Idiopathische überaktive Blase (iOAB) – Update 2024

Bei der idiopathischen überaktiven Blase (engl.: idiopathic Overactive Bladder, iOAB) handelt es sich um einen weitverbreiteten Symptomenkomplex mit dem Kernsymptom imperativer Harndrang mit oder ohne Dranginkontinenz, begleitet zumeist von Pollakisurie und Nykturie. Die Erkrankung führt häufig zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität. Sie stellt zudem eine hohe gesundheitsökonomische Belastung dar. Bei geriatrischen Patienten ist die Harninkontinenz Teil eines geriatrischen Syndroms.

Bei der Diagnostik geht es vor allem darum, andere Ursachen der Symptomatik auszuschließen. Die therapeutische Palette reicht von allgemeinen Maßnahmen der Lebensführung über ein Blasen- und Beckenbodentraining bis hin zu einer Pharmakotherapie und minimalinvasiven Verfahren wie der Injektion von Botulinumtoxin A und der Neuromodulation. Die prophylaktische Gabe von Antibiotika in Rahmen von minimalinvasiven Verfahren sollte den Prinzipien des Antibiotic Stewardship folgen. Chirurgische Eingriffe stellen eine Ultima ratio dar.

Behandlungsziel ist die Reduktion des imperativen Harndranges sowie der begleitenden Symptome und damit einhergehend die Verbesserung der diesbezüglichen Lebensqualität.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709124067600014
Zeitraum 15.07.2024 - 14.07.2025
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte 4 Punkte (Kategorie D)
Zielgruppe Ärzte
Referent Dr. med. Dirk Potempa, Garmisch-Patenkirchen
Dr. med. Stefan Keller, Garmisch-Patenkirchen
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Fachartikel
Lernmaterial Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG
Bewertung 4.4 (543)

Leitlinienübersicht

Für diesen Kurs wurden mehrere aktuelle Leitlinien berücksichtigt. Dazu gehören die 2022 publizierten Europäischen Leitlinien „Non-neurogenic Femal LUTS” (LUTS, lower urinary tract symptoms) und „Management of Non-neurogenic Male LUTS” der European Association of Urology (EAU), die die 2019 veröffentlichten „Guidelines on Urinary Incontinence in Adults” ablösen. Ebenfalls Eingang gefunden hat die Anfang 2024 veröffentlichte S2k-Leitlinie zur Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) hat Ende 2021 die erste S2k-Leitlinie zum Thema iOAB veröffentlicht, die die vorigen inhaltsnahen Leitlinien „Belastungsinkontinenz der Frau” und „Die überaktive Blase” zusammenführt. An der Erstellung der Leitlinie waren 32 Autorinnen aus elf Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt. Berücksichtigt wurde zudem die interdisziplinäre S3-Leitlinie „Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten”, die 2017 aktualisiert wurde. Das Update 2018 der S3-Leitlinie „Strategien zur Sicherung rationaler Antibiotika-Anwendung im Krankenhaus”, federführend herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI), diente als Referenz für Hinweise zum rationalen Umgang mit Antibiotika im Rahmen des Antibiotic Stewardship (ABS).

Einleitung

Die idiopathische überaktive Blase (engl. idiopathic overactive bladder, iOAB) wird allgemein auch als „Reizblase” oder „schwache Blase” bezeichnet. Die Störung ist häufig schambesetzt und führt dadurch oft erst bei hohem Leidensdruck zur Arztkonsultation. Die Behandlung kann dabei eine Herausforderung im klinischen Alltag darstellen, da konservative Maßnahmen einschließlich der Pharmakotherapie häufig nicht zu einer adäquaten Besserung dieses Symptomenkomplexes führen. Es gilt deshalb, in jedem Einzelfall die für den Patienten optimale Lösung, ggf. einschließlich interventioneller Maßnahmen, zu finden.

Definition

Unter dem Begriff der iOAB wird nach der Definition der internationalen Kontinenzgesellschaft (International Continence Society, ICS) eine chronische Erkrankung der Blase klassifiziert, die vornehmlich durch einen imperativen Harndrang gekennzeichnet ist. Sie kann mit und ohne Harninkontinenz auftreten; entsprechend wird sie als „iOAB wet” (iOAB mit Harninkontinenz) bzw. als „iOAB dry” (iOAB ohne Harninkontinenz) bezeichnet. Die iOAB ist abzugrenzen von der neurogenen überaktiven Blase. Während Letztere durch neurologische Erkrankungen wie zum Beispiel Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Apoplex oder Querschnittslähmung bedingt ist, sind bei der iOAB keine ursächlichen Erkrankungen festzustellen. Die überaktive Blase geht typischerweise mit häufigem Wasserlassen (Pollakisurie) und/oder mit der Notwendigkeit nächtlichen Wasserlassens (Nykturie) einher. Hinzu kommt ein imperativer Harndrang, der sich nur schwer unterdrücken lässt. Die Pollakisurie ist definiert als eine gesteigerte Frequenz von Miktionen innerhalb von 24 Stunden. Eine Nykturie besteht beim ein- oder mehrmaligen nächtlichen Aufwachen zum Wasserlassen.

Formen der Harninkontinenz

Bei der Harninkontinenz werden im Wesentlichen drei Formen unterschieden:
  • Eine Dranginkontinenz (urge urinary incontinence) liegt vor bei ungewolltem Harnverlust nach plötzlichem intensiven Harndrang, verursacht durch unwillkürliche Detrusorkontraktionen während der Blasenfüllung und/oder einhergehend mit dem Gefühl der plötzlichen Druckzunahme in der Harnblase.
  • Eine Belastungs- oder auch Stressinkontinenz (stress urinary incontinence) besteht, wenn ein erhöhter abdomineller Druck, beispielsweise beim Heben schwerer Lasten oder beim Husten, zu unwillkürlichem Harnverlust führt.
  • Eine Mischinkontinenz (mixed urinary incontinence) liegt vor, wenn Drang- und Belastungsinkontinenz zeitgleich vorliegen.

Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten

Bei geriatrischen Patienten, vor allem wenn sie multimorbide und gebrechlich sind, ist die Harninkontinenz weniger ein Symptom einer Erkrankung als ein Teil eines „geriatrischen Syndroms”, bei dem sich mehrere zeitgleich auftretende Gesundheitsstörungen gegenseitig ungünstig beeinflussen können. Auch die bei diesen Patienten häufig vorhandene Polymedikation kann eine Harninkontinenz verstärken. Blasenentleerungsstörungen und Harninkontinenz sind häufig mit Darmfunktionsstörungen vergesellschaftet. Eine Obstipation kann zu einer Verkleinerung des Blasenvolumens führen. Bei ungefähr einem Drittel der geriatrischen Patienten findet sich eine eingeschränkte Kontraktionsfähigkeit des Detrusors, der zu relevanten Restharnmengen, einer erhöhten Infektionsgefahr und einer gesteigerten Miktionsfrequenz führt.

Epidemiologie

Die Prävalenz der iOAB wurde in mehreren Studien in den USA und in Europa untersucht. In der erwachsenen Bevölkerung liegt sie bei 16 bis 17 % und nimmt mit steigendem Lebensalter zu. Frauen sind insgesamt etwas häufiger betroffen als Männer. In einer populationsbasierten Querschnittsbefragung von über 9000 Männern und mehr als 10.000 Frauen im Alter über 40 Jahre in den USA gaben sogar 27 % der männlichen und 43 % der weiblichen Teilnehmer an, zumindest „manchmal” an Symptomen einer überaktiven Blase zu leiden.

Auswirkungen auf die Lebensqualität

Menschen mit einer überaktiven Blase erleben das Syndrom meist als sehr belastend und sind in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt. Die meisten Betroffenen entwickeln Bewältigungsstrategien, um die Symptome ansatzweise in den Griff zu bekommen und nach außen verbergen zu können. Mindestens 70 % der Menschen mit iOAB haben solche Strategien erprobt. Die Einbußen an Lebensqualität betreffen die körperliche und psychische Ebene, die sexuelle Aktivität und das Sozialleben. Die Auswirkungen betreffen den privaten und beruflichen Lebensbereich; zu den Beschwerden gehören:
  • Verlust der Kontrolle und des Selbstwertgefühls
  • Sozialer Rückzug aus Sorge, der Urinverlust und Uringeruch könne von Außenstehenden bemerkt werden
  • Entwicklung einer depressiven Symptomatik
  • Vermeidungsverhalten mit Aktivitätseinschränkungen, z. B. bezüglich sportlicher Aktivität
  • Beeinträchtigung der Sexualfunktion infolge des Gefühls mangelnder Attraktivität und Scham sowie der Angst vor Urinabgang während des Geschlechtsverkehrs
Viele Menschen mit iOAB zögern eine Arztkonsultation hinaus. Gründe hierfür können sein:
  • Eine nicht stark genug ausgeprägte Symptomatik
  • Tabus und Scham, über die Störung zu sprechen
  • Die Neigung, die Symptome zu verleugnen
  • Mangel an Informationen über die iOAB
Zur Überwindung solcher Faktoren und zum Arztbesuch kommt es oft erst bei hoher Belastung durch die Symptomatik und bei erheblicher Einschränkung der Lebensqualität.

Gesundheitsökonomische Aspekte

An einer iOAB leiden in Deutschland schätzungsweise 6,5 Millionen Erwachsene im Alter von über 40 Jahren. Hiervon weisen fast 2,2 Millionen eine Harninkontinenz auf. Es besteht ein wesentliches Risiko für die Entwicklung von Komplikationen und Folgeerkrankungen wie Harnwegsinfekten, Hautinfektionen, Stürzen, Frakturen und Depressionen. Die Erkrankung verursacht Kosten von etwa 4 Milliarden Euro pro Jahr und ist damit hinsichtlich der gesundheitsökonomischen Konsequenzen vergleichbar mit Diabetes mellitus und Demenzerkrankungen. Die iOAB verursacht etwa 6 % der Behandlungskosten in der Urologie. Der größte Teil der Kosten entfällt mit 45 % auf die Pflege, gefolgt von Komorbiditäten (19 %), Hilfsmitteln (17 %) und Arztbesuchen (16 %). Nur 2 % werden durch das Verschreiben von Arzneimitteln verursacht. Das Krankheitsbild führt dabei zu einer erheblichen ökonomischen Belastung für die Krankenkassen, die Pflegeversicherung und die Patienten selbst.

Neurophysiologie der Blasenkontrolle

Die Steuerung der Harnblasenfunktion beruht auf der Übermittlung afferenter Signale von Dehnungs- und Volumenrezeptoren an spinale und höher gelegene Zentren. Je nach Füllungszustand werden dabei verschiedene Regelkreise aktiviert. In der Füllphase kommt es zu einer Kontraktion des quer gestreiften Schließmuskels (somatische Innervation des Sphincter externus), einer Kontraktion des glatt muskulären Schließmuskels (sympathische Innervation des Sphincter internus) und einer Inhibition der Detrusoraktivität (sympathische Innervation). Die Miktion wird ermöglicht durch eine Erschlaffung des quer gestreiften Schließmuskels (somatische Innervation), durch Erschlaffung des glatt muskulären Schließmuskels und Öffnung des Harnblasenhalses (sympathische Innervation) sowie durch eine Detrusorkontraktion (parasympathische Innervation). An der Blasenkontrolle beteiligt sind verschiedene Neurotransmitter und Neuropeptide wie Acetylcholin (parasympathisches Nervensystem), Noradrenalin (sympathisches Nervensystem) und weitere Mediatoren wie Adenosintriphosphat (ATP), Stickoxid und 5-Hydroxytryptophan (Serotonin).

Pathophysiologie der iOAB

Die Kontrolle der Blasenfunktion ist komplex. An der Regulation der Harnspeicherung und Harnentleerung sind mehrere Hirnareale beteiligt sowie verschiedene Neurotransmitter und -peptide, darunter Acetylcholin und Noradrenalin. Die neuronale Steuerung der Harnblase erfolgt über afferente, efferente und zentrale Bahnen. Die Pathophysiologie der iOAB hat vielschichtige Ursachen, die Gegenstand intensiver Erforschung sind und zur Erarbeitung unterschiedlicher Hypothesen geführt haben. Beteiligt sind neurogene Faktoren wie beispielsweise ein Ungleichgewicht hemmender und erregender Impulse im ZNS sowie auch muskuläre Einflüsse, zum Beispiel im Zusammenhang mit Alterungsprozessen. Ebenfalls diskutiert werden Ursachen auf der Ebene des Urothels, wie etwa funktionelle Veränderungen der urothelialen Rezeptoren. Funktionell kann somit die Ursache des iOAB-Syndroms in einer verstärkten afferenten Aktivität bestehen, was zu einem Ungleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Reizen führt. Die afferenten Signale gehen vom Urothel, Suburothel und dem glatten Detrusormuskel aus und können unter anderem durch Acetylcholin beeinflusst werden. Eine erhöhte Ausschüttung von Transmittern kann durch die Verstärkung der afferenten Signale während der Urinspeicherung zur iOAB beitragen. Eine verminderte suprapontine Hemmung kann zudem eine erhöhte Sensitivität für Acetylcholin bedingen und somit das Ungleichgewicht zwischen hemmenden und erregenden Impulsen verstärken.

Anamneseerhebung

Zur Basisdiagnostik der iOAB gehört eine umfassende Anamnese, ggf. mithilfe entsprechender Symptomfragebögen. Sie soll enthalten:
  • Beginn und Verlauf sowie Schwere der Symptomatik
  • Miktionen tagsüber/nachts, Inkontinenzepisoden situationsabhängig sowie Anzahl der Vorlagen
  • Trinkmenge und Zeit (auch unter Berücksichtigung der Schlafenszeit)
  • Vorliegen möglicher zusätzlicher Defäkationsprobleme Angeborene urogenitale oder (erworbene) metabolische (z. B. Diabetes mellitus) Erkrankungen
  • Chirurgische Eingriffe im kleinen Becken, gynäkologische Komplikationen, Geburtstraumen
  • (Rezidivierende) Harnwegsinfekte
  • Risikofaktoren für eine iOAB (Adipositas, Rauchen) Medikamentenanamnese
  • Soziale Anamnese
  • Bei geriatrischen Patienten: Beurteilung der Mobilität und der kognitiven Funktion
Patienten, die eine Überweisung zu einem Spezialisten benötigen, sind insbesondere solche, bei denen Blasen- und Beckenschmerzen, Hämaturie, rezidivierende Harnwegsinfekte, kontinuierlicher Urinverlust, eine neurologische Grunderkrankung oder ein Z. n. Beckenoperation vorliegt.

Diagnostisches Vorgehen

Anschließend erfolgt eine körperliche Untersuchung einschließlich der Untersuchung des Urogenitaltraktes, einer vaginalen oder rektalen Untersuchung. Die urogynäkologische Untersuchung erfolgt in Steinschnittlage mit geteilten Spekula in Ruhe und beim Pressen. Auf Veränderungen des äußeren Genitales (z. B. Vulvaatrophie) und auf das Vorliegen einer genitalen Senkung ist zu achten. Außerdem sollte eine fokussierte neurologische Untersuchung mit Überprüfung der pelvinen Reflexe vorgenommen werden. Zudem ist eine Urinanalyse angezeigt, um einen Harnwegsinfekt auszuschließen und Begleitpathologien, wie z. B. eine Mikrohämaturie, zu erkennen. Mittels Ultraschalluntersuchung des Harntraktes lassen sich Komplikationen wie Blasensteine ausschließen. Die sonografische Restharnmessung ist hierbei obligat. Zur Abgrenzung einer neurogenen OAB kann eine Urodynamik (Blasendruckmessung) erforderlich sein.

Miktionstagebücher

Der Einsatz von Miktionstagebüchern zur objektiven Erfassung von Miktionsfrequenz und Miktionsvolumina wird in den Leitlinien ausdrücklich empfohlen. Dabei wird der Patient aufgefordert, Miktionen während des Tages wie auch in der Nacht einzutragen und ggf. auch Angaben zum Trinkvolumen, zum Miktionsvolumen, zur 24-Stunden-Gesamtharnmenge, zum nächtlichen Harnvolumen sowie zu Drang- und Inkontinenzepisoden und zur Zahl der verwendeten Vorlagen zu machen. Es gibt vorgedruckte Miktionstagebücher, die der Patient nutzen kann und die zumindest über drei Tage ausgefüllt werden sollten. Eine Tagebuchdokumentation über drei Tage ist aussagekräftiger als eine Durchführung für lediglich 24 Stunden. Bei geriatrischen Patienten ist abhängig von der kognitiven Funktion und der motorischen Fähigkeiten häufig die Unterstützung durch pflegende Angehörige oder Pflegepersonal notwendig.

Bewertung der Lebensqualität

Ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik ist darüber hinaus das Erfassen der Lebensqualität des Patienten und der Beeinträchtigungen durch die iOAB. Hierzu eignen sich standardisierte Fragebögen zur Erfassung des Schweregrades der Symptomatik. Dazu gehören Patientenfragebögen, anhand derer Symptom-Scores erfasst werden, sowie eine Messung von patientengerichteten Zielgrößen (Patient-reported outcome measures) und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Health-related quality of life, HRQoL). Zum Einsatz kommen unter anderem:
  • ICIQ-OABqol (International Consultation on Incontinence Questionnaire Overactive Bladder Module), ein Fragebogen zur Erfassung der individuellen Symptomatik sowie der Lebensqualität von Patienten mit iOAB
  • ICIQ-MLUTS, ICIQ-FLUTS, geschlechtsspezifische Fragebögen der ICIQ zur Erfassung der Auswirkungen von Symptomen im unteren Harntrakt auf die Lebensqualität
  • KHQ (Kings-Health-Fragebogen) zum Einfluss von Symptomen im Bereich des unteren Harntraktes sowie einer Harninkontinenz auf die Lebensqualität
  • SF-36 (Short Form 36), ein aus 36 Fragen bestehender allgemeiner Gesundheitsfragebogen, der eine Beurteilung der gesundheitsspezifischen Lebensqualität erlaubt
Allerdings existiert aktuell keine Evidenz, dass der Einsatz von Fragebögen zur Lebensqualität sich vorteilhaft auf die Behandlungsergebnisse auswirkt.

Differentialdiagnostik

Die Internationale Kontinenzgesellschaft (ICS) fordert vor der Diagnosestellung einer iOAB den Ausschluss stoffwechselbedingter sowie lokaler pathologischer oder endokriner Faktoren als potenzielle Ursache der Symptomatik. Auszuschließen sind demnach insbesondere:
  • Benigne obstruktive Prostatahyperplasie/Prostatakarzinom beim Mann
  • Genitalprolaps oder atrophische postmenopausale Vaginitis bei der Frau
  • Anderweitige subvesikale Obstruktion
  • Harnblasenstein
  • Harnwegsinfekt
  • Interstitielle Zystitis
  • Diabetes mellitus
Ergeben sich im Rahmen der Basisdiagnostik Hinweise auf weitere Pathologien oder versagt eine konservative Therapie, kann eine weiterführende Diagnostik angezeigt sein. Das Spektrum reicht von urodynamischen Untersuchungen und der Zystoskopie bis hin zu bildgebenden Verfahren. Die Zystoskopie gehört zwar nicht zu den Basisuntersuchungen, kann aber nützlich sein, um einen Blasentumor, Steine oder seltener Fremdkörper auszuschließen.

Sonomorphologie

Bei Patienten mit iOAB sollten stets differenzialdiagnostisch morphologische Ursachen ausgeschlossen werden. Hierzu hat sich die sonomorphologische Beurteilung als sehr nützlich erwiesen. Mögliche morphologische Veränderungen, die sonografisch entdeckt werden können, sind insbesondere:
  • Blasensenkung
  • Senkung des zentralen Kompartimentes
  • Tumoren
  • Divertikel der Blase oder der Urethra
Die Beurteilung der Blasenwand beinhaltet:
  • Die Lageveränderungen beim Pressen (Hinweis auf Pulsationsdivertikel)
  • Eine asymmetrische Blasenwandverdickung (Hinweis auf Tumor)
  • Blasenwanddefekte (Divertikel)
  • Dynamische Veränderungen (Ureterozele)
  • Symmetrische Verdickung der gesamten Blase bei Detrusorüberaktivität und Blasenauslassobstruktion (z. B. bei Harnröhrenstriktur)

Harnwegsinfektionen bei iOAB

Harnwegsinfektionen sind im Rahmen der Therapie von Blasenfunktionsstörungen zu berücksichtigen und ausreichend zu behandeln. Das Vorliegen eines Harnwegsinfektes verschlechtert meist die Symptome, wenn eine Harninkontinenz vorliegt. Diagnostisch kommen der Streifentest, ggf. eine Urinmikroskopie (Urinsediment) und Urinkultur zum Einsatz. Eine untere Harnwegsinfektion (Zystitis) wird angenommen, wenn sich die Symptome nur auf den unteren Harntrakt begrenzen: dazu gehören Schmerzen beim Urinieren (Algurie), imperativer Harndrang, Pollakisurie und Druckschmerz oberhalb der Symphyse. Eine obere Harnwegsinfektion (Pyelonephritis) wird dann angenommen, wenn Flankenschmerz, ein klopfschmerzhaftes Nierenlager und/oder Fieber (>38 °C) bestehen. Eine Harnwegsinfektion wird als unkompliziert eingestuft, wenn im Harntrakt keine funktionellen und anatomischen Anomalien, keine relevanten Nierenfunktionsstörungen und keine relevanten Vor- oder Begleiterkrankungen vorliegen, die eine Harnwegsinfektion oder gravierende Komplikationen begünstigen. Komplizierende Faktoren sind zum Beispiel Niereninsuffizienz, Entleerungsstörungen der Harnblase, ein entgleister oder schlecht eingestellter Diabetes mellitus und der Einsatz eines Harnblasenkatheters. Eine asymptomatische Bakteriurie ist im Allgemeinen nur bei geplanten endothelverletzenden Eingriffen behandlungspflichtig.

Häufigkeit von Harnwegsinfektionen

Die akute Zystitis ist bei Frauen über 80 Jahre am häufigsten. Als eine Ursache kommt ein erhöhter Restharn infrage, der auch als Risikofaktor für rezidivierende Harnwegsinfekte angesehen wird. Die Prävalenz einer asymptomatischen Bakteriurie beträgt bei über 70-jährigen Frauen zwischen 16 bis 50 %. Menschen mit Diabetes mellitus haben im Vergleich zu Gesunden ein fast 25-fach erhöhtes Risiko, an einer Harnwegsinfektion zu erkranken. Bei Diabetespatienten ohne relevante Begleiterkrankungen und ausreichend eingestellter Stoffwechsellage können Harnwegsinfektionen als unkompliziert angesehen werden. Eine asymptomatische Bakteriurie wird bei Diabetespatienten etwa zweimal häufiger beobachtet als bei Stoffwechselgesunden. Eine asymptomatische Bakteriurie geht einer Harnwegsinfektion häufig voraus.

Therapeutisches Spektrum

Die Behandlung umfasst Allgemeinmaßnahmen, medikamentöse Therapie, minimalinvasive Therapien und invasive chirurgische Eingriffe. Der Therapieansatz muss den individuellen Gegebenheiten des Patienten angepasst werden. Zur den Allgemeinmaßnahmen gehören Gewichtsreduktion, Blasen- und Beckenbodentraining, Veränderung des Trinkverhaltens, Reduktion des Kaffeekonsums und Nutzung von Inkontinenzprodukten bei bestehender Harninkontinenz. Die Pharmakotherapie basiert vor allem auf dem Einsatz von Anticholinergika (auch als Antimuskarinika bezeichnet). Bei Frauen kann eine iOAB Ausdruck postmenopausal abfallender Östrogenspiegel sein. In solchen Fällen kann mit einer dauerhaften lokalen Östrogenanwendung ein Therapieerfolg erzielt werden. Bleibt der erwartete Therapieerfolg aus, können minimalinvasive Verfahren zur Anwendung kommen wie die Injektion von Onabotulinumtoxin A und die Neuromodulation. Operative Maßnahmen sind lediglich in schweren, anders nicht zu beherrschenden Fällen indiziert.

Behandlungsziele

Behandlungsziele sind die Reduktion des imperativen Harndranges sowie der begleitenden Symptome und damit einhergehend die Verbesserung der gesundheits-bezogenen Lebensqualität.

Versorgungsrealität

Eine relevante Zahl der Patienten mit einer iOAB erhält keine adäquate Therapie. So gaben bei einer Umfrage bei Männern und Frauen mit iOAB nur 17 % der betroffenen Männer sowie lediglich 29 % der Frauen an, aufgrund ihrer Symptome behandelt zu werden.

Konservative Therapie

Die Erstlinientherapie der iOAB erfolgt konservativ. Sie umfasst verhaltens- sowie physiotherapeutische Maßnahmen. Zu den Veränderungen des Lebensstiles gehören allgemeine Maßnahmen wie eine Gewichtsabnahme sowie eine gleichmäßig über den Tag verteilte und zum Abend reduzierte Flüssigkeitsaufnahme. Eine Reduktion der täglichen Flüssigkeitsaufnahme von etwa 25 % kann die Symptome einer iOAB lindern, allerdings ist diese Praxis umstritten. Der Verzicht oder ein reduzierter Konsum von Kaffee, Nikotin und scharfen Gewürzen kann hilfreich sein. Es ist zudem auf eine regelmäßige Darmentleerung zu achten, da eine Obstipation durch die enge anatomische Lagebeziehung die Symptomatik verstärken kann. Beim Blasentraining lernt der Patient, das Intervall zwischen den Miktionen zu vergrößern. Ebenso kann ein Beckenbodentraining dazu beitragen, die Kontrolle über die Blasenfunktion zu verbessern und auch habituell eingefahrene Miktionsmuster zu durchbrechen.

Besonderheiten bei geriatrischen Patienten

Bei geriatrischen Patienten ist die Kontinenz nicht nur von der Funktion des unteren Harntraktes, sondern auch von Begleiterkrankungen, Medikamenteneinnahme, Mobilität und Beweglichkeit der Hände und der geistigen Verfassung abhängig. Die Elimination oder Optimierung von bestehenden Risikofaktoren sind therapeutisch relevant. Im Rahmen einer Inkontinenzbehandlung sollte auch eine Obstipation behandelt werden. Diuretika sollten, wenn möglich, unter Vermeidung von schnell wirksamen Substanzen in retardierter Form verabreicht werden. Die Gabe sollte an das individuelle Miktionsmuster im Tagesverlauf angeglichen werden. Das Blasen- bzw. Toilettentraining verlangt die aktive Beteiligung von pflegenden Angehörigen, Partnern oder Pflegekräften.

Pharmakotherapie bei Anticholinergika

Patienten, die nicht ausreichend auf verhaltens- oder physiotherapeutische Ansätze ansprechen und deren Symptome ihre Lebensqualität wesentlich beeinträchtigen, wird üblicherweise eine Pharmakotherapie angeboten. Am häufigsten kommen dabei Anticholinergika zum Einsatz. Sie werden zumeist oral eingenommen oder transdermal appliziert, wie beispielsweise Oxybutynin. Zu den anticholinergen (bzw. antimuskarinergen) Substanzen gehören Trospiumchlorid, Oxybutynin, Propiverin, Tolterodin, (Des-)Fesoterodin, Darifenacin und Solifenacin. Anticholinergika binden an die muskarinergen Rezeptoren glatter Muskulatur und hemmen damit die Wirkung des Neurotransmitters Acetylcholin. Durch die Bindung an muskarinerge Rezeptoren des Detrusormuskels verhindern Anticholinergika die Interaktion von Acetylcholin mit diesen Rezeptoren und inhibieren somit die Kontraktion. Die Substanzen wirken hauptsächlich während der Speicherphase der Blasenfunktion, steigern die funktionelle Blasenkapazität und verringern den maximalen Detrusordruck. In der Folge kommt es zu einer Reduktion der Miktionsfrequenz und der Inkontinenzepisoden, wobei die absoluten Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den Anticholinergika mit weniger als einer halben Inkontinenz-, Drang- oder Miktionsepisode pro Tag gering sind. Es existieren keine Belege, dass sich Anticholinergika untereinander in der Wirksamkeit unterscheiden. Die Nebenwirkungen von Immediate-Release-Formulierungen sind höher als bei Extended-Release-Formulierungen. Bei unzureichender Wirksamkeit kann ein Wirkstoffwechsel innerhalb der Arzneiklasse oder eine Änderung der Darreichungsform (z. B. von oral auf transdermal) versucht werden.

Potenzielle Nebenwirkungen

Da muskarinerge Rezeptoren nicht nur in der Blase, sondern in vielen anderen Organen vorhanden sind, ist das Spektrum potenzieller Nebenwirkungen von Anticholinergika umfangreich. Dazu gehören:
  • Gastrointestinale Störungen: im Wesentlichen Mundtrockenheit (sehr häufig), Übelkeit, Obstipation, abdominelle Schmerzen, Erbrechen und gastroösophagealer Reflux
  • Störungen des Nervensystems: Agitation, Kopfschmerzen, Schwindel, Benommenheit, Desorientiertheit, Halluzinationen, Albträume und Konvulsionen (vorwiegend bei geriatrischen Patienten)
  • Kardiovaskuläre Störungen: Tachykardie und kardiale Arrhythmie
  • Sehstörungen: verschwommenes Sehen, Mydriasis, Augeninnendruckerhöhung, Glaukom, trockene Augen
  • Renale Störungen und Harnwegsstörungen: Harnverhalt
  • Hautstörungen: Gesichtsrötung, trockene Haut und allergische Reaktionen
Anticholinergika können die Symptome der iOAB potenziell verstärken, wenn beispielsweise die Patienten aufgrund der Mundtrockenheit vermehrt trinken. Aufgrund eines möglichen Harnverhaltes sollte unter anticholinerger Therapie initial die Restharnmenge bestimmt werden. Von Nebenwirkungen sind ältere Patienten vermehrt betroffen. Dennoch sind orale Anticholinergika, mit Ausnahme von Oxybutynin, auch bei älteren Patienten mit Komorbiditäten häufig effektiv und insgesamt sicher einsetzbar. Allerdings ist Vorsicht geboten im Falle einer Polymedikation mit anderen Substanzen, die anticholinerge Nebenwirkungen aufweisen. Die sogenannte „anticholinerge Last” ist bei älteren Patienten so gering wie möglich zu halten.

Therapieadhärenz und anticholinerge Last

Die meisten klinischen Studien zu Anticholinergika sind kurz (etwa zwölf Wochen), und es ist davon auszugehen, dass die Therapieadhärenz in der realen Patientenversorgung wesentlich geringer ist als in den Studien. Zu den wichtigsten Gründen für fehlende Therapieadhärenz gehören eine ungenügende wahrgenommene Wirksamkeit, Nebenwirkungen und unrealistische Erwartungen an die Therapie. Die EAU gibt daher eine starke Empfehlung, eine frühe Bewertung der Wirkung und Nebenwirkungen bei Patientinnen mit anticholinerger Therapie vorzunehmen. Vor Einsatz anticholinerger Medikamente müssen bei Polymedikation unbedingt gleichzeitig verabreichte Medikament mit anticholinerger (Neben-)Wirkung identifiziert werden, um die anticholinerge Last der Patienten nicht zu stark zu erhöhen. Dies gilt insbesondere für ältere (≥65 Jahre) und multimorbide Patienten. Eine prospektive Studie, die über fast fünf Jahre durchgeführt wurde und >19.000 ältere Erwachsene einschloss, zeigte, dass eine starke Erhöhung der anticholinergen Last das Risiko für Demenz und Schlaganfall signifikant erhöht. Kiesel und Kollegen entwickelten den ACB-Score (ACB, anticholinergic burden), mit dessen Hilfe die anticholinergen Effekte von in Deutschland zugelassenen Medikamenten eingeschätzt werden können. Um das Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen gering zu halten, soll der Gesamt-Score möglichst <3 betragen.

Pharmakotherapie mit Mirabegron

Der β3-Adrenorezeptor-Agonist Mirabegron führt über die Aktivierung des Sympathikus zu einer Detrusor-Relaxation und zur Vergrößerung der funktionellen Harnblasenkapazität. Die Fachinformation listet folgende Nebenwirkungen als „häufig” auf: Harnwegsinfektion, Kopfschmerzen, Schwindel, Tachykardie, Übelkeit, Obstipation und Durchfall. Die wichtigste Nebenwirkung ist eine Erhöhung des arteriellen Blutdruckes, die mit einer mittleren Häufigkeit von 7,3 % und 13,6 % bei über 75-Jährigen auftritt. Der Blutdruck sollte deshalb vor und während der Therapie mit Mirabegron kontrolliert werden, insbesondere bei Patienten mit bekannter arterieller Hypertonie. Insgesamt ist die Wirksamkeit von Mirabegron und Anticholinergika vergleichbar. Die Mundtrockenheit ist unter Mirabegron aber deutlich geringer ausgeprägt. Mirabegron ist besonders bei geriatrischen Patienten geeignet, die auf eine anticholinerge Therapie ungenügend ansprechen oder diese nicht tolerieren.

Kombinationstherapie mit Mirabegron und Anticholinergika

Die Kombinationstherapie von Mirabegron und einem Anticholinergikum erscheint pharmakologisch sinnvoll. Sie hat zum Ziel, die Wirksamkeit synergistisch zu erhöhen und gleichzeitig die Nebenwirkungsrate gering zu halten. Patienten, die mit 5 mg Solifenacin unzureichend behandelt sind, profitieren eher von der Kombinationstherapie mit 50 mg Mirabegron als von einer Erhöhung der Solifenacin-Dosis. Durch die Kombination von Mirabegron mit Solifenacin konnte im Vergleich zur Monotherapie eine signifikante Verringerung der Drang- und Miktionsepisoden pro Tag dokumentiert werden. Die Inzidenz von Nebenwirkungen war allerdings in der Kombinationsgruppe im Vergleich zu den beiden Monotherapiegruppen erhöht. Bei ungenügender Symptomkontrolle mit einer anticholinergen Monotherapie soll auch bei geriatrischen Patienten mit iOAB zunächst die Kombination eines Anticholinergikums mit Mirabegron erwogen werden, bevor minimalinvasive Therapiemaßnahmen zum Einsatz kommen.

Problem Adhärenz

Die Therapieadhärenz unter Anticholinergika ist insgesamt gering. Bereits nach einem Monat nehmen nur noch 69 % der Patienten die verordnete Medikation ein. Nach drei Monaten sind es nur noch 38 % und nach einem halben Jahr nur noch 18 %. Eine umfangreiche Metaanalyse bestätigte diese Angaben: Die Adhärenz über alle eingesetzten Anticholinergika lag hierbei nach einem Jahr bei nur noch 12 bis 39 %. Nach drei Jahren sank der Wert sogar auf 0 bis 16 %. Häufig genannte Gründe für einen vorzeitigen Therapieabbruch unter Anticholinergika sind eine mangelnde Wirksamkeit sowie intolerable Nebenwirkungen. Mirabegron führt aufgrund des Wirkungsmechanismus zu signifikant weniger Mundtrockenheit als Anticholinergika, was als Grund gilt für die bessere Adhärenz unter Monotherapie. Wenn konservative oder medikamentöse Therapiemaßnahmen nicht zum Erfolg führen oder nicht toleriert werden, kann eine minimalinvasive Therapie indiziert sein.

Minimalinvasive Verfahren bei iOAB

Nach der medikamentösen First-Line-Therapie können minimalinvasive Verfahren, wie z. B. Botulinumtoxin-A-Injektionen und die sakrale Neuromodulation zum Einsatz kommen.

Botulinumtoxin A

Injektionen von Botulinumtoxin A in die Harnblasenwand sind eine wirksame minimalinvasive Behandlungsform der therapierefraktären iOAB mit Dranginkontinenz. Damit werden Drang- und Inkontinenzepisoden, die Miktionsfrequenz und die Nykturie reduziert und die Lebensqualität verbessert. Botulinumtoxin A hemmt über die Wirkung auf die efferenten Bahnen die Ausschüttung von Acetylcholin aus den präsynaptischen Endigungen der Motoneuronen und verhindert so die Acetylcholin-Freisetzung und die Muskelkontraktion. Es resultiert eine Relaxation des M. detrusor. Die Blasenkapazität wird gesteigert. Darüber hinaus wirkt Botulinumtoxin A auf die afferenten Bahnen und blockiert die Ausschüttung von Neurotransmittern wie CGRP (Calcitonin-Gene-Related-Peptide) und Substanz P und reduziert damit den Harndrang, was zu einer Reduktion der Miktionsfrequenz führt.

Botulinumtoxin A zur Behandlung von Blasenfunktionsstörungen

Die Injektion kann in Lokalanästhesie, Analgosedierung oder auch in Vollnarkose erfolgen. Die Wirkung setzt etwa 14 Tage nach Injektion ein und hält durchschnittlich sechs Monate an. Inkontinenz- und Drangepisoden werden durch die Behandlung reduziert, die Miktionsfrequenz am Tag und in der Nacht wird wesentlich geringer, und die Lebensqualität kann deutlich gesteigert werden. Eine sonografische Kontrolle auf Restharn soll 14 Tage nach Intervention oder bei Auftreten von Harnverhalt erfolgen. Eine wiederholte Anwendung ist ohne wesentlichen Wirkverlust möglich, allerdings dürfen erneute Injektionen nur in einem Abstand von mindestens drei Monaten erfolgen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Fortbildung ist nur Botulinumtoxin A von AbbVie zur Therapie der iOAB zugelassen. Vor einer Behandlung mit Botulinumtoxin A sind Harnwegsinfekte, Restharnbildung, Blasentumoren, Blasensteine sowie Deszensus/Prolaps genitalis auszuschließen. Die Behandlung mit Botulinumtoxin A wurde zum 1. Januar 2018 in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) aufgenommen. Diese Leistung können Urologen und Gynäkologen abrechnen. Die Honorierung erfolgt extra-budgetär. Voraussetzung für die Abrechnung ist eine Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung des jeweiligen Bundeslandes. Diese wird erteilt, wenn einmal pro Jahr die Teilnahme an einer von den jeweiligen Landesärztekammern anerkannten Fortbildung zur Therapie von Blasenfunktionsstörungen im Umfang von mindestens acht CME-Punkten nachgewiesen wird.

Sehr häufige Nebenwirkungen der intravesikalen Anwendung von Botulinumtoxin A

Sehr häufige Nebenwirkungen sind Harnwegsinfekte (bis zu ca. 25 % der Behandelten) und eine relevante Restharnbildung (bis zu 6,5 %). Patienten sind darauf hinzuweisen, dass nach dem Eingriff für eine gewisse Zeit eine Selbstkatheterisierung erforderlich sein kann. Bei geriatrischen Patienten sind die Behandlungsergebnisse weniger günstig. Zugleich ist das Risiko einer Restharnbildung erhöht. Die Harnretention kann bei geriatrischen und multimorbiden Patienten besonders schwerwiegend sein und eine injizierte Menge von mehr als 100 Mouse Units (MU) Botulinumtoxin A. Harnwegsinfektionen und eine asymptomatische Bakteriurie treten bei älteren Personen ebenfalls häufiger nach Behandlung auf. Vorsicht ist geboten bei bestimmten neurologischen Erkrankungen wie der Myasthenia gravis. Hier ist vor Injektionstherapie der enge Austausch mit den behandelnden Neurologen zu suchen. Während der Schwangerschaft und Stillzeit ist die Behandlung mit Botulinumtoxin A kontraindiziert.

Kontraindikationen für Botulinumtoxin A

Abgeleitet vom Wirkmechanismus und den beobachteten Nebenwirkungen darf Botulinumtoxin A bei den Patienten nicht eingesetzt werden, die zum Behandlungszeitpunkt einen Harnwegsinfekt, eine akute Pyelonephritis oder einen akuten Harnverhalt aufweisen und nicht in der Lage sind, eventuell einen intermittierenden Selbstkatheterismus durchzuführen. Darüber hinaus darf Botulinumtoxin A nicht angewendet werden bei Patienten mit bekannter Überempfindlichkeit gegen Botulinumtoxin A oder einer der sonstigen Bestandteile. Ebenso nicht bei Patienten mit Infektionen an den vorgesehenen Injektionsstellen.

Antibiotikaprophylaxe bei Anwendung von Botulinumtoxin A

Ein bis drei Tage vor der Behandlung mit Botulinumtoxin A, am Behandlungstag und ein bis drei Tage nach der Behandlung sollten prophylaktische Antibiotika gegeben werden, d. h. mindestens für drei Tage und maximal für eine Woche. Konkrete Empfehlungen für die prophylaktische Gabe von Antibiotika ohne konkreten Befund bei geplanten minimalinvasiven Eingriffen im Harntrakt sind in den interdisziplinären Leitlinien zur Therapie der Harnwegsinfektionen nicht aufgeführt. Die Empfehlungen zur Antibiotikaprophylaxe stützen sich deshalb auf die Angaben in der Leitlinie zur Behandlung der unkomplizierten Zystitis und zur Reinfektionsprävention bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen. Bei einer asymptomatischen Bakteriurie wird in den Leitlinien vor geplanten schleimhautverletzenden Interventionen eine antibiogrammgerechte antimikrobielle Therapie empfohlen. Bei der Auswahl eines Antibiotikums sind folgende Kriterien zu berücksichtigen:
  • Individuelles Risiko des Patienten
  • Erregerspektrum und Antibiotikaempfindlichkeit
  • Effektivität der antimikrobiellen Substanz
  • Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
  • Auswirkungen auf die individuelle Resistenzsituation beim Patienten (Kollateralschaden)
  • Auswirkungen auf die Allgemeinheit (epidemiologische Auswirkungen)
  • Beachtung der Grundprinzipien des Antibiotic Stewardship (ABS)

Erregerspektrum

Häufigster Erreger unkomplizierter Harnwegsinfektionen ist Escherichia coli, gefolgt von Proteus mirabilis, Staphylococcus saprophyticus und Klebsiella pneumoniae. Andere Erreger sind selten. Der Anteil von Escherichia coli variiert zwar bei verschiedenen Patientengruppen, wie zum Beispiel zwischen Patientinnen mit und ohne Diabetes mellitus in der Postmenopause; eine klinische Relevanz wird aber als unwahrscheinlich beurteilt. Aktuelle Informationen über das Erregerspektrum und die Resistenzentwicklung in der Region bieten die Auswertungen des betreuenden Labors.

Erregerempfindlichkeit

Da die Erregerempfindlichkeit zeitlichen und örtlichen Schwankungen unterliegt, wurden in den Leitlinien nur die Ergebnisse neuerer Untersuchungen herangezogen, wie zum Beispiel das „Antibiotika-Resistenz-Surveillance”-System des RKI. In Abbildung 7 sind Resistenzdaten gegenüber E. coli aus dem Jahr 2015 dargestellt. Die Empfindlichkeitsdaten für E. coli als wichtigster Keim bei Harnwegsinfektionen sind bei den einzelnen Antibiotika nicht auf andere Keime übertragbar, weil diese teilweise über intrinsische Resistenzen gegenüber bestimmten Wirkstoffklassen verfügen. Bei den Betalactam-Antibiotika (wie Penicilline und Cephalosporine) ist der Anteil von Resistenzen bereits relativ hoch. Auch bei den Fluorchinolonen wurde in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme der Resistenz verzeichnet. Gegenüber Fosfomycin und Nitrofurantoin sind Resistenzen bei E. coli dagegen selten.

Rationale Auswahl von effektiven Antibiotika

Aminopenicilline können wegen der hohen Resistenzraten nicht mehr für die kalkulierte Therapie von Harnwegsinfektionen empfohlen werden. Die Kombination von Aminopenicillinen und Beta-Lactamase-Inhibitoren zählt ebenso wenig zur ersten Wahl. Bei der Auswahl geeigneter Substanzen ist aber auch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von sogenannten Kollateralschäden zu berücksichtigen. Darunter wird insbesondere die Selektion multiresistenter Erreger und ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Clostridium difficile-assoziierten Colitis verstanden. Die meisten Kollateralschäden treten bei Therapie mit Fluorchinolonen wie Ciprofloxacin und Cephalosporinen auf. Deshalb werden diese Antibiotika für die Behandlung einer unkomplizierten Zystitis oder einer asymptomatischen Bakteriurie ebenfalls nicht empfohlen.

Empfehlungen zur Therapie der akuten unkomplizierten Zystitis

Die interdisziplinäre Leitlinie für Harnwegsinfektionen empfiehlt für die empirische antibiotische Behandlung einer akuten Zystitis nur Antibiotika mit einer Empfindlichkeitsrate von >80 %. Bei einer unkomplizierten Pyelonephritis wird als Grenzwert eine Empfindlichkeitsrate von >90 % empfohlen. Fosfomycin ist als Trometamolsalz für die Einmalgabe zugelassen. Die Substanz führt zu hohen bakteriziden Urinspiegeln und wird am häufigsten zur Behandlung der unkomplizierten Zystitis eingesetzt. Nitrofurantoin, Nitroxolin und Pivmecillinam sind ebenfalls Mittel der Wahl zur Behandlung der unkomplizierten Zystitis ohne relevante Begleiterkrankungen und zur Reinfektionsprävention bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen. Trimethoprim soll nur dann eingesetzt werden, wenn die lokale Resistenzsituation von E. coli unter 20 % liegt. Bei Frauen in der Postmenopause ist die Kurzzeittherapie der akuten Zystitis zwar nicht so gut etabliert; Auswahl und Dosierung von Antibiotika entsprechen aber den Behandlungsregimen prämenopausaler Frauen.

Risikofaktoren für Harnwegsinfektionen

In der Gruppe der über 80-jährigen Patientinnen kommen akute Zystitiden besonders häufig vor. Risikofaktoren hierfür sind unter anderem Restharn und eine asymptomatische Bakteriurie, die mit zunehmendem Alter häufiger auftreten können. Bei Frauen in der Postmenopause ist auch die Rate an rezidivierenden Harnwegsinfektionen erhöht. Eine Adipositas mit einem BMI von >30 begünstigt das Auftreten von Harnwegsinfektionen. Bei Patienten mit einem Diabetes mellitus – und hier insbesondere bei den Frauen – ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen bei einer Harnwegsinfektion höher, sondern auch das Auftreten einer asymptomatischen Bakteriurie. Eine asymptomatische Bakteriurie ist ein Risikofaktor für Harnwegsinfektionen nach endothelverletzenden Eingriffen an den Harnwegen, wozu auch minimalinvasive Eingriffe zählen.

Kontraindikationen, Dosisanpassungen, Neben- und Wechselwirkungen der Antibiotika

Für die sichere Anwendung von Antibiotika sind Kontraindikationen und Dosisanpassungen bei einer eingeschränkten Nierenfunktion zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere bei geriatrischen Patienten wichtig. Nitrofurantoin ist ab einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) von <45 ml/min kontraindiziert und Fosfomycin ab einer GFR von <20 ml/min. Nitroxolin soll bei schweren Leber- und Nierenfunktionsstörungen nicht verwendet werden. Bei Pivmecillinam gibt es bezüglich Leber- und Nierenfunktion keine Einschränkungen. Mögliche schwere Nebenwirkungen sind bei Pivmecillinam und Nitrofurantoin beschrieben. Wechselwirkungen sind bei Fosfomycin, Nitrofurantoin und Pivmecillinam zu berücksichtigen. Weitere Einzelheiten sind den entsprechenden Fachinformationen der Wirkstoffe zu entnehmen.

Antibiotic-Stewardship-Prinzipien

Vor dem Hintergrund einer global kritischen Resistenzentwicklung in Verbindung mit einem Mangel an neuen wirksamen antibiotischen Wirkstoffen hat die Beachtung von Antibiotic-Stewardship-(ABS-)Prinzipien in Klinik und Praxis einen hohen Stellenwert. Die wichtigsten Regeln zum Umgang mit Antibiotika sind:
  • Transparente Übersicht über die wichtigsten Erreger und Resistenzen schaffen;
  • Antibiotikaverbrauch und Antibiotikaverordnungen müssen dokumentiert werden;
  • Verbrauch an Chinolonen, Cephalosporinen, Makroliden und Clindamycin reduzieren;
  • Wenn möglich soll eine orale Therapie einer intravenösen Therapie vorgezogen werden;
  • Unnötige Kombinationstherapien vermeiden;
  • Möglichst nach Antibiogramm behandeln;
  • Antibiotika optimal dosieren;
  • Zeitnaher Wechsel einer Breitspektrumtherapie auf eine gezielte Antibiotikagabe nach Erregersicherung;
  • Zu lange Antibiotikabehandlung vermeiden (fünf bis sieben Tage sind zumeist ausreichend):
  • Angaben zu Penicillinallergien durch einfachen IgE-Hauttest überprüfen;
  • Biomarker zur Diagnosesicherung (z. B. Procalcitonin) bakterieller Infektionen nutzen.

Sakrale Neuromodulation

Bei der sakralen Neuromodulation (SNM) werden schwache elektrische Impulse eingesetzt, um den Sakralnerv, der die Blase und andere Muskeln kontrolliert, niedrigschwellig zu stimulieren und damit die Detrusorüberaktivität zu regulieren. Die Elektrodenimplantation erfolgt in der Regel unter Allgemeinanästhesie. Die SNM hat sich als Behandlungsmethode international etabliert und gilt als sicheres Verfahren. Mögliche Komplikationen sind in der Regel gut beherrschbar. Die Systemeinstellung muss einmal jährlich überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Nachteilig sind die hohen Kosten des Verfahrens, eventuell notwendige Revisionseingriffe und die Inkompatibilität mit der Magnetresonanztomografie. Im Rahmen der „INSITE-Studie” wurde die SNM gegen eine Standardtherapie mit Anticholinergika getestet. Die Erfolgsrate nach sechs Monaten betrug 61 % in der SNM-Gruppe und 42 % in der Anticholinergika-Gruppe. Im 5-Jahres-Follow-up zeigte sich zudem eine konstante Langzeitwirksamkeit. Die Effektivität der SNM bei sonst therapierefraktärer iOAB wurde in systematischen Übersichtsarbeiten belegt. Eine wesentliche Symptomreduktion lässt sich bei bis zu 80 % der Patienten erreichen.

Harnblasenaugmentation (Ileozystoplastik)

Chirurgische Eingriffe sind angezeigt, wenn durch konservative und minimalinvasive Therapieverfahren kein befriedigendes Behandlungsergebnis erreicht werden konnte. Als chirurgische Standardtherapie der iOAB gilt die Blasenaugmentation, die meist mit einem Ileum-Patch durchgeführt wird. Sie kommt zum Einsatz bei Erwachsenen wie auch bei Kindern, wenn keine angemessene Blasenkapazität oder Detrusor-Compliance gegeben ist. Der erfolgreiche Einsatz der Onabotulinumtoxin-A-Injektionen in die Harnblasenwand und die zunehmende Verbreitung der SNM haben in den letzten Jahren zu einem deutlichen Rückgang des Einsatzes der Blasenaugmentation geführt. Zu den Komplikationen der Ileozystoplastik gehören allerdings Störungen des Stoffwechsels und des Elektrolythaushaltes. Es besteht zudem die Gefahr einer Perforation beim intermittierenden Selbstkatheterismus und ein erhöhtes Risiko für Bakteriurie und Harnwegsinfekte. Außerdem kann es durch eine vermehrte Schleimproduktion zu Störungen der Harnblasenentleerung kommen.

Fazit

  • Die Behandlung der iOAB muss sich an der individuellen Symptomatik und dem Leidensdruck der Patienten orientieren.
  • Bei der Therapie der iOAB stehen Allgemeinmaßnahmen an erster Stelle.
  • Zur medikamentösen Therapie kommen v. a. Anticholinergika und Mirabegron zum Einsatz.
  • Minimalinvasive Verfahren – wie Injektionen mit Botulinumtoxin A* und die sakrale Neuromodulation – kommen nach der oralen First-Line-Medikation zum Einsatz und weisen eine hohe Erfolgsrate bei sonst therapierefraktären Patienten auf.
  • Um das Risiko von Harnwegsinfektionen bei der Anwendung von Botulinumtoxin A zu senken, ist die kurzzeitige Antibiotikaprophylaxe unter Berücksichtigung von ABS-Prinzipien indiziert. Invasive chirurgische Eingriffe wie die Harnblasenaugmentation stellen bei der iOAB eine Ultima Ratio dar.

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