des Brustkorbes auftreten.

Mögliche Auswirkungen der Arthropathie

Die Arthropathie bei den MPS führt zu einem fortschreitenden Verlust der manuellen Fertigkeit, der Wirbelsäulenausrichtung, der Hüftgelenkfunktion und beeinträchtigt die Beweglichkeit und damit die Lebensqualität stark. Im Folgenden werden die wichtigsten Gelenk- und Skelettmanifestationen, die bei MPS-Patienten auftreten können, und deren Folgen ausführlicher dargestellt:

Gelenksteifigkeit und -kontrakturen können Rheuma imitieren

Gelenksteifigkeit und Bewegungseinschränkungen bei fehlender Entzündung sind oft die ersten Symptome, wegen derer ein Patient an einen Rheumatologen überwiesen wird. Tatsächlich können Steifigkeit und Kontrakturen rheumatische Erkrankungen, z. B. eine rheumatoide Arthritis (RA) oder eine juvenile idiopathische Arthritis (JIA), imitieren. Jedoch gibt es einige wichtige Unterscheidungsmerkmale: Im Gegensatz zu Patienten mit entzündlicher Arthritis zeigen MPS-Patienten weder die typische Morgensteifigkeit noch eine Verbesserung der Steifigkeit durch Bewegung. Darüber hinaus fehlen lokale Entzündungszeichen wie Schwellung, Wärme und Druckempfindlichkeit sowie systemische Entzündungszeichen. Laborparameter wie C-reaktives Protein (CRP), Blutsenkung (Erythrozyten-Sedimentationsrate, ESR) oder die Zahl der Leukozyten sind in der Regel nicht erhöht, und der Rheumafaktor ist negativ. Wenn einige Gelenke bei MPS- Patienten ein geschwollenes Aussehen haben, beruht dies meist auf einer knöchernen Deformität, im Gegensatz zum Vorhandensein von Synovialergüssen bei RA oder JIA. Anders als bei Rheumapatienten sind bei Patienten mit MPS vor allem die distalen (DIP) und seltener die proximalen Interphalangealgelenke (PIP) oder die Fingergrundgelenke betroffen. Die phalangeale Dysostose und die synoviale Verdickung führen zu einer charakteristischen Krallenhanddeformität, die ein typisches MPS-Merkmal ist und den Verdacht auf MPS wecken kann. Ein weiterer Hinweis kann das fehlende oder nur begrenzte Ansprechen der Gelenkbeschwerden auf nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) oder andere entzündungshemmende Behandlungen sein.

Hüftdysplasie

MPS-I-Registerdaten zeigen, dass etwa 25 % der Kinder mit attenuierten Verlaufsformen von MPS I eine Hüftdysplasie aufwiesen, die im medianen Alter von 6,2 Jahren (Hurler-Scheie) bzw. 8,4 Jahren (Scheie) erstmals auftrat. Typische Veränderungen der Hüfte sind extrem flache Acetabula, eine Entrundung des Hüftkopfes und ein vergrößerter Hals-Diaphysen-Winkel. Die Folgen sind zunehmende Bewegungseinschränkungen und Schmerzen, obwohl viele radiologische Veränderungen nicht mit den klinischen Symptomen korrelieren. Das bedeutet, dass die Beschwerden sehr viel stärker oder schwächer ausfallen können, als der radiologische Befund vermuten lässt. Auffällig ist oftmals der durch die Hüftdysplasie bedingte watschelnde Gang der Kinder.

X-Beinstellung (Genua valga)

Genua valga sind häufige Skelettmanifestationen bei MPS. Schwere Valgusdeformitäten werden bei Kindern mit MPS IV sowie bei den attenuierten MPS-I-Formen Hurler-Scheie und Scheie beobachtet. Mit Beginn der Gehfähigkeit schreitet die Fehlstellung allmählich fort. Im späteren Verlauf der Erkrankung können die Kniegelenke der Betroffenen so stark abgewinkelt sein, dass sie bei durchgestreckten Beinen aneinander reiben. Die Abweichungen der Beinachsen verursachen eine ungleiche Lastverteilung im Kniegelenk, die zu Ganganomalien, arthrotischen Veränderungen und Schmerzen führen.

Fussdeformationen

Typische Deformitäten bei MPS sind Spitzfuß, Rückfußvalgus, Vorfußadduktus mit Vorwölbung des ersten Mittelfußköpfchens und mit Krallenzehen. Auch ein Hohlfuß und Klumpfußdeformitäten werden beobachtet. Ein Valgus des Sprunggelenkes tritt ebenfalls recht häufig auf. Die Hüft- und Knieproblematik zusammen mit einer verkürzten Achillessehne führen oft dazu, dass die Kinder auf den Zehenspitzen gehen. Die Kombination aus Gelenkkontrakturen, Fußanomalien, Hüftgelenkdysplasie und X-Beinstellung kann einen erheblichen Einfluss auf das Gangbild und die Fähigkeit zum selbstständigen Gehen haben.

Kyphose, Skoliose, Gibbus

Die Wirbelsäule kann bei nahezu allen MPS-Formen verkrümmt sein. Das Spektrum reicht von leichten Skoliosen, Kyphosen und Kyphoskoliosen (bei attenuierten MPS-Formen) bis zum Gibbus bei schweren Verläufen. In einer MPS-I-Registerstudie wiesen etwa 70 % der Patienten mit dem Hurler-Phänotyp eine Kyphose oder einen Gibbus auf, aber nur 33,5 % der Hurler-Scheie- und 21,3 % der Scheie-Patienten. Bei den Hurler-Patienten zeigte sich ein Gibbus im Median schon früh im ersten Lebensjahr. Bei Hurler-Scheie trat die Wirbelsäulenverkrümmung erst im medianen Alter von 4,6 Jahren auf.

Rückenmarkkompression

Im späteren Verlauf der Erkrankung sind Probleme mit der Halswirbelsäule bei Kindern mit MPS extrem häufig. Da diese lebensbedrohlich sein können, ist hier eine sorgfältige Überwachung wichtig. Insbesondere bei MPS IV kann die Hypermobilität der Gelenke zu einer Instabilität im Bereich der beiden ersten Halswirbel führen mit dem Risiko einer Kompression des Rückenmarkes. Auch bei MPS VI und bei schwerer unbehandelter MPS I (M. Hurler) wurde über eine atlantoaxiale Instabilität berichtet. Bei attenuierten Formen von MPS I kann es ebenfalls zu einer Einengung des Wirbelkanals im Halsbereich kommen und sich eine zervikale Myelopathie entwickeln. Die Symptome durch die Einengung des Rückenmarkes sind meist schleichend, vielfältig und unspezifisch.

Karpaltunnelsyndrom und Triggerfinger

Bei MPS I, II und VI sind ein häufig beidseitig auftretendes Karpaltunnelsyndrom (KTS) und Triggerfinger oft zu beobachten. Ursache sind Ablagerungen von GAG-Speichermaterial um die Sehnen und Bänder herum und eine daraus resultierende Kompression des Medianusnerven. Bei den attenuierten MPS-I-Formen entwickelt sich ein KTS erst spät im Verlauf der Erkrankung: Im Median sind Scheie-Patienten, die zu über 50 % von einem KTS betroffen sind, bei Symptombeginn 12,5 Jahre alt. Hurler-Scheie-Patienten sind zu etwa 28 % betroffen und bei Symptombeginn 7,4 Jahre alt. Frühsymptome des Karpaltunnelsyndroms können Schmerzen, Kribbeln und Taubheitsgefühle der Hände sein, die zu Problemen mit der Feinmotorik führen können. Häufig ist die Entstehung eines Karpaltunnelsyndroms jedoch so schleichend, dass diese typischen klinischen Zeichen fehlen. Da ein KTS in der Kindheit nur selten vorkommt, kann dies ein Hinweis auf das Vorliegen einer MPS sein.

Was den Verdacht auf eine attenuierte MPS lenken kann

Ein wesentliches Merkmal aller MPS-Formen sind Wachstumsstörungen und Kleinwüchsigkeit. Allerdings wird im ersten Lebensjahr sowohl bei schweren als auch bei attenuierten Phänotypen ein normales oder sogar ein verstärktes Wachstum beobachtet. Erst ab einem Alter von zwei Jahren kann beispielsweise die Körpergröße bei den attenuierten MPS-I-Formen von den Referenzkurven abweichen. Ab einem Alter von etwa neun Jahren können die Patienten mit ihrer Körpergröße unter die dritte Perzentile fallen. Zudem ist bei allen Formen der attenuierten MPS der fehlende oder nur minimal ausgeprägte pubertäre Wachstumsschub von 2 bis 5 cm gegenüber den im Normalfall zu erwartenden 20 bis 25 cm auffällig.

Diagnosealgorithmus I – ausgehend von Wachstumsstörungen

Ausgehend von einer Wachstumsverzögerung haben französische Pädiater folgenden Diagnosealgorithmus entwickelt, mit dem die attenuierten Formen von MPS I, II, IV, VI, VII und IX frühzeitig erkannt werden können. Die wichtigste Aussage dieses Algorithmus: Sobald sich ein abweichendes Wachstumsmuster zeigt, das sich weder durch die erhobene Anamnese noch durch die Größe der Eltern erklären lässt, und zugleich die Gelenkbeweglichkeit eingeschränkt ist, sollte der Verdacht auf eine zugrundeliegende Stoffwechselerkrankung wie MPS aufkommen. Die wichtigsten radiologischen Befunde sind in der Bildgebung von Hüfte, Wirbelsäule und Händen zu sehen, auch wenn diese bei den attenuierten Formen erwartungsgemäß nicht so eindeutig ausfallen wie bei den schweren Formen der Erkrankung. Sobald ein klinischer Verdacht auf MPS oder eine andere Stoffwechselerkrankung besteht, wird empfohlen, den Patienten an einen Spezialisten für Stoffwechselstörungen zu überweisen.

Diagnosealgorithmus II – ausgehend von Gelenkkontrakturen

Die Eltern sind meist die ersten, die Gelenkanomalien bei ihrem Kind bereits im Alter von zwei bis vier Jahren bemerken, insbesondere in den Schultern, Händen und Knien. Das Kind hat oft Schwierigkeiten beim Heben der Arme und Bewegen der Schultern, z. B. beim Anziehen. Es verhält sich ungeschickt beim Halten eines Bleistiftes oder hat Probleme, seine Füße flach aufzusetzen und Schuhe zu tragen. Manche Kinder klagen auch beim Gehen über Schmerzen in den Hüften und im Rücken. Die körperliche Untersuchung zeigt eine eingeschränkte Gelenkfunktion und verringerten Bewegungsumfang (Range of Motion, ROM). Meist ist die Streckung von Fingern, Ellenbogen, Schultern, Hüften und Knien beeinträchtigt, während die Beugung der Gelenke oft erhalten bleibt. Allerdings sind die Symptome bei Patienten mit der attenuierten Verlaufsform der MPS oft subtil und unspezifisch. Die früh auftretenden Gelenkkontrakturen führen häufig zur Verwechslung mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen. Ein internationales Expertenteam hat daher – ausgehend von Gelenkkontrakturen/Gelenksteifigkeit – einen weiteren Algorithmus entwickelt, der bei der Differenzialdiagnose von MPS hilfreich sein kann. Die wichtigste Aussage dieses Algorithmus: Progrediente Gelenkkontrakturen und Gelenksteifigkeit in Abwesenheit von systemischen und lokalen Entzündungszeichen sollten immer den Verdacht auf eine MPS-Erkrankung wecken, insbesondere in Verbindung mit jedem anderen charakteristischen Anzeichen oder Symptom von MPS. Verdachtsfälle sollten an ein Stoffwechselzentrum überwiesen werden.

Bei MPS-Verdacht: Abklärung mittels Enzymtest

Zur Erhärtung des MPS-Verdachts sollte die Enzymaktivität des defizienten Enzyms im Blut gemessen werden, z. B die Alpha-L-Iduronidase bei MPS I. Die für den Enzymassay erforderliche Blutprobe kann als Screeningtest in der Arztpraxis einfach auf eine Trockenblutkarte (Dried Blood Spot, DBS) appliziert werden. Dazu werden wenige Tropfen Blut (aus Fingerbeere, Ferse oder Ohrläppchen beim Kind) auf eine spezielle Karte aus Filterpapier aufgetropft. Sobald das Blut getrocknet ist, kann die Karte an ein spezialisiertes Labor gesendet werden, wo die Analyse der Blutproben durchgeführt wird. Zur Diagnosesicherung wird in der Regel noch eine Enzymaktivitätsmessung in EDTA-Blut und ein genetischer Test durchgeführt, mit dem die jeweilige MPS-Form zweifelsfrei bestimmt werden kann. Bei Bestätigung der Verdachtsdiagnose sollte der Patient umgehend an ein spezialisiertes Stoffwechselzentrum überwiesen werden

Fazit

Die Variabilität und Heterogenität der einzelnen Mukopolysaccharidosen ist groß. Dennoch weisen alle MPS-Formen mehr oder weniger starke radiologische Knochen- und Gelenkveränderungen auf (Dysostosis multiplex), die ein wichtiges diagnostisches Merkmal darstellen. Die Verdachtsdiagnose wird in der Regel durch eine Kombination von klinischen und auch röntgenologischen Merkmalen gestellt. Bei einer Wachstumsminderung sowie bei eingeschränkter Gelenkmobilität ohne inflammatorische Anzeichen auch in Kombination mit weiteren typischen Symptomen sollte eine MPS in Betracht gezogen und über eine spezifische Enzymdiagnostik mit anschließender Genetik abgeklärt werden. Bei Bestätigung der Verdachtsdiagnose sollte der Patient umgehend an ein spezialisiertes Stoffwechselzentrum überwiesen werden. Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, da mit einer frühen und adäquaten Behandlung der Krankheitsverlauf bei der Mehrzahl der bekannten MPS-Formen positiv beeinflusst werden kann.

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