Einfluss der Schwangerschaft und des Stillens auf den Krankheitsverlauf der MS
Eine Schwangerschaft kann die Krankheitsaktivität bei Patientinnen mit MS während, aber auch nach der Schwangerschaft beeinflussen. Eine europäische, multizentrische, prospektive Beobachtungsstudie aus dem Jahr 1998 (PRIMS-Studie) untersuchte die Krankheitsaktivität bei 254 Schwangeren mit MS. In den ersten zwölf Monaten vor der Konzeption lag die jährliche Schubrate der Patientinnen bei 0,7. Ein Abfall der Schubrate konnte während der gesamten Schwangerschaft, insbesondere aber im dritten Trimenon, beobachtet werden. So lag die jährliche Schubrate im ersten bzw. zweiten Trimenon bei 0,5 bzw. 0,6 und sank im dritten Trimenon auf 0,2. Gründe für die reduzierte Schubrate während der Schwangerschaft sind wahrscheinlich maternale immunologische Veränderungen, die verhindern, dass das Immunsystem der Mutter den Embryo bzw. den Fetus als fremd erkennt und abstößt [1]. Nach der Entbindung stieg die Schubrate in den ersten drei Monaten deutlich über den Wert vor der Schwangerschaft auf 1,2 an. Die Schubrate normalisierte sich in den darauffolgenden zwölf Monaten [2, 3]. Eine Metaanalyse aus 13 Studien mit 1221 Schwangerschaften sowie eine aktuellere Registerstudie mit 893 Schwangerschaften bestätigten diese Ergebnisse [4, 5]. Zur Auswirkung des Stillens auf die Krankheitsaktivität gibt es kontroverse Daten. Eine Metaanalyse aus 24 Studien zeigte jedoch, dass Stillende mit MS im Vergleich zu Nichtstillenden ein 37 % niedrigeres Risiko haben, einen postpartalen Schub zu erleiden. Dabei scheint der Effekt noch ausgeprägter zu sein, wenn ausschließlich gestillt wird [6].
Risikobewertung einer MS-Therapie während der Schwangerschaft
Die MS ist vor, während und nach der Schwangerschaft mit einigen therapeutischen Herausforderungen assoziiert. Potenziell können alle krankheitsmodifizierenden Medikamente, die bei der MS-Therapie zum Einsatz kommen, einen negativen Effekt auf die Fruchtbarkeit und/oder den Ausgang der Schwangerschaft haben. Die Höhe des Risikos variiert jedoch von Wirkstoff zu Wirkstoff. Bei der Risikobewertung einer MS-Therapie für Schwangere spielt neben den möglichen negativen Auswirkungen der Medikamente auf die Fertilität und auf die Entwicklung des Embryos bzw. des Fetus sowie des Neugeborenen (z. B. spontane Fehlgeburten, kongenitale Fehlbildungen, Frühgeburten, verzögerte pränatale Entwicklung) auch die Unterdrückung der Schubaktivität bzw. der Krankheitsprogression der werdenden Mutter eine Rolle. So muss zwischen dem Risiko einer potenziellen Krankheitsprogression bei Absetzen der Medikation und dem Risiko von potenziellen wirkstoffbedingten Nebenwirkungen für den Embryo bzw. Fetus abgewogen werden.
Zugelassene Krankheitsmodifizierende Medikamente bei MS
Im Jahr 1995 wurde mit dem Wirkstoff Interferon β-1b s. c. (subkutan) das erste Medikament zur Behandlung der MS in Europa zugelassen. Heute stehen diverse Medikamente mit Substanzen aus unterschiedlichen Wirkstoffklassen zur Verfügung [7]. Dazu zählen β-Interferone (Interferon β-1a [intramuskulär {i. m.}, s. c.], Interferon β-1b [s. c], Peginterferon β-1a [s. c]), Glatirameracetat (s. c.), Natalizumab (intravenös [i. v.]), Fingolimod (peroral, p. o.), Alemtuzumab (i. v.), Teriflunomid (p. o.), Dimethylfumarat (p. o.), Cladribin (p. o.) und Ocrelizumab (i. v.). Es wird jedoch eine gewisse Expertise benötigt, um die beste Therapieoption für die individuelle Patientensituation zu finden. Insbesondere bei Frauen mit Kinderwunsch sowie bei Schwangeren und Stillenden sollten die Therapieoptionen besprochen werden, um eine bestmögliche krankheitsmodifizierende Therapie während dieser Zeit zu ermöglichen und einen Schub zu verhindern. Bisher ist fast keines der MS-Medikamente zum Einsatz bei Schwangeren zugelassen. Gemäß den Fachinformationen können β-Interferone und Natalizumab bei klinischer Notwendigkeit eingesetzt werden. In den folgenden Kapiteln werden die bei MS zugelassenen krankheitsmodifizierenden Medikamente bezüglich ihres Risikos beim Einsatz vor, während und nach der Schwangerschaft näher beleuchtet.
Interferon B
β-Interferone sind körpereigene Signalmoleküle und zählen zu den Zytokinen. Für β-Interferone wurde eine antivirale und immunmodulatorische Wirkung nachgewiesen. Der Wirkmechanismus ist komplex und schließt vermutlich mehrere Signalwege und Zellfunktionen ein. Dabei hat Interferon β eine Doppelfunktion: Es fördert zum einen die Produktion von antiinflammatorischen Mediatoren und wirkt sich zum anderen hemmend auf die Produktion von proinflammatorischen Mediatoren aus [10]. β-Interferone sind je nach Medikament – Interferon β-1a, β-1b und Peginterferon β-1a – zur Therapie der schubförmig-remittierenden MS (relapsing-remitting MS, RRMS), der sekundär-progredienten MS (SPMS) und/oder bei Patienten mit erstmaligem demyelinisierenden Ereignis mit aktivem Entzündungsprozess zugelassen [7, 9]. Der Einsatz von β-Interferonen während der Schwangerschaft wurde in den letzten 15 Jahren in zahlreichen Studien und Registern untersucht. Insgesamt wurden mehr als 4000 Schwangerschaften analysiert, wobei β-Interferone meist nur im ersten Trimenon eingenommen und nach der Bestätigung der Schwangerschaft abgesetzt wurden. Bisher gibt es keine Hinweise auf erhöhte Risiken für spontane Aborte, Frühgeburten, kongenitale Fehlbildungen und andere Komplikationen [11- 21].
Zulassunge
Aufgrund der umfangreichen Studienlage, die nicht auf ein erhöhtes Risiko für einen negativen Schwangerschaftsausgang hindeutet, wurde im Jahr 2019 die Zulassung für β-Interferone zur Behandlung der MS erweitert. Während der Schwangerschaft kann eine β-Interferon-Therapie nun bei klinischer Notwendigkeit in Betracht gezogen werden. Patientinnen mit MS haben zudem die Möglichkeit, unter einer Therapie mit β-Interferonen zu stillen. Vorliegende Daten und die chemisch physiologischen Eigenschaften der β-Interferone lassen den Schluss zu, dass die in die Muttermilch übergehende Menge an β-Interferonen zu vernachlässigen ist. Somit können β-Interferone während der Stillzeit eingesetzt werden [7, 9].
Glatirameracetat
Glatirameracetat ist ein synthetisches Polypeptid mit einem breiten immunologischen Wirkspektrum, das unter anderem zu einer Verschiebung des Zytokinprofils von einem proinflammatorischen hin zum antiinflammatorischen Charakter führt [22]. Glatirameracetat ist zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen [9]. Zur Sicherheit von Glatirameracetat während der Schwangerschaft stehen einige Studien zur Verfügung. In tierexperimentellen Arbeiten konnte keine Reproduktionstoxizität nachgewiesen werden [9]. Im Vergleich zu den β-Interferonen liegen zur Sicherheit von Glatirameracetat im Menschen weniger Studien vor. Bisherige Erkenntnisse geben jedoch keine Hinweise auf einen negativen Schwangerschaftsausgang. Es ist zu beachten, dass auch die Behandlung mit Glatirameracetat in den Studien häufig nach dem ersten Trimenon (nach Bestätigung der Schwangerschaft) abgesetzt wurde [12, 17, 23-26]. Insbesondere die Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung mit etwa 5000 Schwangerschaften, die auf den Daten der Zulassungsstudien und dem Schwangerschaftsregister des Herstellers beruhte, sind interessant. In dieser Studie hatten Schwangerschaften unter Glatirameracetat im Vergleich zu den Vergleichskohorten (European Surveillance of Congenital Anomalies [EUROCAT] und Metropolitan Atlanta Congenital Defects Program [MACDP]) kein erhöhtes Risiko für kongenitale Fehlbildungen. Die Autoren der Publikation schlussfolgerten, dass eine Glatirameracetat-Exposition während der Schwangerschaft vermutlich sicher ist, da keine erhöhte Teratogenität festgestellt wurde [25].
Zulassung
Glatirameracetat sollte während der Schwangerschaft und Stillzeit aus Vorsichtsgründen vermieden werden. Bei Schwangeren kann Glatirameracetat zum Einsatz kommen, wenn der Nutzen der Mutter gegenüber dem Risiko des Fetus überwiegt. Bezüglich des Stillens kann ein Risiko für das Neugeborene nicht ausgeschlossen werden. Daher ist eine Entscheidung nötig, ob das Stillen unterbrochen oder auf die Behandlung mit Glatirameracetat verzichtet wird [9]. Ein Einsatz von Glatirameracetat bis zur Konzeption scheint akzeptabel zu sein.
Natalizumab
Natalizumab ist ein humanisierter Anti-α4-Integrin-Antikörper. Er bindet spezifisch an α4β1-Integrin, das in hohem Maße auf der Oberfläche von Leukozyten exprimiert ist. Dadurch unterbindet Natalizumab die Adhäsion von Immunzellen am Endothel der Blut-Hirn-Schranke, wodurch die transendotheliale Migration der Immunzellen in entzündliches Parenchymgewebe verhindert wird. Zudem unterdrückt Natalizumab möglicherweise über die Hemmung von α4-exprimierenden Leukozyten eine bestehende Entzündungsaktivität. Natalizumab ist zur Behandlung von Patienten mit hochaktiver RRMS zugelassen [7, 9]. In tierexperimentellen Studien konnten unter Natalizumab keine teratogenen Effekte beobachtet werden. Die Sicherheit von Natalizumab während der Schwangerschaft wurde im Menschen in einer deutschen Studie mit 101 Schwangeren und in einer Registerstudie des Herstellers mit 369 Schwangeren untersucht [27, 28]. In der deutschen Studie wurden Patientinnen eingeschlossen, die im ersten Trimenon Natalizumab erhielten. Die Ergebnisse wurden einer krankheitsangepassten und einer gesunden Vergleichskohorte gegenübergestellt. Die Raten für schwere Fehlbildungen, geringes Geburtsgewicht und Frühgeburten waren in allen drei Gruppen vergleichbar (Tab. 2) [27]. Die Registerstudie des Herstellers schloss Patientinnen ein, die drei Monate vor der Konzeption oder während der Schwangerschaft Natalizumab erhielten. Obwohl die Rate der Fehlbildungen im Vergleich zur Vergleichskohorte (MACDP) leicht erhöht war, zeigten die Ergebnisse kein spezifisches Fehlbildungsmuster, das auf eine Teratogenität des Wirkstoffes schließen lässt. Zudem war die Rate der spontanen Aborte mit denen der Allgemeinbevölkerung vergleichbar [28]. Die Erkenntnisse der beiden Studien deuten darauf hin, dass es unter Natalizumab kein erhöhtes Risiko für einen negativen Schwangerschaftsausgang gibt. Zu beachten ist jedoch, dass Patientinnen nach dem Absetzen von Natalizumab ein Risiko für eine erhöhte Schubrate (Rebound-Phänomen) aufweisen können. So hatten Patientinnen, die die letzte Infusion vor der letzten Menstruation erhielten, ein dreifach höheres Risiko, einen Schub zu erleiden, als Patientinnen, die nach der Konzeption die letzte Infusion erhielten. Eine frühe Reinduktion der Natalizumab-Therapie innerhalb eines Monats nach der Geburt reduzierte das Risiko eines postpartalen Schubes signifikant [29]. Monoklonale Antikörper wie Natalizumab passieren ab dem zweiten und dritten Trimenon die Plazentaschranke. In einer Studie traten bei Neugeborenen (zehn von 13 untersuchten Neugeborenen) mit Natalizumab-Exposition im dritten Trimenon gehäuft hämatologische Veränderungen, wie z. B. Thrombozytopenie und Anämie, auf [30]. Als therapeutische Option könnten während der Schwangerschaft ggf. die Infusionsintervalle von Natalizumab auf sechs bis acht Wochen verlängert werden, um das Risiko des Fetus zu reduzieren und das Schubrisiko der Mutter zu minimieren.
Zulassung
Eine Behandlung mit Natalizumab bei Patientinnen mit MS sollte während der Schwangerschaft nur erfolgen, wenn der klinische Nutzen die potenziellen Risiken für den Fetus überwiegen. Demnach sollte ein Absetzen der Therapie bei festgestellter Schwangerschaft in Betracht gezogen werden. Die Nutzen-Risiko-Abwägung bezüglich der Anwendung während der Schwangerschaft sollte den klinischen Zustand der Patientin, die Schubrate vor der Schwangerschaft und das mögliche Wiederkehren der Krankheitsaktivität nach Absetzen des Medikamentes miteinbeziehen. Da Natalizumab in die Muttermilch übergeht und die Auswirkungen auf das Neugeborene nicht bekannt sind, sollte während der Behandlung nicht gestillt werden [7, 9].
Fingolimod
Beim Wirkstoff Fingolimod handelt es sich um einen Sphingosin-1-Phosphat-(S1P-) Rezeptor-Modulator. Fingolimod bindet an S1P-Rezeptoren auf Lymphozyten und inhibiert darüber deren Migration aus den Lymphknoten. Zugelassen ist Fingolimod zur Behandlung der hochaktiven RRMS [7, 9]. Zur Sicherheit von Fingolimod während der Schwangerschaft gibt es verschiedene Studien. Erkenntnisse aus tierexperimentellen Studien zeigten, dass das Risiko für Totgeburten und Fehlbildungen erhöht ist [31-33]. In einer humanen Studie mit 717 untersuchten Schwangerschaften war die Prävalenz für schwere Fehlbildungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung jedoch nicht erhöht. Die Prävalenz für schwere Fehlbildungen betrug in der Subgruppe der Lebendgeburten 2,7 bis 4,0 % und in der Subgruppe, welche Lebend-, Totgeburten und Schwangerschaftsabbrüche aufgrund fetaler Anomalien einschloss, 3,2 bis 5,3 %. Auch das Risiko für Fehlgeburten lag in dieser Studie im Normbereich [34]. Andere Erfahrungen nach Markteinführung deuten jedoch darauf hin, dass das Risiko für kongenitale Fehlbildungen um den Faktor 2 erhöht ist, sodass die Europäische Arzneimittelagentur eine Behandlung mit Fingolimod während der Schwangerschaft nicht empfiehlt [35]. Patientinnen, die eine Fingolimod-Therapie aufgrund von Schwangerschaft absetzen, haben vermutlich ein erhöhtes Risiko, einen erneuten Schub zu erleiden. In einer Fallstudie mit fünf Schwangeren hatten alle Patientinnen zwölf bis 20 Wochen nach Absetzen der Therapie einen Schub. Aus diesem Grund empfehlen die Autoren dieser Fallstudie, bei möglichem Kinderwunsch in der Zukunft keine Fingolimod-Behandlung zu beginnen, sondern auf eine andere krankheitsmodifizierende Therapie auszuweichen [36].
Zulassung
Aufgrund der potenziellen Teratogenität wird eine effektive Kontrazeption bei Patientinnen mit MS während der Einnahme von Fingolimod sowie bis zu zwei Monate nach dem Absetzen der Therapie empfohlen (Wirkstoffelimination: etwa zwei Monate). Die Behandlung mit Fingolimod ist gemäß Zulassung während der Schwangerschaft kontraindiziert. Ein Absetzen der Therapie sollte zwei Monate vor der Planung einer Schwangerschaft erfolgen. Sollte eine Frau unter Fingolimod schwanger werden, muss die Therapie abgesetzt werden. Fingolimod geht in die Muttermilch über. Aufgrund des potenziellen Risikos für schwerwiegende Nebenwirkungen bei Neugeborenen sollte das Stillen während der Behandlung unterbrochen werden [7, 9].
Teriflunomid
Teriflunomid ist ein selektiver und reversibler Inhibitor der mitochondrialen Dihydroorotat-Dehydrogenase (DHODH), die für die De-novo-Synthese von Pyrimidinen benötigt wird. Infolgedessen wird die Proliferation von sich teilenden Zellen, unter anderem Zellen des Immunsystems, gehemmt. Der Wirkmechanismus von Teriflunomid bei MS ist nicht vollständig geklärt. Eine reduzierte Anzahl von Lymphozyten könnte jedoch der Grund für die antiinflammatorische Wirksamkeit sein. Teriflunomid ist zur Behandlung der RRMS zugelassen [7, 9]. Daten aus tierexperimentellen Studien zur Sicherheit von Teriflunomid während der Schwangerschaft deuten auf embryotoxische und teratogene Eigenschaften des Wirkstoffes hin [7]. Aus diesem Grund ist Teriflunomid bei Schwangerschaft kontraindiziert. Trotzdem sind seit der Markteinführung Schwangerschaften unter Teriflunomid aufgetreten. Erkenntnisse aus klinischen Studien und Studien nach Markteinführung zeigten jedoch hinsichtlich des Schwangerschaftsausganges Risiken im Normbereich (Tab. 3). In allen untersuchten Kohorten lag die Prävalenz für schwere Fehlbildungen bei 3,6 % [37]. Zudem haben Studien den Effekt einer Teriflunomid-Behandlung bei Männern auf die Schwangerschaft der Partnerinnen untersucht. Bei etwa 100 untersuchten Schwangerschaften gab es keine Hinweise auf eine Teratogenität bei väterlicher Exposition [38, 39].
Zulassung
Aufgrund des potenziellen teratogenen Risikos von Teriflunomid sollte eine effektive
Kontrazeption bei Patientinnen mit MS während der Einnahme gewährleistet werden. Eine Behandlung mit Teriflunomid ist während der Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert. Bei Kinderwunsch sollte eine beschleunigte Eliminierung des Wirkstoffes durchgeführt werden, da es aufgrund der langen Halbwertszeit nach Absetzen der Therapie zwischen acht und 24 Monate dauern kann, bis Teriflunomid aus dem Körper eliminiert ist. Ein Plasmaspiegel von <0,02 mg/l wird für den Fetus als ungefährlich eingestuft. Die Elimination kann durch die Gabe von Colestyramin oder Aktivkohle gefördert werden. Anschließend sollte die Plasmakonzentration mindestens zweimal im Abstand von 14 Tagen gemessen werden. Nach Erreichen eines Spiegels von <0,02 mg/l wird ein Sicherheitsabstand von weiteren sechs Wochen empfohlen, bevor die Kontrazeption beendet wird. Bei einer ungeplanten Schwangerschaft sollten ebenfalls die Teriflunomid-Behandlung beendet und eine beschleunigte Elimination durchgeführt werden. Da Teriflunomid in die Muttermilch übergeht, sollte basierend auf der aktuellen Datenlage das Stillen während der Behandlung unterbrochen oder beendet werden [7, 9].
Alemtuzumab
Alemtuzumab ist ein humanisierter, monoklonaler Antikörper, der sich gegen das Oberflächenprotein CD52 richtet. CD52 wird in hohem Maße auf T- und B-Lymphozyten, jedoch nur in geringem Maße auf anderen Zellen des Immunsystems und Körpers exprimiert. Alemtuzumab induziert spezifisch bei CD52-exprimieren-den Zellen eine Apoptose, was vermutlich zu einer Depletion und Repopulation der Lymphozyten führt. Dadurch kann sich das Risiko für einen weiteren Schub und der damit verbundenen Krankheitsprogression verringern. Alemtuzumab ist zur Therapie der hochaktiven RRMS zugelassen [7, 9]. Die Sicherheit von Alemtuzumab während der Schwangerschaft wurde in verschiedenen Studien untersucht. Dabei konnte in tierexperimentellen Studien eine reproduktive Toxizität gezeigt werden [7]. Zur Sicherheit im Menschen ist die Datenlage gering. In einer Studie mit 59 untersuchten Schwangerschaften war die Rate von Malformationen mit 8,9 % und von Autoimmunerkrankungen mit 20 % bei Kindern hoch. Aufgrund der kleinen Studienpopulation und der fehlenden Kontrollgruppe sind jedoch weitere Studien nötig, um endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen [40]. In einer weiteren Publikation wurden die Ergebnisse von Patientinnen mit ungeplanten Schwangerschaften aus einer Phase-II-Studie und drei Phase-III-Studien analysiert. Die 182 Schwangerschaften mit bekanntem Ausgang zeigten keine Hinweise auf eine Teratogenität von Alemtuzumab; auch die Rate an spontanen Aborten lag im Normbereich (Tab. 4) [41].
Zulassung
Aufgrund der wenigen Informationen zur Sicherheit von Alemtuzumab während der Schwangerschaft wird eine effektive Kontrazeption bei Patientinnen mit MS während der Einnahme von Alemtuzumab sowie bis zu vier Monate nach der letzten Gabe empfohlen. Während der biologische Effekt von Alemtuzumab länger anhält, erfolgt die Elimination des Wirkstoffes bereits kurz nach der Exposition. Trotzdem sollte Alemtuzumab während der Schwangerschaft nur bei eindeutigem Bedarf angewandt werden, wenn der mögliche Nutzen das potenzielle Risiko für den Fetus rechtfertigt. Da Alemtuzumab vermutlich in die Muttermilch übergeht, sollte das Stillen während der Behandlung sowie vier Monate nach der Therapie unterbrochen werden. Allerdings kann der Nutzen der durch die Muttermilch übertragenen Immunität die Risiken einer potenziellen Exposition gegenüber Alemtuzumab für das gestillte Kind überwiegen [7, 9].
Dimethylfumarat
Der Wirkstoff Dimethylfumarat ist ein Derivat der Fumarsäure. Dimethylfumarat fördert eine Reduzierung von proinflammatorischen Zytokinen, was wiederum die Bildung von antiinflammatorischen Zytokinen initiiert. Zudem werden über Transkriptionsfaktoraktivierung antioxidative und antiinflammatorische Signalwege aktiviert. Dimethylfumarat ist zur Behandlung der RRMS zugelassen [7, 9]. Daten zur Sicherheit von Dimethylfumarat während der Schwangerschaft liegen bislang nur unzureichend vor. Erkenntnisse aus tierexperimentellen Studien zeigten beim Einsatz von hohen Dimethylfumarat-Dosen Wachstumsverzögerungen und eine erhöhte Letalität [7]. In einer Studie zur Sicherheit im Menschen wurde bei 214 Schwangerschaften jedoch kein erhöhtes Risiko für einen negativen Schwangerschaftsausgang beobachtet (Tab. 5) [42].
Zulassung
Eine effektive Kontrazeption während der Einnahme von Dimethylfumarat sollte bei Patientinnen mit MS aufgrund der potenziellen Toxizität gewährleistet werden. Eine Therapie sollte während der Schwangerschaft nur bei eindeutigem Bedarf angewandt werden, wenn der mögliche Nutzen der Mutter das potenzielle Risiko des Fetus rechtfertigt. Aufgrund der geringen Halbwertszeit scheint eine Auswaschphase vor Absetzen der Kontrazeption nicht erforderlich zu sein. Da nicht bekannt ist, ob Dimethylfumarat in die Muttermilch übergeht und schädlich für den Säugling ist, sollte während der Behandlung nicht gestillt werden [7, 9].
Cladribin
Beim Wirkstoff Cladribin handelt es sich um ein synthetisches Desoxyadenosin-Analogon. Nach der Inkorporation in die DNA inhibiert der Wirkstoff die DNA-Synthese und -Reparatur, was zur Anhäufung von Doppelstrangbrüchen und nachfolgend zur Apoptose der Zelle führt. Dies geschieht vor allem in Lymphozyten, da diese Zellen ein Enzym enthalten, das Cladribin in seine aktive Form überführt. Auf diese Weise unterdrückt der Wirkstoff spezifisch das Immunsystem. Cladribin ist zur Therapie bei hochaktiver schubförmiger MS zugelassen [7, 9]. Nur wenige Studien untersuchten bisher die Sicherheit von Cladribin in der Schwangerschaft. In tierexperimentellen Studien konnten Fehlbildungen durch die Einnahme von Cladribin sowohl bei weiblicher als auch bei männlicher Exposition beobachtet werden [7]. Eine Studie im Menschen mit 44 untersuchten Schwangerschaften zeigte im Vergleich zu Placebo eine hohe Rate an elektiven Aborten sowie drei medizinisch notwendige Aborte (zwei ektope Schwangerschaften, ein Chorionepitheliom) (Tab. 6). Es wurden keine schweren Fehlbildungen beobachtet. Jedoch sind aufgrund der potenziellen Teratogenität von Cladribin weitere Untersuchungen nötig, um eine abschließende Aussage zu treffen [43].
Zulassung
Als DNA-modifizierender Wirkstoff ist Cladribin bei weiblicher und männlicher Exposition potenziell teratogen. Patientinnen mit MS und Partnerinnen von Patienten mit MS, die mit Cladribin behandelt werden, sollten auf eine effektive Kontrazeption während der Therapie sowie bis zu sechs Monate nach der letzten Einnahme achten. Cladribin ist während der Schwangerschaft und der Stillzeit kontraindiziert [7, 9].
Ocrelizumab
Ocrelizumab ist ein humanisierter, monoklonaler Antikörper, der das Antigen CD20 bindet. CD20 ist auf der Oberfläche von Prä-B-Zellen, reifen B-Zellen sowie B-Gedächtniszellen, jedoch nicht auf lymphoiden Stammzellen und Plasmazellen exprimiert. Für die therapeutische Wirksamkeit von Ocrelizumab bei MS ist vermutlich in erster Linie die Depletion der CD20-exprimierenden Zellen verantwortlich. Ocrelizumab ist zur Therapie der aktiven, schubförmigen MS zugelassen [7, 9]. Auch für Ocrelizumab ist die Datenlage zum Einsatz während der Schwangerschaft gering. In tierexperimentellen Studien wurden keine teratogenen Effekte beobachtet. Jedoch wurde eine B-Zell-Depletion in Utero und postpartum beschrieben [7]. Dies kann beim Neugeborenen zu opportunistischen Infektionen führen. Eine aktuelle Publikation mit 267 untersuchten Schwangerschaften zur Sicherheit von Ocrelizumab basierend auf den Daten klinischer Studien und den Erfahrungen nach der Markteinführung deutete darauf hin, dass Patientinnen mit MS kein erhöhtes Risiko für einen negativen Schwangerschaftsausgang haben (Tab. 7) [44]. Jedoch sind weitere Studien nötig, um eine verlässliche Einschätzung zum Einsatz während der Schwangerschaft treffen zu können.
Zulassung
Aufgrund der wenigen vorhandenen Daten zu Sicherheit von Ocrelizumab in der Schwangerschaft sollten Patientinnen eine effektive Kontrazeption während der Therapie sowie bis zu zwölf Monate nach der letzten Behandlung gewährleisten. Der Einsatz von Ocrelizumab sollte während der Schwangerschaft vermieden und nur bei eindeutigem Bedarf angewandt werden, wenn der mögliche Nutzen das potenzielle Risiko für den Fetus rechtfertigt. Es ist nicht bekannt, ob der Wirkstoff in die Muttermilch übergeht. Da ein Risiko für das Kind nicht ausgeschlossen werden kann, sollte während der Behandlung nicht gestillt werden [7, 9].
Fazit
Fingolimod, Teriflunomid und Cladribin zählen zu den krankheitsmodifizierenden Medikamenten, die bei Schwangerschaft kontraindiziert sind. Für die weiteren MS-Medikamente sind die Sicherheitsbedenken basierend auf aktuellen Erkenntnissen überschaubar. β-Interferone können entsprechend der Fachinformation bei klinischer Notwendigkeit eingesetzt werden. Glatirameracetat, Natalizumab, Alemtuzumab, Dimethylfumarat und Ocrelizumab können nach Ermessen des behandelnden Arztes bei eindeutigem Bedarf, wenn der potenzielle Nutzen der Mutter das potenzielle Risiko des Fetus überwiegt, Anwendung finden. Generell sind jedoch weitere Untersuchungen nötig, um Schlussfolgerungen zur Sicherheit der Wirkstoffe während der Schwangerschaft ziehen zu können. Bisher können nur β-Interferone gemäß der Fachinformation während des Stillens eingesetzt werden. Unter Cladribin und Teriflunomid ist das Stillen kontraindiziert. Bei allen anderen Medikamenten sollte auf das Stillen während der Einnahme aufgrund der potenziellen Nebenwirkungen und der fehlenden Daten verzichtet werden. Zusammenfassend ist bei den meisten Patientinnen mit MS von einem unkomplizierten Verlauf der Schwangerschaft und der Geburt auszugehen. Bei Beachtung der Sicherheitsaspekte der verschiedenen Medikamente können Patientinnen mit MS gesunde Kinder zur Welt bringen, ohne dass die Gesundheit der Mutter gefährdet oder ihr MS-Krankheitsverlauf negativ beeinflusst wird.