Einleitung
Das Thema Stürze wird von älteren Menschen häufig vermieden, aus Angst vor Stigmatisierung und dem möglichen Autonomieverlust. Informationen über den Aktivitätsgrad der Patienten sind dabei sehr wertvoll und können mithilfe von Smartphones oder Smartwatches gewonnen werden. Die Daten können auch dabei helfen, Sturzereignisse besser einzuordnen: Ein Sturz bei einem langen Spaziergang ist anders zu bewerten als der Sturz eines Menschen mit geringem Aktivitätsniveau. Diese Information ist entscheidend bei der Auswahl des Assessments und eines geeigneten Trainingsprogrammes. In jedem Fall sollten nach einem Sturz Gang, Kraft und Gleichgewicht überprüft werden. Darüber hinaus ist es wichtig, eine potenziell gefährdende Medikation, den Visus sowie prädisponierende Komorbiditäten des Patienten zu kennen.
Prävalenz und Bedeutung für das Gesundheitssystem
Fast jeder dritte über 60-Jährige stürzt mindestens einmal im Jahr. Die mit Stürzen einhergehenden Verletzungen – etwa jeder zehnte Sturz führt zu einer Verletzung – können gravierend sein. Nicht selten versterben die Betroffenen an den Folgen. Seit 1990 steigt in Europa die Zahl der Todesfälle und der verlorenen Lebensjahre in Gesundheit (DALY; „disability-adjusted life years”) aufgrund von Stürzen kontinuierlich an. Die daraus resultierenden sozioökonomischen Folgen sind enorm: Im Jahr 2015 beliefen sich in Europa die medizinischen Kosten aufgrund von Stürzen von Menschen über 65 Jahre auf circa 50 Milliarden US-Dollar. Auch in Deutschland liegen die Kosten bei mehreren Milliarden Euro. Die häufigen Pflegekosten werden nur teilweise finanziert und betragen oft das Mehrfache der medizinischen Kosten.
Ätiologie und Risikofaktoren: geriatrische Syndrome
Sarkopenie
Der altersassoziierte Verlust an Muskelkraft und neuromuskulärer Kontrolle ist der häufigste und wichtigste Risikofaktor, der auch behandelbar ist. Annähernd jeder vierte Mensch über 80 Jahre leidet an Sarkopenie. Die Sarkopenie geht mit einem drei- bis vierfach erhöhten Risiko für Stürze einher. Wie so oft bei Alterungsprozessen ist dies ein multifaktorieller Prozess aus physischer Inaktivität und Hormonmangel (Östrogen, Testosteron, Wachstumshormon), der oft von einer Malnutrition begleitet wird, häufig ausgelöst durch eine insuffiziente Proteinzufuhr.
Frailty
Viele ältere Patienten zeigen Zeichen einer „Frailty”. Diese ist gekennzeichnet durch einen Verlust an physischer, psychosozialer und mentaler Resilienz und einer zunehmenden Schwierigkeit, eine homöostatische Kontrolle vieler biologischer Systeme aufrechtzuerhalten. Im Deutschen wird „Frailty” oft aber unscharf als „Gebrechlichkeit” übersetzt. Dies entspricht im Englischen eher dem Begriff der „Fragility” und ist damit eine Einengung auf das Risiko einer Fraktur. Frailty ist phänotypisch ein gut operationalisierbarer und damit sinnvoller Begriff im Kontext von Stürzen. Frailty verdoppelt das Risiko für rezidivierende Stürze. Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie hat die verschiedenen Stadien in der nachfolgenden Grafik anschaulich beschrieben. Bei Menschen mit einem Frailty Grad 4 oder größer sollte ein regelmäßiges Screening auf Sturzgefährdung durchgeführt werden, nach einem Sturz sogar ein umfassendes Assessment. Frailty Grad 4 beschreibt ältere Menschen, die zum Beispiel (auch passager) einen Gehstock benutzen.
Physische Mobilität
Die körperliche Konstitution älterer Menschen weist eine große Spannweite auf. Die weitaus meisten älteren Menschen bewältigen den Alltag allein, sind außer Haus unterwegs, manchmal noch sportlich aktiv und erledigen Einkäufe fußläufig. Diese Menschen erreichen eine Gangleistung von über 5000 Schritten am Tag. Andere benötigen Unterstützung von Angehörigen oder sind bereits nach kurzer Gehstrecke erschöpft. Die Gangleistung liegt hier häufig unter 3000 Schritten täglich. Abhängig vom Aktivitätsgrad lassen sich folgende Gruppen differenzieren: Inaktivere Patienten haben oft eine Laufgeschwindigkeit von ≤0,8 m/s (<3 km/h), erreichen eine Laufdistanz <3 km/Tag. Die tägliche Gehzeit liegt unterhalb von 60 Minuten. Demgegenüber stehen die körperlich aktiven älteren Menschen, die meist eine Gehzeit von >80 Minuten pro Tag erreichen, dabei eine Strecke von über vier Kilometern am Tag zurücklegen, und schneller als 1,0 m/s (3,6 km/h) gehen. Die Daten können und sollten regelmäßig mithilfe von Smartphones oder Smartwatches aufgezeichnet werden.
„Timed Up and Go“-Test
Neben der Gangleistung sollten auch das Gleichgewicht sowie die Muskelfunktion und -kraft evaluiert werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt hierzu den „Timed Up and Go”-Test (TUG). Hierbei sitzt der Patient initial auf einem Stuhl mit Armlehnen. Der Rücken ist angelehnt, die Arme befinden sich entspannt auf den Armlehnen. Auf ein Kommando steht der Patient auf, geht drei Meter bis zu einer auf dem Boden markierten Stelle, kehrt um und setzt sich wieder auf den Stuhl. Die Zeit wird notiert und das Ergebnis ausgewertet. Legt der Patient die vorgegebene Distanz in unter zehn bis zwölf Sekunden zurück, ist das Sturzrisiko unterdurchschnittlich. Werte über 15 Sekunden weisen auf ein deutliches Sturzrisiko hin. Werte von 20 Sekunden und mehr prognostizieren einen zukünftigen (oder bereits) manifesten Pflegebedarf. Mittlerweile gibt es auch eine App, sodass der TUG-Test auch im häuslichen Umfeld durchgeführt werden kann. Für ein valides Messergebnis werden fünf Testzyklen empfohlen. Anhand der Aufzeichnungen können Patienten oder auch Angehörige Veränderungen an Gleichgewicht und Muskelfunktion überwachen.
Screening
Basis des Screenings von Sturzrisikofaktoren ist eine gute Anamnese. Hierbei sollte die tägliche Aktivität der Patienten – wenn möglich mit Gehstrecke, -zeit und -tempo – erfragt werden, wobei Männer ihre Aktivität oftmals überschätzen wohingegen Frauen ihre Bewegungsleistung häufig unterschätzen. Erfasst werden sollte zudem, ob den Betroffenen selbst Veränderungen über die Zeit aufgefallen sind. Die subjektive Gangsicherheit ist ein guter Prädiktor für Stürze. Daher wird empfohlen, bei älteren Menschen mindestens jährlich und unabhängig vom Vorstellungsgrund abzufragen, ob es in den letzten zwölf Monaten ein Sturzereignis gab („opportunistisches Screening”). Experten haben im Rahmen der Erstellung der internationalen Guideline die nachfolgenden drei Screeningfragen entwickelt: Sind Sie in den letzten zwölf Monaten gefallen oder beinahe gestürzt? Fühlten Sie sich in den letzten Monaten beim Gehen oder Stehen vermehrt unsicher? Hatten Sie in der letzten Zeit Bedenken, zu stürzen oder zu fallen? Liegt ein Sturzereignis innerhalb der letzten zwölf Monate vor, so sollte dieses hinsichtlich des Herganges und des Mechanismus möglichst genau beschrieben werden. Dabei gilt eine vorübergehende Bewusstlosigkeit als „red flag”. Auch wenn das Sturzereignis zu einer Verletzung geführt hat, ist von einem hohen Risiko für weitere Stürze und Komplikationen auszugehen. In diesem Fall wird ein multifaktorielles und interdisziplinäres Assessment und eine erneute Vorstellung im nächsten Quartal empfohlen. Liegt kein Sturzereignis vor und wurde eine der beiden anderen Fragen bejaht, sollte eine Überprüfung von Gang, Kraft und Gleichgewicht beispielsweise mithilfe des oben beschriebenen „Timed Up and Go”-Tests durchgeführt werden. Alternativ kann eine Messung der Gehgeschwindigkeit erfolgen. Bei einer Gehgeschwindigkeit ≤0,8 m/s und einer Zeit von über 15 Sekunden im Test wird ein mindestens moderates Sturzrisiko angenommen. Ein regelmäßiges Gleichgewichts- und Krafttraining ist dann von besonderer Bedeutung. Kraft, Gang und Gleichgewicht sollten spätestens nach sechs Monaten erneut evaluiert werden. Sind die Ergebnisse bei der Überprüfung von Gang und Gleichgewicht unauffällig, oder werden alle drei Schlüsselfragen mit „Nein” beantwortet, liegt ein niedriges Risiko vor. Ein erneutes Screening innerhalb eines Jahres wird empfohlen. Aus Sicht des Autors ist es auch hilfreich, wenn Patienten ihren Gang selbst dokumentieren, beispielsweise mithilfe eines Smartphone-Videos von hinten und der Seite.
Checkliste: Multifaktorielles Assessment nach einem Sturz
Anamnese Gang und Gleichgewicht
Ist der Patient gestürzt, oder wurde im Rahmen des Screenings ein hohes Risiko für weitere Stürze identifiziert, empfiehlt die internationale Guideline ein multidimensionales Assessment. Dies schließt Personen ein, die nicht alleine aufstehen können und alle Personen mit einer Frailty-Grad-4+-Einschätzung. Nach gründlicher Anamnese mit Exploration des Sturzherganges sollten weitere prädisponierende Faktoren abgeklärt werden, um daraus gegebenenfalls therapeutische Konsequenzen abzuleiten. Der erste Schritt dabei ist die Untersuchung von Gang, Kraft und Gleichgewicht. Die Untersuchung sollte mindestens durch die Messung des Gehtempos und mithilfe des TUG-Tests erfolgen. Die weiteren Schritte werden mit den sich daraus ableitenden Maßnahmen abgehandelt.
Medikation und Deprescribing
Ältere Menschen nehmen aufgrund ihrer Komorbiditäten häufig eine Vielzahl von Medikamenten ein. Die gleichzeitige und dauerhafte Einnahme von fünf und mehr Pharmaka wird als Polypharmazie bezeichnet. Polymedikation erhöht das Interaktionspotenzial und damit auch das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Dies wiederum kann unter anderem Stürze begünstigen. Die nachfolgenden Wirkstoffgruppen können das Risiko im Alltag besonders erhöhen:
- Sedativa, inklusive Antihistaminika
- Neuroleptika
- Antidepressiva
- Alphablocker (Urologie)
- Nitrate
- Opioide und Opiate
Vor diesem Hintergrund kommt dem „Deprescribing” – also der generellen Reduzierung der Anzahl und dem Absetzen inadäquater Medikamente – eine besondere Bedeutung zu. Die von den Patienten eingenommenen Medikamente sollten mindestens einmal jährlich überprüft werden. Ein sinnvoller Zeitpunkt hierfür ist das Frühjahr, wenn potenziell problematische Medikamente bei Hitzewellen geprüft werden. Für dieses Konzept wurden inzwischen hilfreiche Checklisten und Scores entwickelt. Eine davon ist die deutsche FORTA-Liste („fit for the aged”, FORTA). Mithilfe eines Ampelsystems werden Arzneimittel in unterschiedliche Kategorien eingeordnet. Kategorie A beispielsweise umfasst Pharmaka, die bereits an älteren Patienten in größeren Studien geprüft wurden und deren Nutzenbewertung positiv ausfällt. Vice versa sollten Arzneimittel der Kategorie D nahezu immer vermieden werden. Die FORTA-Liste kann auf der Homepage der Universität Heidelberg heruntergeladen werden und ist zudem als App verfügbar.
Sturzangst
Nach einem Sturz leidet häufig das Selbstvertrauen. Daraus kann sich eine belastende Angst vor einem erneuten Sturz entwickeln. Es wird geschätzt, dass 25 bis 50 % der älteren Menschen unter Sturzangst leiden. Eine mögliche Konsequenz und Komplikation der Angst kann ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten sein, was nicht selten mit körperlicher Inaktivität einhergeht. Ein aktiver Lebensstil ist jedoch die Basis für den Erhalt der Muskelfunktion, was wiederum Stürzen entgegenwirkt. So kann aus der Angst vor einem Sturz ein Circulus vitiosus entstehen. Bei extremer Belastung sollte eine verhaltenstherapeutische Intervention erfolgen. Eine Sturzangst kann gut quantifiziert werden, beispielsweise mit dem „Falls Efficacy Scale-International” (sFES-I). In der validierten deutschen Kurzform werden sieben Alltagsaktivitäten und die damit verbundene Selbstwirksamkeit erfasst. Der Test kann auf der Webseite der University of Manchester heruntergeladen werden.
Demenz und kognitive Einschränkung
In Deutschland leben aktuell rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Eine Demenz geht mit einem zwei- bis dreifach erhöhten Risiko für Stürze und daraus resultierenden Verletzungen wie Hüftfrakturen oder Kopftraumata einher. Somit ist die Demenz ein relevanter Risikofaktor. Bereits Einschränkungen der Exekutivfunktionen ohne diagnostizierte Demenz sind mit einem höheren Risiko für Stürze mit schweren Verletzungen assoziiert. Die globale Leitlinie empfiehlt daher immer eine kognitive Mitbewertung, da es sich beim Sturz um eine frühe Manifestation einer leichten kognitiven Störung („mild cognitive impairment”, MCI) oder ähnlicher Probleme handeln kann. Zur Überprüfung kognitiver Fähigkeiten und der Exekutivfunktionen kann der „Montreal-Cognitive-Assessment-Test” (MoCa) durchgeführt werden.
Kardiologische Erkrankungen
Sturzereignisse ohne kausale Zuordnung können auch die Folge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein. Vor allem die orthostatische Hypotension stellt einen häufigen und zugleich behandelbaren Risikofaktor dar. Kardiogene Synkopen und länger andauernde Arrhythmien verursachen 5 bis 10 % aller Stürze. Eine orthostatische Hypotension kann beispielsweise durch Dehydratation, Nitrate, aber auch durch Morbus Parkinson oder atypische neurodegenerative Erkrankungen ausgelöst werden. Nach einem potenziell kardiovaskulär bedingten Sturz sollten daher orthostatische Blutdruckmessungen im Liegen und Stehen und ggf. eine weiterführende Diagnostik (Kipptisch und Echokardiografie, Langzeitmessungen von Herzfrequenz/Blutdruck) erfolgen.
Urologische Erkrankungen
Eine Drang- oder Belastungsinkontinenz kann dazu führen, dass Patienten es unbedingt vor Urinabgang „trocken” zur Toilette schaffen wollen und hierbei stürzen. Eine Metaanalyse konnte zeigen, dass eine Nykturie mit einem 1,2-fach erhöhtem Risiko für Stürze und mit einem 1,3-fach erhöhtem Risiko für Frakturen assoziiert ist. Neben der Nykturie ist auch eine Drang- und/oder Belastungsinkontinenz mit einer erhöhten Sturzinzidenz verbunden. Daher sollte bei betroffenen Patienten eine urologische Vorstellung zur Einleitung therapeutischer Maßnahmen erfolgen.
Visus
Ein eingeschränkter Visus ist die dritthäufigste chronische Erkrankung bei älteren Menschen und ein unabhängiger Risikofaktor für Stürze. Die Ursachen für eine Abnahme der Sehschärfe sind vielfältig. Die häufigste altersassoziierte Erkrankung ist die Makuladegeneration (AMD). Aber auch eine Brillenkorrektur kann Stürze auslösen. Bifokale oder Gleitsichtbrillen sollten im Außenbereich vermieden werden. Regelmäßige ophthalmologische Untersuchungen mit Bestimmung des Visus nehmen daher einen besonderen Stellenwert beim Sturzrisiko-Assessment ein. Bei der initialen Beurteilung der Sehschärfe können kostenlose Visusprüfprogramme wie das ZEISS Online Vision Screening oder die Vision APP der WHO hilfreich sein. Alle Verbesserungen des Visus – auch eine Katarakt-OP – erhöhen in den ersten Wochen das Sturzrisiko. Das räumliche Sehen muss im Sehkortex neu bewertet werden.
Osteoporose
Die Osteoporose ist eine systemische Skeletterkrankung mit erhöhter Frakturanfälligkeit. Die Prävalenz bei Menschen über 65 Jahre beträgt bei Frauen 24 % und bei Männern knapp 6 %. Osteoporotische Frakturen sind mit einer hohen Morbidität und Mortalität assoziiert. Eine stattgehabte osteoporotische Fraktur und ein hohes Sturzrisiko sind relevant für das weitere Assessment des jeweils anderen: Ältere Menschen mit einer Fraktur nach geringem Trauma sollten neben einer Osteoporoseabklärung auch eine Risikobeurteilung für weitere Stürze erhalten. Umgekehrt sollte bei Patienten mit hohem Sturzrisiko die Knochengesundheit überprüft werden. Die sinnvollste Untersuchung ist die Durchführung einer DXA. Ebenfalls hilfreich ist der FRAX-Rechner. Dieser ist online verfügbar.
Umgebungsanpassung
Die (häusliche) Umgebung spielt bei der Entstehung von Stürzen, vor allem bei der Sekundärprävention, eine wichtige Rolle. Stolper- und Rutschfallen können Stürze und damit einhergehend schwere Verletzungen begünstigen. In einem aktuellen Cochrane-Review wurden von der Arbeitsgruppe um die australische Forscherin Lindy Clemson 22 Studien mit Daten von 8463 älteren Menschen ausgewertet. Es konnte gezeigt werden, dass die Reduktion von Gefahrenstellen im Haushalt Sturzereignisse um 26 % senken kann. Eine Analyse der Gefahrenstellen im häuslichen Umfeld wird daher nach einem Sturz unbedingt empfohlen. Hiernach können Empfehlungen ausgesprochen werden, beispielsweise das Aufräumen, die Verbesserung der Ergonomie im Badbereich oder das Anbringen von Handläufen und rutschfesten Streifen an Treppen. Menschen mit hohem Sturzrisiko profitieren von diesen Maßnahmen. Das sind insbesondere ältere Personen, die im zurückliegenden Jahr gestürzt sind und dabei eine Verletzung erlitten haben. Bei geringem Risiko für Stürze zeigte sich kein Effekt der Umgebungsinterventionen auf das Sturzrisiko. Als Primärprävention wird eine Umgebungsanpassung derzeit nicht empfohlen. Eine Möglichkeit zur Umsetzung der Empfehlungen stellt der Hausbesuch durch einen Ergotherapeuten dar, der das Wohnumfeld und die angesprochenen Anpassungen evaluieren kann. Qualifizierte Mitarbeiter finden sich häufig auch in Sanitätsfachgeschäften. Bei potenziell größeren Umbaumaßnahmen gibt es vor allem im städtischen Raum Wohnberatungsstellen, die bei der Planung unterstützen können.
Training und Interventionen
Wer profitiert in besonderem Maße von entsprechenden Trainingseinheiten, wie zum Beispiel Gesundheits- oder Rehasport zur Reduktion des Sturzrisikos? Die Auswahl des Programmes und der Trainingsstrategie hängen maßgeblich von dem beim Screening ermitteltem Sturzrisiko ab.
„Geringes” Risiko
Wenn bei Patienten im Rahmen des Screenings ein geringes Risiko festgestellt wurde, liegt die Wahrscheinlichkeit für ein Sturzereignis innerhalb der nächsten zwölf Monate bei 20 bis 30 %. Trotzdem oder gerade daraus ergibt sich in dieser Gruppe die Bedeutung der Aufrechterhaltung eines aktiven Lebensstils. Neue Metaanalysen zeigen, dass etwa 6000 bis 7000 Schritte täglich ausreichen, um einen Überlebensvorteil zu haben. Die Zeitangaben der WHO von mindestens 150 Minuten moderater Aktivität und über 75 Minuten intensiver Beanspruchung pro Woche sind schwierig zu überwachen. Sinnvoll sind nach neuesten Daten auch fünf Minuten intensiver physischer Aktivität (z. B. Bergaufgehen oder schnelles Spazierengehen). Für das intensive Training bedarf es aber einer medizinischen Bewertung.
Moderates Sturzrisiko
Personen mit moderatem Sturzrisiko profitieren in besonderem Maße vom Training. Hierfür stehen unterschiedliche Trainingsprogramme und -angebote zur Verfügung. Ein niederschwelliges Angebot bietet zum Beispiel die Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Hier kann eine kostenlose Patientenbroschüre mit Informationen, Übungen und weiterführenden Adressen heruntergeladen werden. Alternativ besteht die Möglichkeit, an von den Krankenkassen geprüften Kursen teilzunehmen. Die Internetpräsenz der Zentralen Prüfstelle Prävention führt entsprechende Angebote auf. Zudem bieten viele Sportvereine entsprechende Programme im Rahmen des Gesundheitssports an. Auch in den Alltag integrierte Übungen können das Sturzrisiko senken. Hierfür gibt es geeignete Trainingsprogramme. Das sogenannte „LiFE-Programm” schlägt individuelle Übungen auf Grundlage der Fähigkeiten des Patienten vor. Die Umsetzung kann entweder als Selbstlernkurs oder als Individualkurs mit Hausbesuchen durch einen Trainer erfolgen. Die Wirksamkeit des Programmes ist belegt. Eine Studie konnte zeigen, dass die Durchführung der Übungen über einen Zeitraum von zwölf Monaten die Anzahl von Stürzen um 31 % senken konnte. Das Programm wurde auch in Deutschland validiert. Perspektivisch wird das Perturbationstraining an Bedeutung zunehmen. Hierbei findet das Training im Gehen auf einer bewegten Fläche statt. Bislang gibt es allerdings nur wenige Geräte in Deutschland. Beim Perturbationstraining befindet sich der Patient auf einem Laufband, das schnell seine Richtung ändert und somit Gangstörungen provoziert. Um Stürze während des Trainings zu vermeiden, ist der Patient über einen Sicherheitsgurt an einer Vorrichtung fixiert. Studien deuten darauf hin, dass bereits wenige, vielleicht sogar nur eine einzige Übungseinheit das Risiko für Stürze deutlich reduzieren kann. Auch das Risiko für sturzassoziierte Verletzungen wird wahrscheinlich reduziert.
Hohes Risiko
Liegt bei älteren Menschen ein hohes Sturzrisiko vor, ist es besonders wichtig, diese in die Entscheidungsfindung für weitere Interventionen einzubinden. Dabei sollten Prioritäten, Ressourcen und Einstellungen der Patienten sowie deren Angehörigen berücksichtigt werden. Trainingsmaßnahmen zur Sturzprävention können zeitintensiv und mitunter herausfordernd sein. Dies sollte Patienten und Angehörigen von Anfang an bewusst gemacht werden. Bei diesen Personen werden in der Regel neben dem Training auch die Themen Umgebungsmaßnahmen, „medication review” und Visus adressiert.
Sonderfall: Stürze im Pflegeheim
Neben Stürzen im häuslichen Umfeld sind Stürze im Pflegeheim von hoher Relevanz. Etwa 1,2 Millionen Menschen werden in Deutschland in stationären Pflegeeinrichtungen versorgt. Die globale Sturz-Guideline betont, dass bei jedem Bewohner a priori von einem hohen Risiko für Stürze auszugehen ist. Folglich sollte bei jedem Heimbewohner bei Eintritt in die Einrichtung und im Abstand von etwa drei Monaten ein multifaktorielles Risiko-Assessment zur Identifikation der individuellen Sturzrisikofaktoren durchgeführt werden. Besonders wichtig ist die Überprüfung und Anpassung der Medikation bei Polypharmazie. Eine Videostudie aus Kanada hat über 3000 Stürze in öffentlichen Bereichen von Pflegeheimen aufgezeichnet. Eine entsprechende Genehmigung seitens der Bewohner bzw. deren Angehörigen lag vor. Die Studie lieferte wertvolle Erkenntnisse: Unter anderem konnte gezeigt werden, dass etwa ein Drittel der Gestürzten eine Kopfbeteiligung aufwiesen. Das waren deutlich mehr als zuvor angenommen wurde. Des Weiteren konnten Sturzmechanismen genauer analysiert werden. Viele Menschen führen während eines Sturzes eine Rotationsbewegung durch, in der Absicht, mit dem Becken respektive Gesäß auf dem Boden aufzukommen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass diese Sturzbewegung bereits im frühen Kindesalter erlernt wird, um einwirkende Traumata mit der muskel- und weichteilreichen Gluteal-Region abzufedern. In einer weiteren Studie wurden die genaueren Umstände der Stürze untersucht. Zwei Drittel der Stürze ereigneten sich während des Aufstehens vom Sitzen in das Stehen. Die Betroffenen fielen während dieser Transferphase meistens nach hinten. In der Standphase wurden mehr Stürze zur Seite beobachtet, die auch häufig mit Verletzungen assoziiert waren. Hieraus ergibt sich neben den o. g. Maßnahmen bei Hochrisikopersonen die Notwendigkeit, das Team, die Heimleitung und die Angehörigen eng in die Planung einzubeziehen.
Entwicklung und Bedeutung der Frakturlokalisationen
Infolge der altersassoziierten Muskelatrophie (Sarkopenie) können Becken, Rumpf und obere Extremität nicht mehr ausreichend stabilisiert werden. Das zeigt sich auch in Studien: Aufgrund der demografischen Entwicklung lässt sich seit 2009 unter anderem eine deutliche Zunahme von Beckenring-, Wirbelkörper- und proximalen Femurfrakturen (+23 %) beobachten. Dies zeigt, wie wichtig die Behandlung der Osteoporose neben der Sturzprävention ist.
Fazit
- Stürze stellen in der klinischen Praxis eine wichtige Herausforderung dar, da sie mit gravierenden Verletzungen einhergehen können, häufig aber spontan nicht berichtet werden.
- Aufgrund der demografischen Entwicklung werden Sturzereignisse und deren Folgen in Zukunft das Gesundheitssystem immer stärker belasten.
- Das Thema Stürze sollte bei älteren Menschen unabhängig von deren Vorstellungsgrund mindestens jährlich in das Anamnesegespräch integriert werden (opportunistisches Screening).
- Bei einem hohen Sturzrisiko wird ein multifaktorielles Assessment empfohlen, um die individuellen Risikofaktoren des Patienten zu identifizieren.
- Bei gehfähigen Menschen, die im Pflegeheim leben, ist grundsätzlich von einem hohen Risiko für Stürze auszugehen.
- Ältere Menschen mit einem moderaten Sturzrisiko profitieren in besonderem Maße von individuellen Trainingsprogrammen.
- Auch bei geringem Risiko für weitere Stürze ist ein aktiver Lebensstil mit einer täglichen Schrittzahl von 6000 bis 7000 Schritten (oder 150 bis 300 Minuten pro Woche) bei moderater Belastung eine sinnvolle Präventionsmaßnahme.
- In Zukunft werden vielversprechende Optionen wie das Perturbationstraining die Präventions- und Interventionskonzepte weiter ergänzen.
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