Aktuelle Entwicklungen bei der psychoonkologischen Versorgung von Patienten mit Krebserkrankungen

Mehr als die Hälfte aller Patienten mit einer Krebserkrankung ist psychisch stark belastet. Psychoonkologische Maßnahmen sollen Krebspatienten und auch ihre Angehörigen dabei unterstützen, die Erkrankung zu verarbeiten, soziale Ressourcen zu stärken und die psychische Befindlichkeit zu verbessern. Die psychoonkologische Versorgungsdichte in Deutschland weist allerdings erhebliche regionale Unterschiede auf.

Es ist eine besondere Herausforderung, diejenigen Patienten zu identifizieren, die eine psychoonkologische Unterstützung benötigen, und diese Patienten dann auch davon zu überzeugen, die Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Eine frühzeitige psychoonkologische Krisenintervention beugt einer Chronifizierung der psychologischen Reaktionen vor. Für Patienten, die unter einer Fatigue leiden oder eine unspezifische Progredienzangst entwickeln, gibt es besondere psychoonkologische Therapieangebote.
Psychoonkologische E-Health-Interventionen fördern die Therapieadhärenz, verbessern die Lebensqualität und unterstützen die Autonomie der Patienten.


Kursinfo
VNR-Nummer 2760709123098980015
Zeitraum 21.11.2023 - 20.11.2024
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte 4 Punkte (Kategorie D)
Zielgruppe Ärzte
Referent Dr. Martin Fedder
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Fachartikel
Lernmaterial Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner PROSOMA GmbH
Bewertung 4.3 (1000)

Einführung

Eine deutschlandweit durchgeführte repräsentative Untersuchung hat ergeben, dass über die Hälfte (52 %) aller Krebspatienten psychisch stark belastet ist. Ein Drittel (32 %) weist sogar Symptome auf, die das Ausmaß einer psychischen Störung erreichen, meist Anpassungsstörungen, Angststörungen und Depressionen. Weitaus häufiger sind subsyndromale Belastungen, wie Dysstress, Ängste, Depressivität, Progredienzangst und Fatigue. Die Psychoonkologie, synonym auch psychosoziale Onkologie, ist eine Teildisziplin der Onkologie und befasst sich mit den psychischen und sozialen Herausforderungen, die eine onkologische Erkrankung mit sich bringt. Dazu gehören nicht nur Maßnahmen zur Diagnostik und Therapie, sondern auch die Umsetzung von Strategien im Rahmen der Primär- und Sekundärprävention von onkologischen Erkrankungen, wie zum Beispiel der Veränderung eines mit einem erhöhten Krebsrisiko verbundenen Lebensstils sowie die Anleitung zur Teilnahme an Krebsfrüherkennungsprogrammen. Psychoonkologische Maßnahmen haben das Ziel, die Krankheitsverarbeitung zu unterstützen, die psychische Befindlichkeit sowie Begleit- und Folgeprobleme der medizinischen Diagnostik oder Therapie zu verbessern. Darüber hinaus sollen sie soziale Ressourcen stärken, Teilhabe ermöglichen und damit die Lebensqualität der Patienten und ihrer Angehörigen erhöhen. Die Unterstützung beim Umgang mit den psychischen und psychosozialen Folgen bei Langzeitüberlebenden wird bei den zunehmenden Therapieerfolgen in der Onkologie immer wichtiger. Die Unterstützungs- und Behandlungsangebote im Rahmen der Psychoonkologie sind evidenzbasiert. Die zugrunde liegende S3-Leitlinie von 2014 wurde überarbeitet und in der Neufassung im August 2023 veröffentlicht. Sie enthält erstmals auch ein Kapitel zu E-Health-Interventionen.

Psychoonkologische Versorgungsangebote

Die psychoonkologische Versorgung findet als Bestandteil des 2008 entwickelten nationalen Krebsplanes in Deutschland auf mehreren stationären und ambulanten Ebenen statt. Die psychoonkologische Versorgung im Akutkrankenhaus als Konsil- oder Liaisondienst ist das Basisangebot. Alle Kliniken, die als onkologisches Zentrum für die Behandlung verschiedener Tumorentitäten zertifiziert sind, müssen im Rahmen der Zertifizierung eine psychoonkologische Versorgung vorhalten. Die in diesen Zentren behandelten Patienten sind deshalb relativ gut psychoonkologisch versorgt. Der nächste Schritt ist die Rehabilitation, die sowohl stationär, teilstationär oder auch ambulant erfolgen kann. Da die Reha-Versorgung eher somatisch orientiert ist, sind die Kapazitäten für psychoonkologische Themen in diesem Setting häufig sehr begrenzt. Einige Praxen und Schwerpunktpraxen bieten neben der onkologischen Behandlung auch eine ambulante psychoonkologische Versorgung an. Krebsberatungsstellen stehen als zusätzliche wichtige ambulante Einrichtungen sowohl Erkrankten als auch Angehörigen mit individuellen Beratungsterminen zur Verfügung. Diejenigen Patienten, bei denen sich im Laufe einer onkologischen Erkrankung eine psychische Störung manifestiert, können sich in eine psychotherapeutische Behandlung begeben. Supportive Angebote wie zum Beispiel Kunst- und Musiktherapie, Sport, Entspannungsverfahren sowie Selbsthilfegruppen, runden die psychoonkologische Versorgung ab.

Psychoonkologische Versorgungssituation in Deutschland

Die psychoonkologische Versorgung von Patienten mit Krebserkrankung gehört heute zum Standard einer multiprofessionellen qualitativ hochwertigen und patientenorientierten Krebsmedizin und ist in Deutschland zertifizierungsrelevant. Psychoonkologische Interventionen reduzieren vor allem die durch Depressivität und Ängstlichkeit geprägte psychische Belastung und verbessern damit auch die Lebensqualität der betroffenen Patienten. Die meisten Studien wurden mit kurativ behandelten Patientinnen durchgeführt, die an Brustkrebs erkrankt waren. Die Studienergebnisse zur Wirksamkeit von psychoonkologischen Interventionen bei anderen Tumorentitäten waren allerdings vergleichbar. Eine bundesweite Bestandsaufnahme und Analyse der psychoonkologischen Versorgungssituation in Deutschland im Jahr 2018 dokumentierte erhebliche regionale Unterschiede bei der ambulanten Versorgung einschließlich der Nachsorge. Bei mehr als der Hälfte der Regionen lag die Versorgungsdichte unter 50 % und bei einem Drittel der Regionen zwischen 50 und 70 %. Im stationären Bereich war die Versorgung mit ebenfalls deutlichen regionalen Unterschieden etwas besser. Die Versorgungsdichte lag hier nur bei 40 % der Regionen unter 50 %, und bei 20 % der Regionen, insbesondere an universitären Standorten, wurden sogar über 110 % dokumentiert. Die Vielfalt der angemessenen und von den Leitlinien gestützten stationären Leistungsangeboten war sehr groß, es gab aber deutliche Defizite beim Angebot für Patienten mit Migrationshintergrund. Die Deutsche Krebshilfe hat eine entsprechende Ausschreibung gestartet, um diese Lücke zu schließen.

Herausforderungen in der psychoonkologischen Versorgung

Nicht alle Patienten mit einer onkologischen Erkrankung haben einen Bedarf an psychoonkologischer Unterstützung oder ein Bedürfnis nach entsprechenden Maßnahmen. Die erste Herausforderung besteht darin, diejenigen Patienten zu identifizieren, die psychisch belastet sind und einen Wunsch nach Unterstützung haben. Da es die vorhandenen Kapazitäten nicht erlauben, diese Thematik mit jedem Patienten eingehend zu besprechen, werden gut validierte Screeninginstrumente zur Erfassung der psychischen Belastung genutzt. Diese Instrumente sollten nur durch Personen erfolgen, die fachlich qualifiziert sind und psychische Belastungen und Störungen differenzieren können. Außerdem ist es wichtig, dass Klarheit darüber besteht, wie und zu welchem Zeitpunkt das Screening erfolgt. Nachdem die Personen mit einem Bedarf an psychoonkologischer Betreuung identifiziert wurden, müssen sie einer bedarfsgerechten Versorgung zugeführt werden. Entscheidende Voraussetzung dafür ist aber, dass die Patienten diese psychosozialen Versorgungsangebote tatsächlich auch in Anspruch nehmen, und dazu ist die richtige Kommunikation mit den Patienten ein entscheidender Faktor. Zu den Aufgaben des psychoonkologischen Teams gehört auch, die Patienten zu identifizieren, die an einer psychischen Störung leiden, um ihnen den Weg zu spezifischen Behandlungsmaßnahmen zu eröffnen. Von der Deutschen Krebshilfe wird die OptiScreen-Studie gefördert, die im Rahmen der psychoonkologischen Versorgungsforschung helfen soll, noch offene Fragen zu Barrieren und Hindernissen in der psychoonkologischen Versorgung zu beantworten. In dieser Studie wird untersucht, wie groß der Beratungs- und Unterstützungsbedarf ist und wie gut die verschiedenen Versorgungsmaßnahmen über den Verlauf der verschiedenen Phasen einer Krebserkrankung hinweg wirken. In der gegenwärtigen Situation zeigen etwa 25 bis 45 % der Krebspatienten eine signifikante psychische Belastung. Von dieser Klientel werden aber nur 10 % einer psychosozialen Versorgung zugewiesen. Neben den bereits genannten Gründen ist noch eine weitere Hürde für diese Unterversorgung verantwortlich. Nicht jeder Patient, der belastet ist, möchte mit einem Psychoonkologen sprechen. Ursachen dafür sind Unwissenheit, Unsicherheit und Angst vor Stigmatisierung. Die meisten Patienten können nicht zwischen den einzelnen psychologisch tätigen Berufsgruppen differenzieren. Aufgaben und Zielgruppen von Psychiatern, ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten, Psychologen, Psychosomatikern, Verhaltenstherapeuten, Tiefenpsychologen, Psychoanalytikern und systemischen Therapeuten unterscheiden sich teilweise erheblich, was sich den Patienten aber nicht unbedingt erschließt. Der Begriff des Psychoonkologen ist zudem nicht gesetzlich geschützt, was die Arbeit im ambulanten Bereich erschweren kann. Im stationären Bereich ist die psychoonkologische Tätigkeit im Rahmen der Zertifizierung besser definiert. Die Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung im Rahmen der stationären Versorgung ist nicht nur davon abhängig, wie belastet ein Patient wirklich ist, sondern auch davon, wie gut der Patient über die Angebote informiert ist und wie leicht es für ihn ist, diese Angebote auch wahrzunehmen. Dabei spielen auch die Empfehlungen von behandelnden Ärzten und entsprechende Vorerfahrungen der Patienten eine wichtige Rolle. Im ambulanten Bereich wird die Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung vor allem dann zu einer Herausforderung, wenn die Belastung subsyndromal ist. Dieser Belastungsschweregrad entspricht nicht den ICD-10-Kriterien für eine psychische Störung. Ein weiteres Problem sind die mit drei bis neun Monaten sehr langen Wartezeiten für eine Psychotherapie.

Neurobiologische Aspekte der psychischen Belastungen bei Tumorpatienten

In Situationen mit einer extremen psychischen Belastung wird das Angstzentrum im limbischen System der Amygdala direkt aktiviert. Unter normalen Umständen werden aufgenommene Informationen im Gehirn vom Hippocampus in den präfrontalen Kortex weitergeleitet, um dort verarbeitet, bewertet und in die individuelle Erfahrungswelt integriert zu werden. Vorhandene Erfahrungen in der Bewältigung von Stresssituationen können helfen, das Stress- und Angstsystem herunterzuregulieren. Bei extremen Angst- und Stresssituationen, wie zum Beispiel bei der erstmaligen Konfrontation mit einer Krebsdiagnose, kommt es im Gehirn zu neurobiologischen Blockaden, bei denen alle in der Situation vorherrschenden Sinneseindrücke auf einer primitiven Ebene in der Amygdala gespeichert werden, ohne dass sie verarbeitet werden können. Diese nicht verarbeiteten Sinneseindrücke verursachen bei den Betroffenen zum Beispiel typische posttraumatische Stresssymptome (PTBS-Symptome), die auch nach einer Behandlung durch völlig harmlose Situationen plötzlich ausgelöst werden können. Bei Intrusionen handelt es sich um sich aufdrängende Bilder, Gedanken, Gefühle, Alpträume oder Gerüche, die mit der Erkrankung verbunden sind. Als weiterer PTBS-Symptomkomplex gelten Zeichen einer physiologischen Übererregung (Hyperarousal), wie zum Beispiel Schreckhaftigkeit, Konzentrations- und Schlafstörungen oder das Gefühl einer ständigen Alarmbereitschaft. Auch bei der Vermeidung von bestimmten Orten, Informationen, Gedanken oder Personen, die an die Erkrankung erinnern, handelt es sich um posttraumatische Stresssymptome, die häufig vorkommen. Langanhaltender und in der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen als unkontrollierbar erlebter Stress durch die Krebserkrankung hat einen negativen Einfluss auf das Immunsystem, beeinflusst sowohl das sympathische Nervensystem mit den Neurotransmittern Adrenalin und Noradrenalin als auch die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-(HPA-)Achse mit einer erhöhten Freisetzung von Cortisol. Stressinduzierte Beeinträchtigungen der Immunfunktion können in vielfältiger Weise das Tumorwachstum und die Metastasierung beeinflussen.

Psychoonkologische Krisenintervention

In der neuen S3-Leitinie zur psychoonkologischen Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten nimmt die psychoonkologische Krisenintervention eine zentrale Rolle in der Versorgung von Patienten mit einer Krebserkrankung ein, da bei ihnen das Risiko einer akuten Krisenreaktion oder einer psychischen Störung aufgrund von krankheitsabhängigen Stressoren steigt. Patienten mit den folgenden Eigenschaften haben ein erhöhtes Risiko:
  • Reduzierte Bewältigungsressourcen
  • Fehlende soziale Unterstützung
  • Multiple somatische Symptomatik
  • Zusätzliche krankheitsunabhängige Stressoren
  • Frühere traumatische Erfahrungen
Eine erfolgreiche psychoonkologische Krisenintervention, die von psychoonkologisch weitergebildeten Fachkräften durchgeführt werden soll, besteht aus den drei Phasen emotionale Entlastung, Reflexion des Krisenanlasses und Reintegration. Sie sollte rasch beginnen, um einer Chronifizierung der psychischen Reaktionen vorzubeugen. Die Psychoedukation sollte immer anschaulich und praxisnah vermittelt werden. Eine Ausnahmesituation wie die Konfrontation mit der Diagnose einer Krebserkrankung sollte einfühlsam validiert werden; dabei sind supportive, haltgebende Interventionen wie aktives Zuhören hilfreich. Ein konfrontatives Vorgehen, Bagatellisieren, Rationalisieren oder Interpretieren ist zu vermeiden. Individuelle Ressourcen und Potenziale sollten aktiv erfragt und genutzt werden. Im Idealfall können diese Maßnahmen zu einer realitätsgerechten Wahrnehmung und Hoffnungsrückgewinnung führen. Eine interdisziplinäre Kooperation ist dabei empfehlenswert. Es liegen bislang keine kontrollierten Studien zur Wirksamkeit einer psychoonkologischen Krisenintervention vor, weil diese Form der Notfallversorgung schwer zu standardisieren ist. In der neuen S3-Leitlinie ist jedoch als Konsens dokumentiert, dass mit einer zeitnahen psychoonkologischen Krisenintervention der Entwicklung von psychischen Folgeproblemen vorgebeugt werden kann.

Progredienzangst

Die Angst vor dem Fortschreiten oder dem Wiederauftreten einer chronischen Erkrankung wird als Progredienzangst bezeichnet. Diese Angst umfasst auch den Krankheitsverlauf, zum Beispiel einen Schub oder ein Rezidiv einschließlich der psychosozialen Konsequenzen. Progredienzangst tritt nicht nur bei Krebserkrankungen auf, sondern auch bei anderen chronischen und schubweise verlaufenden Erkrankungen, wie zum Beispiel Rheuma, Multiple Sklerose oder Migräne. Das Besondere an der Progredienzangst ist, dass sie tatsächlich aus einer realen Erfahrung resultiert. Die Betroffenen haben die Erfahrung gemacht, dass sie an einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung leiden und die Angst vor einer Progredienz oder einem Rezidiv ist deshalb eine normale Reaktion mit einer hilfreichen signalgebenden Funktion. Die gesunde Form der Progredienzangst hilft dabei, Kontrolltermine einzuhalten oder regelmäßig Medikamente einzunehmen. Die Angst kann aber auch ein dysfunktionales Ausmaß annehmen, wenn die Betroffenen sich nur noch mit diesen Ängsten beschäftigen. Etwa die Hälfte der an Krebs Erkrankten berichtet über eine mittlere bis hohe Progredienzangst, die mit einer geringeren Lebensqualität einhergeht, einer höheren psychischen Belastung und einer häufigeren Inanspruchnahme des Gesundheitssystems. Angehörige von an Krebs erkrankten Patienten zeigen ein mindestens vergleichbares Ausmaß an Progredienzangst. Eine kurzzeitige Progredienzangst, die sich zum Beispiel einige Tage vor einem Nachsorgetermin entwickelt und sich nach dem Termin wieder abschwächt, ist nicht behandlungsbedürftig. Wenn die Angst kaum noch an eine konkrete Bedrohung durch die Krebserkrankung geknüpft ist und auch ohne erkennbare Auslöser auftritt, unspezifisch wird und eine Depressivität hinzukommt, sollte die Progredienzangst behandelt werden. Bei diesen Patienten ist aus dem Angstgefühl eine Stimmung geworden, Selbstfürsorge im Denken und Handeln bleibt aus, die Lebensqualität wird nachhaltig beeinträchtigt und verhindert einen normalen Alltag. Bei der Behandlung der Progredienzangst geht es nicht darum, diese Angst aufzulösen, sondern sie zu gestalten. Gestaltete Angst verliert an Bedrohlichkeit, sie soll umbewertet werden, um sie sinnvoll als Werkzeug nutzen zu können. Die Patienten lernen zunächst, durch psychoedukative Maßnahmen die Wahrnehmung der Angst zu verbessern. Es folgt als Kern der Behandlung eine Konfrontation in sensu mit der imaginativen Erarbeitung der schlimmstmöglichen Krankheitsentwicklung und der Entwicklung von Vorsorgemaßnahmen und Strategien, wie diese schlimmste Entwicklung verhindert werden kann. Die Patienten sollen lernen, ihre Angst als nützliches Instrument der Selbstfürsorge zu schätzen und sich darüber im Klaren sein, dass sie etwas tun können und der Entwicklung nicht hilflos ausgeliefert sind.

Fatigue

Fatigue ist keine natürliche Erschöpfung als normale Folge einer körperlichen oder geistigen Anstrengung, sondern ist als Tumorerschöpfung durch eine außerordentliche Müdigkeit, durch mangelnde Energiereserven oder durch ein massiv erhöhtes Ruhebedürfnis gekennzeichnet, das absolut unverhältnismäßig zu vorangegangenen Aktivitäten ist. Auch ohne vorangegangene Anstrengung fühlen sich die Betroffenen völlig erschöpft und sind selbst nach einer ausreichenden Erholungszeit nicht erholt. Eine in Deutschland durchgeführte Längsschnittstudie hat gezeigt, dass 32 % der Krebserkrankten bereits bei der stationären Aufnahme Fatigue-Symptome aufwiesen, 40 % bei Entlassung aus dem Krankenhaus und 36 % auch noch sechs Monate später. In einer weiteren Studie wurde dokumentiert, dass 48 % der Krebspatienten auch zwei Jahre nach Abschluss der Erstbehandlung noch Zeichen und Beschwerden der Fatigue aufwiesen, bei 12 % waren die Beschwerden sogar sehr stark ausgeprägt. Die häufigsten Beschwerden bei Fatigue sind Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Erschöpfung und verminderte Leistungsfähigkeit. Die Patienten geraten oft in einen Teufelskreis aus abnehmender Leistungsfähigkeit, Vermeidung von Anstrengung, Inaktivität, ausbleibender Regeneration, zunehmender Hilflosigkeit und einer depressiven Stimmung, was die Leistungsfähigkeit immer weiter verschlechtert. Fatigue kann zu jedem Zeitpunkt der Erkrankung auftreten, als frühes Zeichen bereits vor der Diagnose, während der Behandlung, nach deren Abschluss oder bei Rezidiven oder bei Krankheitsprogress. Im klinischen Alltag werden die Belastung der Patienten durch die Fatigue und damit auch die Behandlungsbedürftigkeit oft nicht ausreichend wahrgenommen. Erkrankte sprechen die Beschwerden häufig nicht an, weil sie nicht als klagsam erscheinen möchten oder die Symptome der Krankheit oder der Therapie zuordnen. Oft besteht auch die Befürchtung, dass Fatigue-Symptome gleichbedeutend mit einem Rückfall sind. Im Behandlungsteam gibt es oft zu wenig Zeit sowie zu geringe Kenntnisse zur Diagnostik der Fatigue und zu den Behandlungsmöglichkeiten. Die Leitlinie des „National Comprehensive Cancer Centers” empfiehlt, bei allen Erkrankten während der Behandlung und in der Nachsorge in regelmäßigen Abständen gezielt nach Müdigkeit und Erschöpfungssymptomen zu fragen. Hilfreich sind visuelle Analogskalen mit einer Skala von 0 (nicht müde) bis 10 (stärkste Müdigkeit). Werte ≥4 sprechen für eine deutliche Müdigkeit. Außerdem sollte mit einer weiteren Analogskala die Auswirkung der Fatigue auf den Alltag erfasst werden. Bei Werten ab 5 (deutliche Auswirkungen auf den Alltag) sollte eine weiterführende Diagnostik der Fatigue eingeleitet werden. Die Unterscheidung von Depression und Fatigue ist wichtig und differenzialtherapeutisch relevant. Bei etwa einem Drittel der Patienten sind sowohl Zeichen einer Depression als auch einer Fatigue nachweisbar. Die Behandlung orientiert sich an der individuellen Ausprägung der körperlichen, psychischen und kognitiven Beschwerden, dem Ausmaß der funktionellen Beeinträchtigung und den Vorstellungen der Betroffenen. Die Einbeziehung des sozialen Umfeldes ist wichtig. Zur Therapie gehören die Vermittlung von Informationen über die Fatigue, psychosoziale Interventionen, körperliches Training sowie eine medikamentöse Behandlung. Wenn die kausale Ursache bekannt ist, ist ein zielgerichtetes Vorgehen möglich.

Psychoonkologische E-Health-Interventionen

Unter dem Begriff E-Health fasst das Bundesministerium für Gesundheit Anwendungen und Angebote zusammen, die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien zur Unterstützung der Behandlung und Betreuung von Patienten bieten. Mit Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) am 19. Dezember 2019 wurde die Voraussetzung für die Einführung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) geschaffen. DiGA sind verordnungsfähige Medizinprodukte der Klasse I oder IIa, deren medizinische Zwecke im Wesentlichen durch eine digitale Hauptfunktion erreicht werden. Das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetzt (DVPMG), das am 9. Juni 2021 in Kraft getreten ist, enthält unter anderem wichtige Neuregelungen zur Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur, der elektronischen Patientenakte und des E-Rezeptes. In der aktualisierten S3-Leitlinie zur Psychoonkologie werden erstmals evidenzbasierte E-Health-Interventionen empfohlen, die Krebspatienten unabhängig vom Belastungsgrad angeboten werden sollen. Sie sind wirksam zur Verbesserung der Lebensqualität, zur Reduktion der psychischen Belastung und zur Reduktion von Depressivität, Angst und Fatigue. Zum Nutzen von E-Health-Interventionen zur Schmerzreduktion und im Rahmen der Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen liegt bislang keine Evidenz vor. E-Health-Interventionen schließen eine Versorgungslücke, ermöglichen eine kontinuierliche psychoonkologische Begleitung und sind besonders vorteilhaft für Gebiete mit geringer Versorgungsdichte oder für Patienten mit psychischen und physischen Einschränkungen, die einen Präsenzkontakt erschweren.

Digitale Gesundheitsanwendungen

Der Nutzen der DiGA-Apps zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Reduktion von psychischer Belastung, Depressivität, Angst und Fatigue bei Krebspatienten ist evidenzbasiert. Neben einer Verbesserung der Therapieadhärenz unterstützen sie die Autonomie der Patienten durch die selbstbestimmte Nutzung und wirken bei einer notwendigen Psychotherapie einer Stigmatisierung der Patienten entgegen. Bei Patienten mit einem Verdacht auf psychische Störungen oder einer unipolaren Depression ist zu beachten, dass zunächst eine leitliniengerechte Diagnose und Behandlung der Grunderkrankung erfolgt, bevor digitale Gesundheitsanwendungen verordnet werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat eine Reihe von digitalen Gesundheitsanwendungen für verschiedene Indikationsbereiche gemäß § 139e SGB V bewertet und auf einer Website als verordnungs- und erstattungsfähige DiGA in einem Verzeichnis gelistet und kommentiert. In der Kategorie Krebs sind dort bislang zwei vorläufig aufgenommene DiGA aufgeführt. Sie können bei Patientinnen angewendet werden, die an Brustkrebs erkrankt sind. Die Einschränkung auf die Diagnose Brustkrebs basiert auf der vorhandenen Evidenz. Der Status der vorläufigen Aufnahme besagt, dass der Nachweis eines positiven Versorgungseffektes noch nicht hinreichend erbracht worden ist und die Hersteller noch weitere wissenschaftliche Erhebungen und Analysen durchführen müssen, um dauerhaft in das DiGA-Verzeichnis des BfArM aufgenommen zu werden. Das BfArM behält sich vor, DiGA bei unzureichendem Evidenznachweis aus dem Verzeichnis zu streichen.

DiGA-Apps in der Praxis

DiGA-Apps können zwar die Therapieadhärenz der Patienten verbessern, aber dazu müssen sie auch genutzt werden. Die Adhärenz der Patienten im Zusammenhang mit der Nutzung von DiGA-Apps ohne weitere Begleitung ist nicht ausreichend, was auch mit der mangelnden digitalen Affinität der von Krebserkrankungen betroffenen Menschen mit einem Durchschnittsalter >60 Jahren begründet wird. Zur Schließung von regionalen Lücken bei der psychoonkologischen Versorgung reicht die Verordnung von DiGA-Apps allein nicht aus. Die Betroffenen benötigen auch eine kompetente Begleitung bei der praktischen Anwendung dieser Software. Erste Real-World-Daten einer prospektiven Beobachtungskohortenstudie der Universität Erlangen mit einer kleinen Gruppe von 39 Patienten mit rheumatischen Erkrankungen zeigen, dass nur die Hälfte der Patienten die verordnete App herunterlädt und nur ein Viertel sie tatsächlich regelmäßig nutzt. In der neuen S3-Leitlinie wird ausdrücklich betont, dass psychoonkologische E-Health-Interventionen in der klinischen Praxis nicht die Angebote ersetzen sollen, die auf einem persönlichen Kontakt aufbauen, sondern im Sinne einer hybriden psychoonkologischen Versorgung ergänzend angeboten werden sollen. Diesem Hinweis tragen zum Beispiel neueste Entwicklungen Rechnung, wie bei der Living Well Plus App.

Optimune

Bei Optimune handelt es sich um eine webbasierte digitale Gesundheitsanwendung für Patientinnen mit Brustkrebs, die ihre Erstbehandlung abgeschlossen haben, sich noch belastet fühlen und mindestens 18 Jahre alt sind. Optimune vermittelt insbesondere Methoden und Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie und weist eine Haupt- und mehrere unterstützende Nebenfunktionen auf. Die Hauptfunktion besteht aus einem virtuellen Dialog, mit dem die Nutzerin therapeutisch hilfreiche Informationen angeboten werden. Aus diesem Angebot können diejenigen Optionen ausgewählt werden, die am meisten interessieren und/oder am besten zur individuellen Situation passen. In einer klinischen Studie hat sich gezeigt, dass Optimune zusätzlich zu einer sonst üblichen Versorgung ohne Berücksichtigung einer Psychotherapie (begleitend oder im Nachgang) die Lebensqualität nach zwölf Wochen stärker verbessert als die übliche Versorgung allein.

PINK! Coach

Die App PINK! Coach ist eine digitale Anwendung, die zur Stärkung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und der Gesundheitskompetenz sowie einer Linderung der psychischen, psychosomatischen und somatischen Folgen einer Brustkrebserkrankung dient. Die App unterstützt die Patientinnen bei der Veränderung ihres Lebensstiles hin zu mehr Bewegung, gesünderer Ernährung und Achtsamkeit gemäß den aktuellen Leitlinienempfehlungen. Die Hauptfunktionen sind ein Check-up, Wissensvermittlung, Veränderung, Motivation und automatisiertes Coaching sowie das Nebenwirkungsmanagement. Der Check-up besteht aus einem leitlinienkonformen Screeninginstrument zur freiwilligen Selbstbeobachtung, mit dem Nutzerinnen alle zwei Wochen ihre Belastung messen können. In der Wissensvermittlung werden die zur Verhaltensanpassung notwendigen Informationen, Konzepte und Übungen zu den Themen Ernährung, Bewegung und mentale Gesundheit in Form von Artikeln, Kurzvideos und Podcasts präsentiert. Als Teil des Veränderungsprozesses führt PINK! Coach die Patienten in eine Selbstbeobachtung, in der sie ihre Ernährung und Bewegung bewusster wahrnehmen. Dazu werden die Ergebnisse eines Ernährungs- und Bewegungstrackings monatlich analysiert und dargestellt. Über ein automatisiertes und pseudoindividualisiertes Coaching in Form von Pushmitteilungen wird die Motivation zur Veränderung unterstützt. Über einen Chatbot haben die Patienten die Möglichkeit, sich über die Nebenwirkungen von medikamentösen Tumortherapien, Bestrahlungen und Brustkrebsoperationen zu informieren. Unter der Annahme, dass die eingegebenen Symptome auf Nebenwirkungen der eingenommenen Medikamente beruhen, werden Handlungsempfehlungen angezeigt, wobei es hier primär um Tipps zur Selbsthilfe, das heißt um die Anwendung herkömmlicher Hausmittel und Verhaltensweisen geht. Bei einer stärkeren Ausprägung der Symptome wird direkt darauf verwiesen, den behandelnden Arzt zu kontaktieren. PINK! Coach ist damit eine therapiebegleitende digitale Lösung für Brustkrebspatientinnen vom Zeitpunkt der Diagnose bis zur letzten Nachsorge oder noch darüber hinaus.

Living Well App

Die psychoonkologische Living Well App wurde speziell für Frauen entwickelt und unterstützt Patientinnen während ihrer Krebstherapie. Die App bietet ein zwölfwöchiges Therapieprogramm, das kurz nach der Diagnose starten sollte und die Patientinnen über die folgenden Wochen mit OP, Chemotherapie, Bestrahlung und Anschlussheilbehandlung begleitet. Durch den Einsatz von interaktiven Elementen kann die App auf die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen reagieren. Living Well entspricht der CE-Kennzeichnung für Medizinprodukte der Klasse I. Der Antrag auf Zulassung als DiGA ist gestellt. Ziel ist es, dass die Living Well App allen Versicherten in Deutschland verordnet und die Kosten erstattet werden können. Nach Installation erfolgt die Inbetriebnahme mit dem Eintrag eines Benutzernamens und einem Onboarding-Prozess, indem ein Psychoonkologe auf die Wichtigkeit und Häufigkeit der Nutzung hinweist. Die Patientinnen werden von einem Avatar durch die verschiedenen Anwendungen und Angebote geführt. Neben dem Führen eines Tagebuches zur Selbstreflexion können sie verschiedene 15- bis 20-minütige Sitzungen zur Emotionsregulierung, zur kognitiven Arbeit mit negativen Gedanken sowie zur Planung und Verhaltensaktivierung absolvieren. In einer Vielzahl von Übungen werden die Patientinnen zum Beispiel zur Arbeit mit der Vorstellungskraft, zu vitalen Aktivitäten, zur Achtsamkeit, Selbstwirksamkeit und Dankbarkeit angeleitet. Mindestens einmal pro Woche sollen die Patientinnen einen Emotionstest anwenden und täglich ein Stressthermometer ausfüllen. Dadurch sollen Fortschritte erkannt und Problembereiche identifiziert werden. Neben den insgesamt 22 Lektionen und 14 Übungen können die Patientinnen in der Bibliothek der Living Well App eine große Anzahl von Artikeln mit medizinischen Informationen und Modulen mit Fragen und Antworten nutzen. Mutmachende Interviews mit realen Patientinnen, die ihre physischen und mentalen Belastungen teilen, laden zur Identifikation ein. Design und Kommunikation in der Living Well App wurden mit Patientinnen validieren.

Living Well Plus

Die App Living Well Plus geht über das Angebot von Living Well hinaus. Die App ist für alle Krebsindikationen konzipiert. Zusätzlich kann in der App eine männliche und eine weibliche Version ausgewählt werden. Die Inhalte, das Design und die Animationen sind geschlechtsspezifisch dargestellt. In der Living Well Plus App können die Patienten im Sinne einer hybriden psychoonkologischen Versorgung optional einen Telecoach buchen, der sie nach telefonischer Terminvereinbarung bei der Einrichtung und der optimalen Nutzung der App unterstützt. Im Rahmen der telefonisch stattfindenden Coaching-Einheiten werden die Patienten durch zertifizierte und in der kognitiven Verhaltenstherapie geschulte Psychologen begleitet. Der Coach geht auf den individuellen Fortschritt ein und motiviert zur kontinuierlichen Nutzung der Living Well Plus App. Innerhalb der dreimonatigen Intensivphase können von den Patienten bis zu drei Telecoach-Termine gebucht werden. Weitere Termine sind während der Laufzeit des Programmes von insgesamt zwölf Monaten möglich. Das Living Well Plus Angebot wird nicht als DiGA-Leistung aufgeführt, sondern den Krankenkassen im Rahmen eines Selektivvertrages angeboten. Derzeit wird Living Well Plus von der Pronova BKK und der Techniker Krankenkasse erstattet.

Fazit

  • Die evidenzbasierten psychoonkologischen Versorgungsangebote für Patienten mit Krebserkrankung sind in einer aktuellen S3-Leitlinie zusammengefasst und haben das Ziel, die psychische Belastung der Patienten und deren Angehörige zu reduzieren und die Lebensqualität zu erhöhen
  • Über die Hälfte der Krebspatienten ist psychisch stark belastet, wobei subsyndromale Belastungen wie Dysstress, Depressivität, Progredienzangst und Fatigue besonders häufig sind.
  • Es ist eine besondere Herausforderung, die Patienten zu identifizieren, die eine psychoonkologische Unterstützung benötigen, und diese Patienten dazu zu bewegen, die Unterstützung auch anzunehmen.
  • Eine rasche psychoonkologische Krisenintervention beugt der Chronifizierung der psychischen Reaktionen nach der Konfrontation mit einer Ausnahmesituation vor.
  • Unspezifische Progredienzangst und Fatigue belasten onkologische Patienten zusätzlich, sind behandlungsbedürftig und sollten rechtzeitig erkannt und behandelt werden.
  • Psychoonkologische E-Health-Interventionen sind evidenzbasierte verordnungsfähige digitale Medizinprodukte in Form von Apps oder web-basierten Kursen, die die Lebensqualität verbessern, die Therapieadhärenz fördern und die Autonomie der Patienten unterstützen.
  • Um den Nutzen von DiGA-Apps zu fördern, sollten Patienten nach der Verordnung im Sinne einer hybriden psychoonkologischen Versorgung geschult und begleitet werden.

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