Spastik nach Schlaganfall – Früherkennung und Behandlung mit Botulinumtoxin Typ A

Lähmung und Spastik als Folge eines Schlaganfalles sind häufig mit Schmerzen, Steifheit, Muskel- und Gelenkkontrakturen verbunden. Die Folgen sind Fehlhaltungen der betroffenen Extremitäten, verminderte Lebensqualität sowie verminderte Selbstständigkeit mit einer dann erhöhten Belastung von Pflegenden/Angehörigen.

Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung der spastischen Tonuserhöhung nach einem Schlaganfall kann nicht nur die Komplikationen reduzieren, sondern auch Alltagsfunktionen und Unabhängigkeit der betroffenen Patienten verbessern. Mithilfe der „Spastik-Ampel“, einem Risikoklassifizierungssystem in Form eines Ampelsystems, werden Ärzte, Physio- und Ergotherapeuten in die Lage versetzt, Patienten mit einem Risiko für eine Spastik zu identifizieren und vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen.

In aktuellen nationalen und internationalen Leitlinien wird bei fokaler und multifokaler Spastizität eine Behandlung mit Botulinumtoxin A (BoNT A) empfohlen. Allerdings zeigen Untersuchungen zur Versorgungslage von Patienten mit einer Spastik, dass evidenzbasierte Therapien wie BoNT A hierzulande noch zu selten eingesetzt werden.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709121091710017
Zeitraum 07.12.2021 - 06.12.2022
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Prof. Dr. med. Tobias Bäumer
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Animierter Vortrag (eTutorial)
Lernmaterial Vortrag (33:20 Min.), Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner Allergan GmbH
Bewertung 4.3 (255)

Definition „Spastische Bewegungsstörung“

Anfang der 1980er-Jahre wurde „Spastik“ als geschwindigkeitsabhängige Zunahme des Muskeltonus als Folge einer Übererregbarkeit des spinalen tonischen Dehnungsreflexes definiert. Im Jahr 2005 schlug die SPASM-Gruppe eine erweiterte Definition vor. Die Spastik beschrieb sie als alle positiven Phänomene, die durch eine Störung der sensomotorischen Kontrolle infolge einer Läsion des ersten Motoneurons hervorgerufen werden und die sich als intermittierende oder anhaltende unwillkürliche Aktivierung von Muskeln darstellen. Unbehandelt kann es zu einem Teufelskreis kommen, in dem eine Kontraktion in den betroffenen Muskelgruppen zu einer Fehlhaltung der Extremitäten führt, was eine Verkürzung des Weichteilgewebes und weitere biomechanische Veränderungen der kontrahierten Muskeln zur Folge hat. Dies wiederum verhindert eine Verlängerung des Muskels und führt zu einer weiteren Versteifung.

Spastik nach Schlaganfall

Schätzungen zufolge erleiden hierzulande jährlich bis zu 260.000 Menschen einen Schlaganfall. Bei bis zu 46 % der Überlebenden findet sich in der Folge eine Spastik, die sich innerhalb von ein bis drei Monaten nach dem Schlaganfall entwickelt. Im Allgemeinen nimmt die Prävalenz der Post Stroke Spasticity (PSS) mit der Zeit nach dem Schlaganfall zu, auch wenn die Angaben in der Literatur hierzu stark variieren: In den ersten vier Wochen nach einem Schlaganfall waren bei 4 bis 27 % der Patienten Anzeichen von Spastik zu beobachten. In der postakuten Phase, ein bis drei Monate nach Schlaganfall, betrug die PSS-Prävalenz 19 bis 27 %. Lag der Schlaganfall länger als drei Monate zurück, hatten 17 bis 43 % der Patienten eine PSS entwickelt. Die Auswirkungen reichen von kaum wahrnehmbaren klinischen Anzeichen bis hin zu starker Beeinträchtigung der Mobilität und der Beeinträchtigung der Selbstversorgung. In einer Befragung von 281 Personen mit Spastik gaben 72 % eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität an, 44 % einen Verlust an Unabhängigkeit und weitere 44 % berichteten über Depressionen und Stimmungsschwankungen. Lediglich 3 % der Befragten gaben an, dass die Spastik keine Auswirkungen auf ihr Leben habe.

Häufige Deformitäten bei Spastik nach Schlaganfall

Die Muster der Spastik unterscheiden sich zwischen oberer und unterer Extremität. Während an der oberen Extremität häufiger Beugemuster (Finger, Handgelenk- und Ellenbogenbeuger) auftreten, finden sich an der unteren Extremität häufiger Streckmuster (Knie- und Knöchelstrecker). In einem systematischen Review, in das 24 Studien eingeschlossen waren, lag bei etwa einem Drittel der Schlaganfallüberlebenden eine Spastik der unteren Extremität vor. In einer deutschen Kohortenstudie mit 103 Patienten entwickelte sich eine Spastik am häufigsten in Ellbogen (79 %), Handgelenk (66 %) und Sprunggelenk (66 %). In einer prospektiven Kohortenstudie mit 301 Schlaganfallpatienten waren keine wesentlichen Unterschiede in der Prävalenz von Spastik der unteren und oberen Gliedmaßen zu verzeichnen. Jedoch wurde eine schwere Spastik (modifizierte Ashworth-Skala; MAS ≥3) häufiger in den Muskeln der oberen Gliedmaßen beobachtet.

Komplikationen durch Spastik nach Schlaganfall

Zu den Folgeerscheinungen der Spastik zählen u. a. Muskelverkürzungen und Kontrakturen, die zu zusätzlichen Komplikationen wie Bewegungseinschränkungen, Infektionen, Dekubiti und Schmerzen führen können. Wie die Ergebnisse einer Beobachtungsstudie zeigen, klagten zwölf bis 24 Wochen nach einem Schlaganfall 72 % der Patienten mit Spastik über Schmerzen, während nur 1,5 % der Patienten ohne Spastik ein Schmerzsyndrom aufwiesen. Dabei besteht eine positive Korrelation zwischen zunehmender Spastik und zunehmenden Schmerzen in den oberen Extremitäten über die Zeit. Weitere Komplikationen, die als Folge der Spastik auftreten können, sind u. a. Schwierigkeiten bei der Durchführung der körperlichen Hygiene und Selbstpflege, ein geringes Selbstwertgefühl und ein gestörtes Selbstbild. Diese Begleiterscheinungen stellen nicht nur für Patienten, sondern auch für Pflegepersonal und pflegende Angehörige eine Belastung dar. In manchen Fällen können diese Folgeerscheinungen die Rehabilitation des Patienten behindern.

Instrumente zur klinischen Beurteilung der Spastik

In der Neurorehabilitation sind Assessments und einfache Tests zur Erfassung von Spastik wichtig, um den Therapieerfolg zu bewerten und die weiterführende Behandlung festzulegen. Als geeignete Instrumente werden in den aktuellen Leitlinien die Ashworth-Skala, die modifizierte Ashworth-Skala, die REsistance to PAssive movement Scale (REPAS) sowie die Tardieu-Skala aufgeführt. Das passende Assessment ist nach individueller Ziel- oder Problemstellung auszuwählen: Zur klinischen Einschätzung des spastischen Muskeltonus werden am häufigsten die Ashworth-Skala (AS) und die modifizierte Ashworth-Skala (MAS) eingesetzt. Eine Alternative zur Ashworth-Skala stellt die modifizierte Tardieu-Skala dar. Mit dieser kann im Gegensatz zur AS eine Spastik von z. B. einer reinen Kontraktur oder Muskelverspannung zuverlässig unterschieden werden. Die REsistance to PAssive movement Scale, kurz REPAS, ist eine Summenskala basierend auf der Ashworth-Skala. Damit ist eine standardisierte Durchführung an mehreren Gelenken möglich. Da die genannten Assessments keine funktionellen Defizite abbilden, müssen zusätzliche spezifische Skalen zur Erfassung der Zielerreichung bezüglich aktiver und passiver Funktionen eingesetzt werden. Klinische Skalen, um die Beeinträchtigung und Fähigkeit zur Selbstversorgung zu beurteilen, umfassen den Barthel-Index für Selbstversorgung und die Disability Assessment Scale zur fähigkeitsorientierten Schweregradbeurteilung der Behinderung.

Behandlungsziele

Eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie der Spastik ist ein multiprofessionelles Behandlungsteam, das gemeinsam mit dem Patienten die Ziele für die Behandlung definiert. Schlüsselbereiche für die Zielsetzung sind u. a. Symptome und Behinderungen sowie Aktivitäten. Die Ziele sollten sich grundsätzlich an den „SMART-Kriterien” orientieren, d. h. spezifisch, messbar, anspruchsvoll, realistisch und terminiert sein. Konkrete Beispiele für Behandlungsziele sind u. a. die Linderung von Schmerzen, verbessertes Sitzen, Stehen und Gehen, Erleichterung bei den Alltagsaktivitäten, verringerte Pflegebelastung, verbessertes Körperbild und Selbstwertgefühl sowie die Prävention von Komplikationen. Der Patient sollte nicht nur aktiv an der Festlegung der Ziele, sondern auch an deren Evaluation, also der Messung von Ergebnissen der Interventionen, beteiligt werden. Zur standardisierten individuellen und partizipativen Vereinbarung von Therapiezielen ist das Goal Attainment Scaling (GAS) ein geeignetes Verfahren. Das GAS kann in Kombination mit den standardisierten klinischen Bewertungsinstrumenten in der Rehabilitation eingesetzt werden und deren Ergebnisse ergänzen.

Risikofaktoren für die Entwicklung einer Spastik nach Schlaganfall

In verschiedenen Publikationen wurde eine Reihe von Faktoren identifiziert, die das Auftreten einer Spastik nach einem Schlaganfall vorhersagen können. Ein frühes Erkennen dieser Prädiktoren könnte dazu beitragen, die Personen zu identifizieren, die am meisten von einer Intervention profitieren und dadurch ein besseres Outcome erzielen. Ein höherer Schweregrad der Parese, eine Hemihypästhesie, schwere Einschränkungen bei der Alltagsbewältigung, ein moderat erhöhter Muskeltonus und das Vorliegen von Sensibilitätsstörungen sind solche Faktoren und sagen die Entwicklung einer Spastik nach Schlaganfall voraus. Vermutlich besteht keine Assoziation zwischen irgendeiner topografischen oder neuroanatomischen Hirnregion und der Entwicklung von Spastizität nach einem Schlaganfall, wie eine aktuelle prospektive Kohortenstudie zeigt.

Risikoabschätzung einer spastischen Bewegungsstörung nach Schlaganfall mit der „Spastik-Ampel“

Das PSS-Risikoklassifizierungssystem in Form eines Ampelsystems soll insbesondere Ärzte in der Primärversorgung, Physio- und Ergotherapeuten, die Patienten während der Schlaganfall-Rehabilitation betreuen, bei der Identifizierung und Priorisierung von Patienten mit PSS-Risiko unterstützen. Ziel ist es, eine Handreichung für eine erforderliche Überweisung eines Patienten zu einem Arzt, der für die Behandlung von spastischen Syndromen spezialisiert ist, zu geben. Die Spastik-Ampel unterscheidet drei Kategorisierungen in Risikogruppen, die auf den Risikofaktoren für PSS basieren: Rot = dringende Überweisung, Gelb = Routineüberweisung, Grün = regelmäßige Überwachung. Für jede Klassifizierung/Gruppe werden die nächsten Schritte für das Patientenmanagement aufgezeigt. Diese beruhen sowohl auf veröffentlichten Leitlinien als auch auf der klinischen Expertise der Arbeitsgruppe.

Spastik-Ampel steht auf rot

Die Spastik-Ampel steht auf Rot, wenn eine dringende Überweisung zu einem Spezialisten erforderlich ist. Dies ist der Fall, wenn die beiden folgenden Kriterien erfüllt sind: 1. Mäßig, deutlich oder stark erhöhter Muskeltonus (modifizierte Ashworth-Skala (MAS) ≥2) in zwei oder mehr Gelenken. Starke Störung der sensomotorischen Funktionen, z. B. starke Abnahme der Oberflächensensibilität, Beeinträchtigung der Propriozeption und schwere motorische Dysfunktion. In diesem Fall sollte dringend eine Physio- und Ergotherapie eingeleitet werden. Eine spezifische Beurteilung und Behandlung ist notwendig; der Patient an einen Arzt überwiesen werden, der im Bereich Management der spastischen Bewegungsstörung spezialisiert ist.

Spastik-Ampel steht auf Gelb

Die Spastik-Ampel steht auf Gelb, wenn eine Beratung mit dem multiprofessionellen Team (MPT) und eine enge spezialisierte Überwachung angezeigt ist. Dies ist der Fall bei Vorliegen eines leicht erhöhten Muskeltonus in einem Gelenk (MAS 1 und 1+) und unwillkürlichen Muskelkontraktionen in der betroffenen Extremität plus einem oder mehreren der folgenden Kriterien: Reduzierte Sensibilität auf einer Körperseite und/oder visuelle Unaufmerksamkeit. Schwäche der Extremitäten und Störung der sensomotorischen Funktionen. Schwierigkeiten mit aktiven Bewegungen, die im Alltag stören. Ausdehnung und Lokalisation der Läsion im Kortikospinaltrakt anhand eines CT und/oder MRT. In diesen Fällen sollte eine Physio- und Ergotherapie eingeleitet werden und der Patient durch Spezialisten des MPT mit fundierter Erfahrung im Management von spastischen Bewegungsstörungen betreut werden. Wenn die Symptome nicht abklingen, sollte der Patient zur Beurteilung an einen Spezialisten im Management der spastischen Bewegungsstörung überwiesen werden mit der Frage, ob zusätzliche Interventionen erforderlich sind.

Spastik-Ampel steht auf Grün

Die Spastik-Ampel zeigt Grün, wenn lediglich eine Überprüfung von Muskeltonus und sensomotorischen Funktionen erforderlich ist. Eine regelmäßige Überwachung sollte bei Patienten mit anhaltenden motorischen Problemen und nicht erhöhtem Muskeltonus erfolgen. Nach drei bis sechs Monaten wird eine erneute Beurteilung empfohlen. Die nächsten Schritte sind eine allgemeine Physio- oder Ergotherapie sowie ein Selbstdehnungsprogramm, die Beurteilung des Patienten innerhalb von drei bis sechs Monaten und die Überwachung durch einen Physio- oder Ergotherapeuten mit Erfahrung im Schlaganfallmanagement, die Information von Patienten und Pflegekräften über das Management nach einem Schlaganfall sowie die Aufklärung über relevante Ansprechpartner.

Versorgungslage von Patienten mit Spaztizität nach Schlaganfall

Zur Behandlung der Spastik nach einem Schlaganfall stehen physikalische, physiotherapeutische, pharmakologische und operative Behandlungsoptionen zur Verfügung. Dabei sollte die Behandlung in einem multiprofessionellen Team gemäß den nationalen und internationalen Leitlinien erfolgen. Wie eine Befragung von Allgemeinmedizinern zur Versorgungslage von Patienten mit Spastik nach Schlaganfall zeigte, finden sich Zeichen einer Fehl- und/oder Unterversorgung in Deutschland. Evidenzbasierte Behandlungsverfahren, u. a. mit Botulinumtoxin A (BoNT A), mit intrathekalem Baclofen sowie Physio- und Ergotherapie werden hierzulande noch zu wenig eingesetzt. Besonders augenfällig scheint die Situation für den Einsatz von BoNT A zu sein. So gaben beispielsweise 46 % der Allgemeinmediziner an, dass keiner ihrer Patienten mit einer spastischen Bewegungsstörung mit BoNT A behandelt wird. Auch eine Befragung von Fachärzten für Neurologie und Nervenheilkunde in Praxen und Reha-Kliniken zeigte, dass rund 59 % der antwortenden Ärzte nie BoNT A in der Therapie von Patienten mit Spastik nach einem Schlaganfall einsetzen. Erfolgt eine angemessene Therapie nur unzureichend oder zu spät, besteht ein erhöhtes Risiko für Komplikationen wie Schmerzen, Kontrakturen, Hautläsionen bis zum Dekubitus sowie erhebliche Beeinträchtigungen der Alltagsaktivitäten. Daher sollte das Management von Spastik nach Schlaganfall möglichst frühzeitig bei ersten charakteristischen Symptomen eingeleitet werden.

Algorithmus für die Behandlung der Spastik

Die Behandlungsziele sollten zwischen dem Team und dem Patienten und/oder seiner Familie vereinbart und in einer strukturierten Weise dokumentiert werden. Die Therapie der Spastik beruht auf einem multimodalen Ansatz. Grundlage ist ein physiotherapeutisches Übungsprogramm zur Behandlung der passiven und aktiven motorischen Funktionseinschränkungen. Um dieses zu ermöglichen, ist häufig ein multiprofessionelles Team aus Neurologen, Orthopäden, Physio- und Ergotherapeuten sowie Orthopädietechnikern notwendig, da insbesondere bei mäßiger bis schwerer Spastizität eine alleinige physiotherapeutische Behandlung unzureichend sein kann. Eine medikamentöse Therapie sollte daher bereits in einem frühen Stadium der Behandlung des Patienten in Betracht gezogen werden. Welche Medikamente eingesetzt werden, ist bis zu einem gewissen Grad vom Muster und der Verteilung der Spastizität abhängig: Orale Antispastika, z. B. Baclofen oder Tizanidin, können bei generalisierter oder segmentaler Spastik (im Sinne einer ausgeprägten Hemispastik oder Paraspastik) in Betracht gezogen werden, haben jedoch häufig unerwünschte Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit und Muskelschwäche. Bei schwerer generalisierter oder segmentaler Spastik können die Patienten von einer intrathekalen Baclofen-Behandlung (ITB) profitieren. Da diese Behandlung mit einem operativen Eingriff mit möglichen Komplikationen verbunden ist, sollte die ITB nur schweren Fällen vorbehalten sein. Bei fokaler und multifokaler Spastik sind intramuskuläre BoNT A-Injektionen die medikamentöse Therapie der Wahl. Da es nicht ungewöhnlich ist, dass eine Spastizität mit sowohl fokalen als auch generalisierten Anteilen auftritt, werden in diesen Fällen die Interventionen oft kombiniert, z. B. BoNT A plus Baclofen. Wenn andere, reversible Behandlungsmethoden versagt haben, sollten operative Verfahren erwogen werden.

Leitlinienempfehlungen zur Therapie mit BoNT A

BoNT A wird als First-Line-Behandlung für die fokale Spastik nach Schlaganfall in der aktuellen deutschen DGN-Leitlinie sowie in internationalen Guidelines empfohlen. Wenn die physiotherapeutischen Maßnahmen bei fokaler Spastik nicht zum gewünschten Erfolg führen, soll bevorzugt eine Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin A (BoNT A) erfolgen. Dazu heißt es in den aktuellen S2k-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN): „Bei der fokalen Spastik hat in der Regel eine fokale medikamentöse Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin A (BoNT A) ein besseres Nutzen-Risiken-Verhältnis (s. u.) und sollte, soweit umsetzbar, vor dem Gebrauch oraler Antispastika eingesetzt werden (starker Konsens).”. Der Wirkeffekt von BoNT A kann durch eine Kombination mit einer neuromuskulären Elektrostimulation oder Cast-Behandlung noch verstärkt werden. Bei begleitenden generalisierten Spasmen können zusätzlich zu BoNT A orale Antispastika in niedriger Dosierung eingesetzt werden.

Ursprung und Struktur von Botulinumtoxin A (BoNT A)

Botulinumtoxine werden von einer Vielzahl von Clostridien-Arten synthetisiert, am häufigsten von dem anaeroben, grampositiven Bakterium Clostridium botulinum. Dieser Keim kommt weltweit im Erdboden und in küstennahen Gewässern vor. Die von diesem Bakterium gebildeten Neurotoxine, die als Serotypen A bis G klassifiziert werden, zählen zu den stärksten bekannten Nervengiften. Zu diesen zählt auch Botulinumtoxin A (BoNT A), das zu einem therapeutischen Wirkstoff entwickelt wurde. Die therapeutische Wirkung von BoNT A wird durch ein „Kern”-Neurotoxin (150 kDa) vermittelt, das normalerweise von einem Molekülkomplex umgeben ist. Dieser besteht aus nicht toxischen, akzessorischen Proteinen (NAP), sogenannte Hämagglutinine und Nicht-Hämagglutinine. Diese assoziierten Proteine dienen als Stabilisatoren, um das Neurotoxin-Molekül vor pH-Wert-Schwankungen, vor thermischem Stress und enzymatischem Abbau zu schützen. Incobotulinumtoxin A ist das einzige Produkt, bei dem alle NAP während der Herstellung entfernt wurden.

Wirkweise von BoNT A

Botulinumtoxine verhindern die Freisetzung von Acetylcholin aus der präsynaptischen Nervenendigung und blockieren so die periphere neuromuskuläre Reizübertragung an der motorischen Endplatte. Dies führt zu einer Verringerung der Muskelkontraktion und zu einer dosisabhängigen, reversiblen Abnahme der Muskelkraft. Vermutlich wird auch die Freisetzung von Neurotransmittern blockiert, die bei der Schmerzentstehung eine Rolle spielen. Die klinischen Effekte sind vorübergehend; die Wirkung setzt mit einer Latenz von drei bis zehn Tagen ein und hält ca. zwei bis drei Monate an. Die maximale Wirkung ist innerhalb von zwei bis sechs Wochen nach der Injektion zu beobachten. Die Wiederherstellung der Impulsübertragung erfolgt normalerweise innerhalb von zwei bis vier Monaten nach Verabreichung des Toxins durch neu gebildete Nervenendigungen und deren Wiederverbindung mit den motorischen Endplatten.

Eigenschaften von BoNT A-Präparaten

Die drei zur Behandlung der fokalen Spastizität in Deutschland zugelassenen BoNT A-Präparate sind Produkte verschiedener Clostridium-Stämme, werden unterschiedlich produziert und isoliert. Da Incobotulinumtoxin A keine Komplexproteine enthält, unterscheidet es sich von den anderen Neurotoxinen hinsichtlich der Molekülmasse (150 kDa vs. 900 kDa). Entsprechend sind auch die Dosierungen verschieden und nicht von einem Präparat auf das andere übertragbar. Es gibt auch kein festgelegtes, konsistentes Dosis-Umwandlungs-Verhältnis zwischen den Präparaten. Direkte klinische, prospektive Vergleichsstudien der Präparate untereinander liegen nicht vor. Es wird empfohlen, bei Langzeitbehandlung nicht zwischen unterschiedlichen Botulinumtoxin-Präparaten zu wechseln. Aufgrund der Beschaffenheit von BoNT A liegen keine pharmakokinetischen Daten vor. Onabotulinumtoxin A und Incobotulinumtoxin A sind derzeit in Durchstechflaschen zu 50, 100 und 200 Einheiten und Abobotulinumtoxin A in Durchstechflaschen zu 300 und 500 Einheiten erhältlich. Anders als Abobotulinumtoxin A kann Onabotulinumtoxin A eingefroren werden; ungeöffnete Durchstechflaschen mit Incobotulinumtoxin A können bei Raumtemperatur unter 25°C gelagert werden.

Wirksamkeit von BoNT A bei Spastizität in den oberen Extremitäten nach Schlaganfall

In einer randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten, multizentrischen Studie wurde die Wirksamkeit und Sicherheit von einmaligen Injektionen von 200–240 Einheiten Onabotulinumtoxin A bei 126 Patienten mit erhöhtem Beugungstonus im Handgelenk und in den Fingern nach einem Schlaganfall untersucht. Onabotulinumtoxin A reduzierte in Woche 6 signifikant den Muskeltonus der Hand- und Fingerbeuger im Vergleich zu Placebo. Diese Verbesserung blieb bei allen untersuchten Beugemuskeln bis Woche 12 bestehen. In der Zulassungsstudie von Incobotulinumtoxin A erhielten 148 Patienten mit Spastizität der oberen Extremitäten nach Schlaganfall entweder einmalige Injektionen von bis zu 400 Einheiten des Toxins (n = 73) oder Placebo (n = 75). Incobotulinumtoxin A führte im Vergleich zu Placebo bei signifikant mehr Patienten zu Verbesserungen im MAS um ≥1 (68,5 % vs. 37,3 %).

Wirksamkeit von BoNT A bei Spastizität in den unteren Extremitäten nach Schlaganfall

Die Wirksamkeit von Onabotulinumtoxin A und Abobotulinumtoxin A für die Behandlung der Spastik der unteren Extremitäten wurde in randomisierten, multizentrischen, doppelblinden, placebokontrollierten Phase-III-Studien untersucht: Patienten mit Spastizität der Plantarflexoren des Sprunggelenks (MAS >3) erhielten mind. drei Monate im Mittel ca. sechs bis sieben Jahre nach Schlaganfall eine einzelne Behandlung mit 300 U Onabotulinumtoxin A (n = 58) oder Placebo (n = 62) und wurden über zwölf Wochen beobachtet. Die Behandlung mit Onabotulinumtoxin A führte im Vergleich zu Placebo nach vier, sechs und acht Wochen zu einer signifikant stärkeren Verbesserung des MAS-Fußgelenk-Wertes als unter Placebo. 381 Patienten mit Spastik der unteren Extremitäten nach einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung wurden entweder mit Abobotulinumtoxin A (n = 253) oder Placebo (n = 128) behandelt. Der primäre Endpunkt war der für das Sprunggelenk bewertete Wert auf der modifizierten Ashworth-Skala (MAS). Bei der Bewertung des Sprunggelenkes bei gestrecktem Knie (alle Plantarflexoren involviert) anhand von MAS wurde eine statistisch signifikante Verbesserung für 1500 Einheiten beobachtet.

Wirksamkeit von BoNT A bei frühem Einsatz

In einem systematischen Review mit Metaanalyse wurde die Wirksamkeit von BoNT A-Injektionen in der subakuten Phase, d. h. innerhalb von drei Monaten nach Schlaganfall, bei erwachsenen Patienten mit Arm- und Beinspastik untersucht. Die Verringerung der Spastik wurde in allen sechs eingeschlossenen randomisierten, kontrollierten Studien verglichen und ergab einen signifikanten Behandlungseffekt (p = 0,0002) auf die am stärksten betroffenen Gelenke zwischen der vierten und zwölften Woche nach Injektion. Es wurden jedoch kein Funktionszugewinn in den Wochen 4 und 20 bis 24 und keine Verminderung des Grades der Behinderung in Woche 4 erzielt. Ein Trend zur Verringerung der spastikbezogenen Schmerzen in Woche 4 nach der BoNT A-Behandlung (p = 0,13) wurde ebenfalls beobachtet.

Reduktion von Schmerzen durch BoNT A

Patienten mit Spastik nach Schlaganfall (PSS) leiden in den betroffenen Extremitäten häufig an Schmerzen, die ihre Lebensqualität beeinträchtigen. In einer randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie wurden 273 Patienten mit PSS für 22 bis 34 Wochen zusätzlich zu ihrer Standardtherapie entweder mit Onabotulinumtoxin A oder Placebo behandelt. Im Rahmen der Standardtherapie nahmen viele Patienten Begleitmedikamente ein, u. a. orale Antispastika, nicht steroidale Entzündungshemmer, Opioide, neuropathische Schmerzmittel. In einer offenen Studienphase konnten die Patienten bis zu 52 Wochen mit Onabotulinumtoxin A behandelt werden. Zu Studienbeginn gaben 74,3% der Patienten Schmerzen aufgrund ihrer Spastik an; 47,4 % hatten einen Schmerzscore ≥4 auf der 11-Punkte-Schmerzskala. Eine Behandlung mit Onabotulinumtoxin A konnte die Schmerzen nach zwölf Wochen signifikant stärker reduzieren als Placebo. Die Schmerzreduktion hielt bis zur 52. Woche an. Die Autoren vermuten neben dem muskelrelaxierenden Effekt eine direkte antinozizeptive Wirkung von Onabotulinumtoxin A.

Sicherheit der BoNT A-Therapie bei Spastizität

Wie jedes therapeutische Protein hat BoNT A das Potenzial, eine Immunantwort auszulösen, insbesondere bei wiederholter Verabreichung oder höheren Dosen. In der Folge können neutralisierende Antikörper entwickelt werden, die zu einem sekundären Behandlungsversagen führen können. Insgesamt treten unter BoNT A-Behandlungen geringere klinisch nachweisbare Konzentrationen von Antikörpern auf als unter anderen zugelassenen biologischen Produkten. In Metaanalysen betrug die Inzidenz von neutralisierenden Antikörpern während der kontinuierlichen Behandlung von Dystonien oder Spastizität mit BoNT A zwischen 0,5 % und 1,5 % pro Jahr. Eine neuere Untersuchung an länger behandelten Patienten hat jedoch deutlich höhere Raten neutralisierender Antikörper ergeben. Das Auftreten der Antikörper zeigte sich in dieser Studie mit der Gesamtdosis und der Dauer der Behandlung positiv korreliert. Bei Überdosierung und zu häufiger Anwendung von BoNT A besteht das Risiko von übersteigerter Muskelschwäche, der Bildung neutralisierender Antikörper und der Ausbreitung des Toxins an entfernten Stellen. Über Dysphagie wurde auch nach Injektionen berichtet, die nicht in die zervikale Muskulatur erfolgten. Das Risiko der Übertragung von Viren wie Hepatitis A, B und C, Hepatitis non-A, non-B (NANB) und HIV durch das in den BoNT A-Präparaten enthaltene Humanalbumin gilt als äußerst gering.

Fazit

Spastische Bewegungsstörungen nach Schlaganfall, Post Stroke Spasticity (PSS), sind häufig und treten bei nahezu jedem zweiten Patienten auf. Eine Früherkennung und adäquate Behandlung der Spastik ist entscheidend, um Muskelverkürzungen und Kontrakturen zu verhindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Das PSS-Risikoklassifizierungssystem in Form eines Ampelsystems kann Ärzte in der Primärversorgung, Physio- und Ergotherapeuten bei der Identifizierung und Priorisierung von Patienten mit PSS-Risiko unterstützen. Die Behandlung sollte in einem multiprofessionellen Team erfolgen, das gemeinsam mit dem Patienten die Therapieziele festlegt und mithilfe von standardisierten Assessments eine Bewertung des Therapieerfolges vornimmt. Wenn die physiotherapeutischen Maßnahmen bei fokaler Spastik nicht zum gewünschten Erfolg führen, wird in der aktuellen DGN-Leitlinie eine Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin A (BoNT A) empfohlen. Bei begleitenden generalisierten Spasmen können zusätzlich zu BoNT A orale Antispastika in niedriger Dosierung eingesetzt werden. In randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studien wurden Sicherheit und Wirksamkeit der BoNT A-Präparate nachgewiesen.

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LITERATUR

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