Hämophilie A: Schweregrade und Prävalenzen
Hämophilie A ist eine angeborene Blutungsstörung, die durch einen Mangel an Gerinnungsfaktor VIII (FVIII) gekennzeichnet ist. Der Schweregrad der Hämophilie ist weitgehend von der verbleibenden Faktoraktivität abhängig. Eine leichte Hämophilie liegt vor, wenn die FVIII-Restaktivität über 5 % bis 40 % beträgt. Von moderater Hämophilie spricht man bei einer Restaktivität zwischen 1 % und 5 %. Bei einer schweren Hämophilie beträgt die FVIII-Restaktivität weniger als 1 %. Bei Personen mit schwerer Hämophilie A wird die Diagnose in der Regel in den ersten beiden Lebensjahren gestellt. Ohne prophylaktische Behandlung kann es im Durchschnitt zu 24 bis 60 spontanen Blutungsepisoden im Jahr kommen. Bei Personen mit moderater Hämophilie A sind spontane Blutungen seltener; allerdings kommt es bei ihnen zu verlängerten oder verzögerten Blutungen nach relativ kleinen Traumata, und die Diagnose wird in der Regel vor dem fünften bis sechsten Lebensjahr gestellt. Bei Personen mit leichter Hämophilie A sind spontane Blutungen selten; ohne prä- und postoperative Behandlung kann es jedoch bei chirurgischen Eingriffen oder Zahnextraktionen zu anomalen Blutungen kommen. Auch sind häufig Nasenbluten und blaue Flecken zu beobachten. Die Häufigkeit der Blutungsepisoden ist sehr unterschiedlich und liegt in der Regel zwischen einmal pro Jahr und einmal alle zehn Jahre. Die Diagnose „Leichte Hämophilie” wird meist erst im späteren Leben gestellt. Dem Paul-Ehrlich-Institut wurden für das Jahr 2019 ca. 2400 Personen mit schwerer und ca. 1500 mit nicht schwerer Hämophilie A gemeldet. Unter diesen waren 990 mit leichter und subklinischer Hämophilie A. Vermutlich sind Personen mit einer leichten Form der Erkrankung unterrepräsentiert, da hierzu weniger Meldungen eingehen.
Genetik: Ursachen für die nicht schwere Hämophilie
Hämophilie A wird durch Mutationen im F8-Gen verursacht, das für den Gerinnungsfaktor VIII (FVIII) kodiert. Dabei kann die Art der Mutation den Schweregrad der Erkrankung vorhersagen. Bei der schweren Form der Erkrankung überwiegen Nullmutationen, also partielle oder vollständige Gendeletionen, Intron-Inversionen, Stopcodon-Insertionen etc. Bei Patienten mit leichter Hämophilie A hingegen sind sogenannte Missense-Mutationen am häufigsten, die hier etwa 89 % der Mutationsarten ausmachen. Dabei handelt es sich um Mutationen, bei denen durch Basenaustausch der DNA ein verändertes Codon entsteht und dies zum Einbau einer falschen Aminosäure in das FVIII-Molekül führt. Bei 2,9 % der Patienten mit nicht schwerer Hämophilie A ist mit den bisherigen Methoden keine Mutation in den kodierenden und regulatorischen Regionen des F8-Gens nachweisbar.
Diagnostik der nicht schweren Hämophilie
Eine nicht schwere Hämophilie kann aufgrund einer familiären Anamnese oder nach einem Blutungsereignis diagnostiziert werden. Besteht aufgrund der Blutungs- und Familienanamnese ein Verdacht auf Hämophilie, ist neben der allgemeinen Gerinnungsdiagnostik auch ein Faktortest zum Nachweis eines Mangels an FVIII oder FIX erforderlich. In einigen Fällen von leichter Hämophilie kann es vorkommen, dass die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) innerhalb des Normbereiches liegt. Daher empfiehlt die World Federation of Hemophilia (WFH) in ihren Leitlinien, dass ein normaler aPTT-Wert nicht zum Ausschluss einer leichten Hämophilie herangezogen werden darf. Auch anstrengende Bewegungen oder Stress kann die FVIII-Aktivität von Patienten mit leichter Hämophilie A vorübergehend in den Referenzbereich ansteigen lassen. Daher sollten die Patienten vor der Venenpunktion grundsätzlich einige Minuten lang ruhen. Bei den Tests ist zu berücksichtigen, dass weder der einstufige noch der chromogene Assay die FVIII-Aktivität bei Personen mit leichter Hämophilie immer genau widergeben. Angesichts der Diskrepanzen zwischen den Assays empfiehlt die WFH, beide Assays zu verwenden. Sicherheit bringt in der Regel eine Genotypisierung, um die Diagnose Hämophilie zu bestätigen und die Hämophilie von Blutungsstörungen zu unterscheiden, die möglicherweise einen ähnlichen Phänotyp aufweisen, wie z. B. das Von-Willebrand-Syndrom.
Risiko der Diagnoseverzögerung bei nicht schwerer Hämophilie
Im Allgemeinen wird eine leichte Hämophilie erst dann diagnostiziert, wenn eine Verletzung oder ein medizinischer Eingriff zu einer längeren Blutung führt. In einer französischen Kohorte von 599 Personen mit Hämophilie, die zwischen 1980 und 1994 geboren wurden, lag das mediane Alter bei der Diagnose einer leichten Hämophilie bei 28,6 Monaten, verglichen mit 5,8 Monaten bei schwerer Hämophilie und 9,0 Monaten bei der moderaten Form. Spätere Daten (1990 bis 1999) von 100 schwedischen Patienten zeigten ein deutlich höheres Alter bei der ersten Blutung bei Patienten mit leichter Hämophilie (Median 6,5 Jahre, Spanne 3,8 bis 18,2 Jahre) im Vergleich zu dem von Patienten mit moderater (Median 4,0 Jahre, Spanne 1,6 bis 7,0 Jahre) oder schwerer Hämophilie (Median 1,0 Jahre, Spanne 0,5 bis 2,0 Jahre). Patienten, die sich nicht bewusst sind, dass sie an Hämophilie leiden, ignorieren die Symptome möglicherweise so lange, bis sie schwerwiegend werden oder sich Komplikationen entwickelt haben. Diagnoseverzögerungen können fatale Konsequenzen haben und zu starken, manchmal lebensbedrohlichen Blutungen führen.
INSIGHT: Blutungsrisiken bei nicht schwerer Hämophilie
Auch wenn die nicht schwere Hämophilie durch einen milderen Blutungsphänotyp gekennzeichnet ist, sind bei diesen Patienten lebensbedrohliche oder tödliche Blutungen möglich. Intrakranielle Blutungen sind eine der Hauptursachen für tödliche Blutungen. Daten aus der INSIGHT-Studie, einer internationalen Kohortenstudie mit über 2700 Patienten mit nicht schwerer Hämophilie haben gezeigt: Im Vergleich zur männlichen europäischen Bevölkerung ist die Sterblichkeitsrate für intrakranielle Blutungen bei Personen mit nicht schwerer Hämophilie A in allen Altersgruppen um das 3,5-Fache erhöht. Patienten, die an intrakraniellen Blutungen starben, wiesen meist eine leichte Hämophilie ohne eindeutige Begleiterkrankungen auf. Daten aus dem italienischen EMO.REC-Register konnten zeigen, dass das Risiko für das Auftreten einer intrakraniellen Blutung bei Erwachsenen mit leichter Hämophilie ähnlich hoch ist wie bei Erwachsenen mit schwerer und moderater Hämophilie. Bei leichter Hämophilie erwies sich Bluthochdruck als ein Hauptrisikofaktor für intrakranielle Blutungen. Da es kaum Unterschiede in den Hypertonieraten zwischen leichter und schwerer Hämophilie gibt, sollten auch Patienten mit nicht schwerer Hämophilie ihren Blutdruck regelmäßig kontrollieren und gegebenenfalls adäquat behandeln lassen.
Hohe Krankheitslast bei Erwachsenen mit nicht schwerer Hämophilie
In der retrospektiven, europäischen Studie CHESS II wurden 258 Patienten mit Hämophilie A aller Schweregrade zu ihrem Alltag mit der Erkrankung befragt und die Inanspruchnahme von Gesundheitsressourcen mithilfe von elektronischen Fallberichtsformularen zwölf Monate rückwirkend erfasst. Ca. 16 % dieser Patienten hatten eine leichte, ca. 28 % eine moderate und ca. 56 % eine schwere Hämophilie A (HA). Von den Personen mit schwerer HA erhielten 60 % derzeit eine FVIII-Prophylaxe gegenüber ca. 5 % bzw. 7 % der Personen mit leichter und moderater HA. Bei allen Schweregraden gab es jeweils eine beachtliche Anzahl von Patienten, die angab, dass sie ihre körperlichen und sozialen Aktivitäten einschränken mussten. Obwohl die Auswirkungen auf den Alltag bei Menschen mit schwerer HA am stärksten ausgeprägt waren, zeigen sie sich auch bei leichter und moderater HA. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass es in diesen Gruppen möglicherweise einen ungedeckten medizinischen Bedarf gibt. Frühere Studien deuten darauf hin, dass die Lebensqualität bei moderater Hämophilie tendenziell sogar geringer ist als bei schwerer Hämophilie. Möglicherweise ist dies ein Hinweis darauf, dass Patienten mit nicht schwerer Hämophilie unterbehandelt sind.
DYNAMO: Blutungsphänotyp bei nicht schwerer Hämophilie
Um den Blutungsphänotyp von Patienten mit nicht schwerer Hämophilie zu untersuchen und den Zusammenhang von Gelenkblutungen mit den Faktorspiegeln zu beleuchten, wurde die DYNAMO-Studie durchgeführt. In die multizentrische Beobachtungsstudie wurden 304 männliche Hämophilie-Patienten (70 mit moderater und 234 mit leichter Hämophilie) eingeschlossen. Die Patienten waren zwischen zwölf und 55 Jahre alt und. Die Ausgangswerte der FVIII-/FIX-Spiegel lagen zwischen 2 IE/dl und 35 IE/dl. Fast alle Patienten (94 %) erhielten eine Faktorbehandlung nach Bedarf, nur 6 % eine Prophylaxe. Die Daten zu Blutungsepisoden wurden retrospektiv über einen Beobachtungszeitraum von median elf Jahren erhoben. Insgesamt hatten 81 % der Patienten in der Vergangenheit mindestens eine Blutung und 51 % mindestens eine Gelenkblutung erlitten. Im Median waren die Patienten bei ihrer ersten Gelenkblutung zehn Jahre alt. Die mediane „annual joint bleeding rate” (AJBR) betrug 0,0 für die Gesamtkohorte und 0,2 bzw. 0,0 für Personen mit moderater und leichter Hämophilie. Dabei zeigte sich eine negative Korrelation zwischen Faktorspiegel und Gelenkblutungsrate: Pro 0,01 IE/ml Anstieg des FVIII-/FIX-Basisspiegels war die Gelenkblutungsrate um 6 % und die spontane Gelenkblutungsrate um 12 % verringert. Trotz der geringen Gelenkblutungsraten kam es bei der Hälfte der Patienten mit nicht schwerer Hämophilie in der Vergangenheit zu mindestens einer Gelenkblutung, die mit Faktorkonzentrat behandelt werden musste. Da eine hämophile Arthropathie bereits durch eine einmalige Blutung entstehen kann, sind auch Patienten mit leichter Hämophilie einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Gelenkschäden ausgesetzt. Welche Verfahren sich eignen, um Gelenkschäden bei Hämophilie-Patienten möglichst früh zu erkennen, stellen wir im Folgenden kurz dar.
Beurteilung des Gelenkstatus bei Hämophilie
Der Haemophilia Joint Health Score (HJHS) hat sich für die Bewertung der klinischen Funktion bewährt – sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Obwohl der HJHS empfindlicher ist als der Gilbert-Score, werden mit diesem Score nicht alle frühen Gelenkveränderungen erfasst. Der radiologische Pettersson-Score ist das am häufigsten verwendete bildgebende Verfahren zur Beurteilung der Gelenkstruktur. Dieser Score ist jedoch nicht empfindlich für frühe Gelenkveränderungen. Er sollte daher eher zur Beurteilung später arthropathischer Veränderungen eingesetzt werden. Die Ultraschalluntersuchung eignet sich hingegen für die Beurteilung der Weichteil- und peripheren Knorpelpathologie bei früher hämophiler Arthropathie. Unter Anwendung des Haemophilia Early Arthropathy Detection with Ultrasound Score (HEAD-US-Score) lassen sich frühe und subklinische Gelenkerkrankungen erkennen. Die Magnetresonanztomografie (MRT) ist das wohl empfindlichste Verfahren zur Beurteilung der Gelenkstruktur, da sie frühe Weichteil- und osteochondrale Veränderungen zeigt. Es gibt verschiedene Skalen, die zur Quantifizierung der Arthropathie im MRT verwendet werden können, u. a. der IPSG-MRT-Score der International Prophylaxis Study Group. Mithilfe von MRT-Untersuchungen konnte in einer aktuellen Studie bei Patienten mit nicht schwerer Hämophilie gezeigt werden, dass selbst subklinische Blutungen zu Gelenkschädigungen führen können.
Frühe Gelenkschäden auch ohne erkennbare Blutungen
Im Rahmen der DYNAMO-Studie wurde der Gelenkstatus bei einer Gruppe von 51 Patienten mit nicht schwerer Hämophilie (63 % leichte HA, 37 % moderate HA) mittels MRT anhand des IPSG-Scores erhoben. Die Patienten waren im Median 43 Jahre alt, 94 % erhielten eine Faktorbehandlung nach Bedarf. Die mediane jährliche Gelenkblutungsrate (AJBR), die für einen Zeitraum von ca. zehn Jahren vor Studienbeginn ermittelt wurde, betrug 0,0. Weichteilveränderungen waren bei 19 % der Patienten in den Ellenbogen und bei jeweils 71 % in Knie- und Sprunggelenken vorhanden. Knöcherne Veränderungen fand man bei 20 % bzw. 35 % der Patienten in den Knie- und Sprunggelenken, jedoch keine in den Ellenbogen. Insgesamt waren die Sprunggelenke am häufigsten und strukturell am stärksten von Veränderungen betroffen. Die Ergebnisse zeigen, dass ein erheblicher Anteil der Erwachsenen mit nicht schwerer Hämophilie trotz geringer oder subklinischer Gelenkblutungsraten Gelenkveränderungen im MRT aufweist. Daher ist es wichtig, auch Patienten mit nicht schwerer Hämophilie über die Vorbeugung und Früherkennung von Gelenkblutungen aufzuklären. Auch sollte die Entwicklung eines Gelenk-Screening-Programmes zur Früherkennung struktureller Gelenkveränderungen für diese Patienten in Betracht gezogen werden.
Frühe Gelenkschäden entgehen meist der klinischen Diagnose
Die Ergebnisse einer retrospektiven Untersuchung aus dem Jahr 2013 unterstreichen, dass das Fortschreiten von Gelenkveränderungen selbst während intensiver Prophylaxe ein Prozess mit schleichender Progression über Jahre hinweg ist. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass zum Zeitpunkt der Studie noch keine rekombinanten „extended half-life FVIII”-Produkte (EHL-rFVIII) zur Verfügung standen. Während einer Beobachtungszeit von 26 Jahren wurden bei 49 Patienten mit schwerer Hämophilie alle drei bis fünf Jahre die Pettersson-Scores auf der Grundlage von Röntgenbildern und einmal pro Jahr die Gilbert-Scores ermittelt. Scores ≥2 wurden als pathologisch angesehen. Die Sprunggelenke waren die ersten Gelenke, die nach etwa zehn Jahren eine Arthropathie entwickelten, deutlich später gefolgt von den Knie- und den Ellenbogengelenken. Die klinischen Gilbert-Scores zeigten erst ein bis zwei Jahrzehnte nach den Pettersson-Scores pathologische Befunde.
Mit leichter Hämophilie früher Gelenkschäden als Gerinnungsgesunde
Dass bereits Patienten mit leichter Hämophilie ein erhöhtes Risiko für Arthropathien haben, zeigen Daten einer schwedischen Registerstudie. Die Studie umfasste 315 Personen mit leichter Hämophilie A und B (76 % HA, 24 % HB) und 1529 Personen gleichen Alters ohne Blutungsstörungen aus der Allgemeinbevölkerung als Vergleichsgruppe. Im Alter von 60 Jahren wurde bereits bei der Hälfte der Patienten mit leichter Hämophilie eine Arthropathiebezogene Diagnose gestellt, verglichen mit etwa 11 % der Vergleichsgruppe. Der Unterschied im Alter bei der ersten Arthropathie-Diagnose war statistisch signifikant zwischen den beiden Gruppen (p = 0,002). Zudem hatten im Alter von 60 Jahren bereits 13,9 % der Patienten mit leichter Hämophilie und 4 % der Vergleichspatienten eine erste Gelenkoperation.
Arthropathien bei Patienten mit moderater HA
In den meisten Zentren wird eine schwere Hämophilie eher mit einer Prophylaxe behandelt als eine nicht schwere Hämophilie. Die Gründe hierfür sind vielschichtig, könnten aber mit der Annahme zusammenhängen, dass eine moderate Hämophilie in ähnlicher Weise vor Arthropathie schützt wie eine Prophylaxe bei schwerer Hämophilie. Wäre die moderate Hämophilie phänotypisch vergleichbar mit einer schweren Hämophilie unter Prophylaxe, müsste die Arthropathie selten und die annualisierte Blutungsrate (ABR) niedrig sein. Diese Annahme trifft jedoch nicht zu, wie bereits in der Publikation von Ahlberg und Kollegen aus dem Jahr 1965 beschrieben wird – in einer Zeit, bevor Gerinnungsfaktorkonzentrate routinemäßig zur Verfügung standen. Patienten mit einer Faktoraktivität von <1 IE/dl hatten einen medianen Gelenk-Score von 12, was auf eine signifikante Arthropathie hindeutet. Allerdings hatten auch Patienten mit einer Faktoraktivität von 1 IE/dl bis 3 IE/dl, was einer moderaten Hämophilie entspricht, anomale Gelenkwerte von im Median 8. Das bedeutet, dass Faktorspiegel zwischen 1 IE/dl und 3 IE/dl nicht ausreichen, um Blutungen bei allen Personen mit Hämophilie vollständig zu verhindern, und dass gelegentliche klinische und subklinische Blutungen möglich sind, was zu einem allmählichen Fortschreiten der Gelenkerkrankung im Laufe des Lebens führt. Die Autoren ziehen aus diesen und weiteren Daten den Schluss, dass allen Personen mit Hämophilie eine Prophylaxe unabhängig von der Ausgangsfaktoraktivität angeboten werden sollte, wenn es zu Gelenkblutungen oder anderen klinisch bedeutsamen Blutungen kommt.
Frühzeitiger Beginn der Prophylaxe zum Schutz der Gelenke
Das derzeitige Vorgehen besteht seit vielen Jahren darin, bei Patienten mit schwerer Hämophilie mit der Prophylaxe zu beginnen, bevor die Gelenkschädigung einsetzt. Bei Patienten mit moderater Hämophilie jedoch wird mit der Prophylaxe meist viel später begonnen und die Prophylaxe so lange aufgeschoben, bis Gelenkblutungen auftreten. Eine niederländische Kohortenstudie hat die Auswirkungen eines Aufschubes der Prophylaxe bei 124 Patienten mit schwerer Hämophilie untersucht. Die Anzahl der Gelenkblutungen vor Beginn der Prophylaxe war stärker mit Gelenkschäden assoziiert als das Alter bei Beginn der Prophylaxe. Die Gelenkveränderungen nahmen mit zunehmender Anzahl von Gelenkblutungen vor Beginn der Prophylaxe zu. Der Beginn der Prophylaxe vor dem Auftreten von Blutungen führte zu den besten Langzeitergebnissen. Aber auch das Inkaufnehmen einer einzigen Gelenkblutung vor Prophylaxebeginn kann zu einer akzeptablen langfristigen Gelenkgesundheit führen. Auch wenn diese Studie mit Patienten mit schwerer Hämophilie durchgeführt wurde, ist davon auszugehen, dass auch bei moderater Hämophilie ein Aufschub der Prophylaxe die Gelenkgesundheit gefährden kann.
THUNDER-Studie: Sind Patienten mit moderater Hämophilie unterversorgt?
Ein Bild der Versorgungsrealität von Patienten mit moderater und schwerer Hämophilie zeichnet die britische THUNDER-Studie. Der Untersuchung lagen die Daten von 2674 Hämophilie-A-Patienten (1810 mit schwerer HA und 864 Patienten mit moderater HA) aus der nationalen Hämophilie-Datenbank Großbritanniens aus dem Jahr 2015 zugrunde. Außerdem standen Daten aus Haemtrack, einem von Patienten geführten Onlinetherapietagebuch zur Verfügung. Eine regelmäßige FVIII-Prophylaxe erhielten 82,5 % der Patienten mit schwerer HA und 68,8 % der Patienten mit moderater HA. Die mediane jährliche Blutungsrate (ABR) lag bei den Patienten mit schwerer HA unter Prophylaxe bei 2,0; bei denen mit moderater HA bei 3,0. Noch deutlicher zeigt sich der Unterschied bei der medianen jährlichen Gelenkblutungsrate (AJBR): Die AJBR betrug bei Patienten mit schwerer HA unter Prophylaxe 1,0, bei denen mit moderater HA unter Prophylaxe jedoch 3,5. Nur 38 % der Patienten mit schwerer HA und 30 % der Patienten mit moderater HA, die eine Prophylaxe erhielten, gaben an, frei von Gelenkblutungen zu sein.
Verschlechterung des HJHS mit zunehmendem Alter
Erwachsene mit moderater HA (mit einem FVIII-Spiegel <3 IE/dl) wiesen sehr ähnliche HJHS-Werte auf wie gleichaltrige Patienten mit schwerer HA. Auch verschlechterte sich der HJHS bei Patienten mit schwerer und moderater HA mit zunehmendem Alter – trotz Prophylaxe. Diese Ergebnisse legen den Verdacht nahe, dass ein Teil der Patienten mit moderater Hämophilie unzureichend behandelt wird. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass die derzeit in Großbritannien angewandten Prophylaxe-Regime bei vielen Hämophilie-Patienten keinen blutungsfreien Zustand erreichen und dass die Prophylaxe weiterentwickelt werden muss. Inzwischen ist bekannt, dass die Dosis und die Häufigkeit der FVIII-Substitutionen von Patient zu Patient variieren und sich auch bei ein und derselben Person im Laufe der Zeit ändern können, was bedeutet, dass ein festes Therapieschema möglicherweise nicht für alle Personen einen optimalen Schutz vor Blutungen bietet.
Personalisierte Therapie der moderaten Hämophilie
Aufgrund einer breiten inter- und intraindividuellen physiologischen Variabilität hinsichtlich der Pharmakokinetik von FVIII sowie aufgrund von Lebensstil und körperlicher Aktivität ist eine personalisierte Therapie erforderlich. Mittlerweile wurde von vielen Experten die Notwendigkeit einer Individualisierung erkannt. Das Ziel ist dabei, den FVIII-Spiegel auf einem optimalen Niveau und nicht nur über einen Mindestwert zu halten. Besonderes Augenmerk wurde darauf gelegt, dass die Prophylaxe einen angemessenen Schutz für die Patienten im Hinblick auf ihren bevorzugten Lebensstil und ihre täglichen körperlichen Aktivitäten bietet. Im Jahr 2017 wurde Konsens darüber erzielt, dass FVIII-Zielwerte von 3 % bis 5 % für leichte körperliche Aktivitäten und Zielwerte von 5 % bis 15 % für risikoreichere körperliche Aktivitäten anzustreben sind. Von höheren FVIII-Zielwerten können Patienten mit intensiver körperlicher Aktivität und erhöhtem Blutungsrisiko profitieren. Auch in Erholungsphasen nach größeren medizinischen Eingriffen können FVIII-Zielwerte bis in den Normbereich angemessen sein. Derart hohe FVIII-Spiegel zu erreichen, erweist sich bei Anwendung von FVIII-Produkten mit Standardhalbwertszeit (SHL) jedoch als Herausforderung.
EHL-Produkte sind zur Individualisierung besonders geeignet
FVIII-Konzentrate mit verlängerter Halbwertszeit („extended half-life”, EHL-Produkte) eröffnen die Möglichkeit, die Behandlung noch besser an die Bedürfnisse der Patienten anzupassen als Konzentrate mit Standardhalbwertszeit (SHL-Produkte). Durch die längere Wirkdauer kann die Injektionsfrequenz vergrößert werden, ohne dass das Risiko für Blutungen steigt. Alternativ können bei gleichbleibender Anzahl von Injektionen höhere Talspiegel und so ein besserer Schutz vor Blutungen erreicht werden.
Behandlung der moderaten Hämophilie mit dem EHL-Produkt Damoctocog alfa pegol im Praxisalltag
Damoctocog alfa pegol ist ein PEGyliertes, rekombinantes FVIII-Produkt mit verlängerter Halbwertszeit, das für die Behandlung und Prophylaxe von Blutungen bei vorbehandelten Patienten ab zwölf Jahren mit Hämophilie A zugelassen ist. Die Wirksamkeit und Sicherheit von Damoctocog alfa pegol wurde in der Phase-II-Studie PROTECT VIII bei Patienten mit schwerer Hämophilie A in Dosierungsintervallen von bis zu sieben Tagen nachgewiesen. In der Real-Life-Studie HEM-POWR werden aktuell die Wirksamkeit und Sicherheit der Behandlung mit Damoctocog alfa pegol unter Praxisbedingungen untersucht. Die erste Zwischenanalyse der multizentrischen, nicht interventionellen, prospektiven Kohortenstudie umfasst die Daten von 78 Hämophile-A-Patienten, drei mit leichter, neun mit moderater und 66 mit schwerer Krankheitsausprägung. Im Beobachtungszeitraum erhielten alle Patienten eine Prophylaxe mit dem EHL-Produkt – bis auf einen Patienten mit nicht schwerer Hämophilie A, der nach Bedarf behandelt wurde. Bemerkenswert ist, dass bei Patienten mit nicht schwerer Hämophilie A während des Beobachtungszeitraumes eine mediane Verringerung der ABR um 0,9 im Vergleich zur Zeit vor der Anwendung von Damoctocog alfa pegol zu verzeichnen war. Darüber hinaus stieg der Anteil von Patienten, bei denen keine Gelenke betroffen waren, zwischen dem ersten Besuch und der ersten Nachuntersuchung an – und zwar von ca. 43 % auf 73 % bei Patienten mit schwerer Erkrankung und von 67 % auf 100 % bei den Patienten mit nicht schwerer Hämophilie A. Aufgrund der geringen Stichprobengröße sind die Ergebnisse der Phase-IV-Studie noch mit Vorsicht zu interpretieren, jedoch werden weitere Daten mit Fortlaufen der Studie erwartet.
Behandlung der leichten Hämophilie
Viele Personen mit leichter Hämophilie benötigen keine Faktorersatztherapie – außer im Fall von schwereren Blutungsereignissen oder bei größeren operativen Eingriffen. Daher kann für Patienten mit leichter Hämophilie A Desmopressin (1-Desamino-8-D-Arginin-Vasopressin, kurz DDAVP) als Behandlungsoption in Betracht gezogen werden. Dieser Wirkstoff führt zur Freisetzung von Faktor VIII aus körpereigenen Speichern und lässt kurzzeitig die Aktivität im Blut deutlich steigen. Vor DDAVP-Gabe ist ein Test auf Ansprechbarkeit indiziert.
Stand 2020: Leitliniengerechte Therapie bei moderater Hämophilie
Die Bundesärztekammer (BÄK) empfiehlt in ihren Querschnittsleitlinien zur Hämotherapie für Patienten mit moderater Hämophilie A eine dauerhafte Prophylaxe mit Faktorkonzentraten, „wenn gelegentliche bis häufige Blutungen, insbesondere Gelenkblutungen auftreten”. Insbesondere Patienten mit einer Faktoraktivität von <3 % könnten von einer Dauerbehandlung profitieren. Die WFH-Leitlinien weisen darauf hin, dass Talspiegel von 1 % bis 3 % nicht ausreichend sind, um Blutungen bei allen Personen mit Hämophilie vollständig zu verhindern. Laut der Europäischen Konsensusempfehlungen sollten Talspiegel von mindestens 3 % bis 5 % erreicht werden, um den Gelenkstatus zu erhalten. In den hier aufgeführten, aktuell gültigen Leitlinien- und Konsensusempfehlungen aus dem Jahr 2020 spiegelt sich der Paradigmenwechsel in der Hämophilie-Behandlung noch nicht wider. Angesichts des ungedeckten medizinischen Bedarfes bei Patienten mit moderater Hämophilie könnte hier ebenfalls ein individualisiertes Vorgehen wie bei schwerer Hämophilie angebracht sein. Seit Januar 2023 ist nun auch die „non replacement”-Therapie mit Emicizumab zur prophylaktischen Behandlung der mittelschweren Hämophilie (FVIII ≥1 % und ≤5 %) mit schwerem Blutungsphänotyp ohne Faktor-VIII-Hemmkörper in allen Altersgruppen zugelassen. Aufgrund der Aktualität ist der Antikörper für diese Indikation noch nicht in den zurzeit gültigen Leitlinien verankert, und Langzeitdaten stehen noch aus.
Fazit
Bei Menschen mit nicht schwerer Hämophilie erfolgt die Diagnose meist verspätet. Diagnoseverzögerungen können jedoch fatale Konsequenzen für die Morbidität haben. So ist beispielsweise das Risiko für intrakranielle Blutungen ähnlich hoch wie bei Patienten mit schwerer Hämophilie. Zudem kann bereits eine einmalige Gelenkblutung zu einer Arthropathie führen. Studien zur Versorgungsrealität geben Hinweise auf eine Unterbehandlung von Patienten mit nicht schwerer Hämophilie. Wichtig ist ein Gelenk-Screening, um regelmäßig den Gelenkstatus zu erfassen und frühzeitig Gelenkveränderungen zu erkennen. Um Arthropathien zu verhindern oder zumindest zu verringern, sollte allen Personen mit Hämophilie – unabhängig vom Schweregrad – eine Prophylaxe angeboten werden. Mit dieser sollte so früh wie möglich gestartet und nicht die erste Gelenkblutung abgewartet werden. Dabei ist eine personalisierte Prophylaxe einem fixen Schema vorzuziehen. Es sollten Talspiegel von mindestens 3 % bis 5 %, gegebenenfalls 5 % bis 15 % für risikoreichere körperliche Aktivitäten angestrebt werden. Faktorprodukte mit verlängerter Halbwertszeit sind zur individualisierten Therapie besonders geeignet.
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