Einleitung
Beim männlichen Hypogonadismus handelt es sich um eine endokrine Funktionsstörung der Hoden oder übergeordneter Regulationszentren (Hypothalamus, Hypophyse), die mit einem Testosteronmangel und/oder einer Beeinträchtigung der Spermatogenese sowie klinischen Symptomen und einer Verminderung der Lebensqualität einhergeht. Bei einem primären Hypogonadismus führt eine Schädigung der Hoden zu einer verminderten Produktion von Testosteron in den Leydig-Zellen. Unterbleibt eine suffiziente Stimulation der Leydig-Zellen durch luteinisierende Hormone (LH), besteht ein sekundärer Hypogonadismus. Ursachen können eine nicht ausreichende Stimulation der Hypophyse durch das Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH) als Folge einer Störung des Hypothalamus sein oder eine direkte Schädigung der Hypophyse mit jeweils beeinträchtigter Produktion von LH. Die frühere Differenzierung von tertiärem (Schädigung des Hypothalamus) und sekundärem (Schädigung der Hypophyse) Hypogonadismus ist nicht mehr üblich. Mit zunehmendem Lebensalter und gleichzeitigen Komorbiditäten steigt das Risiko für einen funktionellen Hypogonadismus, der eine Mischform von primärem und sekundärem Hypogonadismus ist. Symptome eines Hypogonadismus treten aber auch bei einer herabgesetzten Empfindlichkeit des Androgenrezeptors (AR) auf (Androgeninsensitivität). Ein Mangel an Testosteron kann weitreichende Folgen für verschiedene Organsysteme und die allgemeine Lebensqualität haben. Ausmaß und Zeitpunkt des Auftretens in den verschiedenen Lebensphasen wirken sich dabei auf den resultierenden Phänotyp und die klinische Symptomatik aus. Kenntnisse zur Pathogenese des männlichen Hypogonadismus, zu dessen Folgen und zu seinen Behandlungsmöglichkeiten sind Voraussetzung für eine adäquate Betreuung betroffener Patienten. Es existieren mehrere internationale Leitlinien zu männlichem Hypogonadismus. Die meisten Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen zeigen Übereinstimmungen, an manchen Stellen finden sich unterschiedliche Angaben. In der folgenden Übersicht werden relevante Aspekte des Testosteronstoffwechsels, des Hypogonadismus sowie dessen Therapieoptionen erläutert und insbesondere die Leitlinienempfehlungen zum männlichen Hypogonadismus der European Association of Urology (EAU) berücksichtigt, die von mehreren medizinischen Fachgesellschaften unterstützt werden.
Das Hormon Testosteron
Testosteron in den verschiedenen Lebensphasen
Testosteron ist ein zu den Androgenen gehörendes Steroidhormon. Während der fetalen Entwicklung ist Testosteron für die Bildung und Ausdifferenzierung des männlichen äußeren Genitals unabdingbar. Folgen einer ungenügenden Testosteronkonzentration oder -wirkung können z. B. Maldescensus testis, Hypospadie und in extremen Fällen die Ausbildung eines weiblichen äußeren Genitales mit Abdominalhoden („testikuläre Feminisierung”) sein. Zu Beginn der Pubertät steigen die Konzentrationen der Gonadotropine (luteinisierendes Hormon, LH, und follikelstimulierendes Hormon, FSH) im Serum an. Als Folge kommt es zur Zunahme des Hodenvolumens und der Testosteronproduktion sowie zur Initiierung der Spermatogenese. Die ansteigenden Testosteronkonzentrationen im Serum sind Voraussetzung für die Ausbildung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale mit dem typisch männlichen Behaarungsmuster, Stimmbruch, der Vergrößerung des Penis, mit zunehmender Muskelmasse, ausreichender Mineralisierung der Knochen und mit dem Schluss der Wachstumsfugen. Darüber hinaus führen die psychotropen Effekte von Testosteron zu einer Zunahme von Libido und Antrieb. Altersentsprechende Testosteronwerte im Serum sind in der Regel auch für die Fähigkeit zu Erektionen und der Ejakulation eines normalen Spermavolumens notwendig. Tritt ein Hypogonadismus erst postpubertär auf, sind die sexuelle Differenzierung und die typischen mit der Pubertät unter dem Einfluss von Testosteron eintretenden Veränderungen (z. B. Stimmbruch) nicht mehr betroffen. Die klinische Symptomatik wird dann geprägt durch Sexualstörungen wie Libidoabnahme oder erektile Dysfunktion, Osteopenie oder Osteoporose, Anämie durch eingeschränkte Erythropoese, Abnahme der Muskelmasse, Fertilitätsstörungen und erhöhte Depressivität.
Produktion von Testosteron
Beim Mann wird Testosteron hauptsächlich in den Leydig-Zellen der Hoden gebildet; die restliche Produktion erfolgt in den Nebennierenrinden. Ausgangsprodukt ist das Cholesterin. In den Zellen der Zielgewebe bzw. -organe wird Testosteron durch die 5α-Reduktase in den aktiven Metaboliten Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt. Ein weiterer durch die Aromatase entstehender Metabolit des Testosterons ist das Estradiol. Die Aromatase kommt z. B. im Fettgewebe vor.
Aufbau und Funktion der Hoden
Der Hoden besteht im Wesentlichen aus zwei Kompartimenten: Das tubuläre Kompartiment enthält die Tubuli seminiferi und erfüllt durch die Spermatogenese (Produktion von Spermien) eine sekretorische Funktion; das interstitielle Kompartiment setzt sich neben den Leydig-Zellen aus Bindegewebe, Blutgefäßen, Nerven, peritubulären Zellen sowie dem testikulären Lymphsystem zusammen und hat mit der Produktion des Testosterons eine inkretorische Funktion. Die Spermatogenese in den Tubuli seminiferi erfolgt im Keimepithel mit Unterstützung durch die Sertoli-Zellen.
Regulation der Testosteronproduktion
Sowohl die Testosteronproduktion als auch die Spermatogenese unterliegen einer zentralen Steuerung. Pulsatile Ausschüttungen des Gonadotropin-Releasing-Hormons (GnRH) aus Zellen des Hypothalamus führen in der Hypophyse zur Produktion und Freisetzung des luteinisierenden Hormons (LH) und follikelstimulierenden Hormons (FSH). Da die Halbwertzeit von LH kürzer ist als jene des FSH, ist die Pulsatilität der LH-Werte im Serum größer als die des FSH. Das in den Sertoli-Zellen gebildete Inhibin B, Testosteron und die Testosteronmetabolite Estradiol und Dihydrotestosteron wirken hemmend auf hypothalamischer und/oder hypophysärer Ebene und regulieren somit durch einen negativen Feedback-Mechanismus die Ausschüttung von LH und FSH. Das ist der Grund, warum exogen zugeführtes Testosteron nicht nur die körpereigene Testosteronproduktion, sondern auch die Spermatogenese supprimieren kann. Inhibin B hat hingegen vor allem eine hemmende Wirkung auf die Produktion von FSH. Sind somit die Sertoli-Zellen und die Spermatogenese als Folge eines Hodenschadens beeinträchtigt und wird dadurch weniger Inhibin B freigesetzt, unterbleibt dessen supprimierende Wirkung auf die Hypophyse, und das FSH im Serum steigt an.
Testosterontransport und Wirkmechanismus
Im Blutkreislauf zirkuliert das Testosteron sowohl frei als auch gebunden. Bindungspartner sind vor allem das sexualhormonbindende Globulin (SHBG) sowie Albumin. Etwa 2 % des Serumtestosterons liegt als freies Testosteron vor; ca. 44 % sind an SHBG und ca. 54 % an Albumin gebunden sind. Als „bio-verfügbares Testosteron” werden das freie und das an Albumin gebundene Testosteron bezeichnet, da die Bindung zum Albumin nur schwach ist und Testosteron leicht davon dissoziieren kann. Neben der Entwicklung der männlichen Geschlechtsmerkmale und -organe beeinflusst Testosteron die Knochenmineralisierung, die Muskelmasse, die Erythropoese und die Insulinsensitivität, den Lipidmetabolismus sowie kognitive und psychologische Prozesse.
Epidemiologie
Ein bei Geburt festgestellter Hypogonadismus ist selten und tritt etwa einmal in 4500 Lebendgeburten auf. Ein Hypogonadismus, der bei Jungen erst in der präpubertären Phase auftritt, fällt meist durch eine ausbleibende, verzögerte oder unvollständige Pubertät auf. Studien in den USA schätzen die Prävalenz von verzögerter Pubertät bei Jungen auf <2 %, wobei die tatsächliche Prävalenz aufgrund ausbleibender Diagnostik transienter und reversibler Formen höher liegen könnte. Ein Absinken des Serumtestosterons ohne Beschwerden tritt bei Männern mit steigendem Alter häufiger auf. Die Prävalenz eines klinisch manifesten Hypogonadismus bei Männern zwischen 40 und 79 Jahren beträgt 2,1 bis 5,7 %.
Klassifizierung
Der primäre Hypogonadismus ist definiert durch eine Störung auf testikulärer Ebene mit reduzierter Produktion von Testosteron. Kompensatorisch kann es zu einem Anstieg von LH und FSH kommen (hypergonadotroper Hypogonadismus). Beim sekundären Hypogonadismus (hypogonadotroper Hypogonadismus) ist die übergeordnete Stimulation auf Ebene des Hypothalamus und/oder der Hypophyse gestört, sodass als Folge der reduzierten Serumkonzentrationen von LH (und FSH) die adäquate Stimulation der Leydig-Zellen (und Spermatogenese) ausbleibt. Beiden Formen des Hypogonadismus können angeborene oder erworbene Ursachen zugrunde liegen. Neuere Klassifizierungsansätze berücksichtigen darüber hinaus den sogenannten „funktionellen Hypogonadismus”, der sich als „Altershypogonadismus” oder „late-onset” Hypogonadismus (LOH) manifestieren, aber auch bei jüngeren Männern mit Begleiterkrankungen auftreten kann. Diese Form des Hypogonadismus wird definiert als klinisch manifester Hypogonadismus bei Männern meist ab dem mittleren Alter ohne Nachweis einer permanent gestörten Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Dem funktionellen Hypogonadismus liegen am ehesten Komorbiditäten zugrunde, die vermehrt mit zunehmendem Alter auftreten. Hierzu zählen insbesondere Adipositas sowie Typ-2-Diabetes oder das metabolische Syndrom. Die EAU-Leitlinie zu männlichem Hypogonadismus verweist neben der Einteilung in primären und sekundären Hypogonadismus auf den sogenannten „late-onset” Hypogonadismus und definiert diesen als einen im Erwachsenenalter auftretenden Hypogonadismus, der nicht nur funktionell, sondern auch organisch, primär und sekundär sein kann. Es müssen dabei Symptome eines Testosteronmangels und eine biochemisch nachgewiesene Testosteronerniedrigung vorliegen. Zu beachten ist, dass die Begriffe „late-onset” Hypogonadismus und funktioneller Hypogonadismus manchmal auch synonym verwendet werden. Symptome eines Hypogonadismus treten auch bei einer herabgesetzten Sensitivität der Androgenrezeptoren auf, die Folgen von Mutationen des Androgenrezeptorgens oder eines Polymorphismus in Exon 1 des Androgenrezeptorgens mit verlängerten „CAG-Repeats” sind. Die Einteilung nach den oben genannten ätiologischen Kriterien ist entscheidend für die Auswahl und Prognose der Therapie des Hypogonadismus.
Ätiologie der Hypogonadismusformen
Primärer Hypogonadismus
Die Ursachen eines primären Hypogonadismus können angeboren oder erworben sein. Die häufigste Form eines angeborenen primären Hypogonadismus ist das Klinefelter-Syndrom (KS), das mit einer Häufigkeit von 1 : 500 bis 1 : 1000 aller männlichen Lebendgeburten vorkommt, aber bei bis zu 50 bis 75 % der Betroffenen nicht erkannt und diagnostiziert wird. Der vorherrschende Karyotyp ist dabei 47, XXY. Es finden sich aber auch Mosaike (zum Beispiel 47, XXY/46, XY). Wird die Diagnose nicht pränatal gestellt, sind Betroffene zunächst häufig schwer zu identifizieren. Der äußere Phänotyp und assoziierte Symptome zeigen ein weites Spektrum und können sehr subtil ausfallen. Typische Auffälligkeiten sind vermindertes Hodenvolumen, fehlender Nachweis oder deutliche Verminderung von Spermien im Ejakulat, Hochwuchs, disproportional lange Beine, Muskelschwäche, verminderte geschlechtsspezifische Körperbehaarung, Gynäkomastie, breitere Hüften und eine eher weibliche Fettverteilung mit vermehrtem Bauchfett. Darüber hinaus besteht eine Prädisposition für das metabolische Syndrom, für Typ-2-Diabetes, Osteoporose und Autoimmunerkrankungen, Lernschwierigkeiten und psychische Erkrankungen. Eine Testosterontherapie kann bei Betroffenen dazu beitragen, Komplikationen, die im Zusammenhang mit einem Hypogonadismus stehen, zu reduzieren, insbesondere wenn diese früh begonnen wird.
Sekundärer Hypogonadismus
Auch dem sekundären Hypogonadismus können sowohl kongenitale als auch erworbene Störungen zugrunde liegen. Bei den angeborenen hypothalamisch bedingten hypogonadotropen Hypogonadismusformen werden solche ohne Riechstörung (isolierter hypogonadotroper Hypogonadismus oder „congenitaler hypogonadotroper Hypogonadismus”, CHH) und solche mit Riechstörung (Kallmann-Syndrom) unterschieden. Daneben gibt es sehr seltene syndromale Formen wie das Prader-Willi-Syndrom. Beim Kallmann-Syndrom kommt es während der Embryonalzeit zusätzlich zur Störung der Wanderung von GnRH-Neurone zum Hypothalamus (wie beim congenitalen hypogonadotropen Hypogonadismus) zu einer gestörten Migration der Riechneurone zum Hypothalamus, so dass eine unzureichende oder ausbleibende Entwicklung der Bulbi olfactorii resultiert. Folge ist eine reduzierte oder ausbleibende GnRH-Sekretion aus dem Hypothalamus mit fehlender Stimulation der Produktion von LH und FSH aus der Hypophyse. Klinisch weisen die Betroffenen u. a. einen hypogonadotropen Hypogonadismus mit assoziierten Symptomen und eine Anosmie auf. Weitere mögliche Ursachen eines sekundären Hypogonadismus sind erworbene Formen durch Tumoren wie Craniopharyngeome oder Prolaktinausschüttende Hypophysenadenome, die zu einer Hyperprolaktinämie führen, Bestrahlung, die die Hypothalamus- oder Hypophysenregion erfasst, Operationen, das Empty-Sella-Syndrom, eine Hypophysitis und die Hämochromatose. Das frühe Erkennen eines sekundären Hypogonadismus ist von Bedeutung. In vielen Fällen lassen sich durch eine Substitution mit Gonadotropinen (bei Kinderwunsch) oder Testosteron (fehlender Kinderwunsch oder nach Kryokonservierung von Spermien) Folgen dieser Erkrankungen gut beherrschen.
Funktioneller Hypogonadismus
Zur Entstehung eines funktionellen Hypogonadismus können Adipositas, Stoffwechselstörungen wie Typ-2-Diabetes oder ein metabolisches Syndrom, chronisch entzündliche Erkrankungen, Niereninsuffizienz, exzessiver Sport sowie Unterernährung beitragen. Zudem sind Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie die Einnahme bestimmter Medikamente Risikofaktoren für einen Hypogonadismus.
Herabgesetzte Sensitivität für Testosteron und dessen Metabolite
Die Transkriptionsstärke des Androgenrezeptors wird durch die Zahl der „CAG repeats” des kodierenden Gens bestimmt. Eine hohe Zahl von „CAG repeats” verringert die Sensitivität des Androgenrezeptors. Mutationen des auf dem X-Chromosom liegenden Androgenrezeptorgens können zu einer herabgesetzten Sensitivität für Testosteron führen. Typischerweise finden sich bei den Hormonuntersuchungen kompensatorisch erhöhte Werte für Testosteron und LH. Der Phänotypus reicht dabei vom partiellen Androgeninsensitivitäts-Syndrom (PAI) bis zur zum kompletten Androgeninsensitivitäts-Syndrom (CAIS) mit testikulärer Feminisierung („disorder of sexual development”, DSD).
Klinisches Bild: Symptome und Komorbiditäten
Die klinischen Erscheinungsformen eines männlichen Hypogonadismus sind variabel und abhängig von der Entwicklungsphase bzw. dem Lebensalter, in denen der Hypogonadismus manifest wird. Pränatal führen ein Hypogonadismus oder eine partielle oder komplette Insensitivität der Androgenrezeptoren/LH-Rezeptoren zu Störungen der sexuellen Entwicklung mit einem breiten klinischen Spektrum von Hypospadie bis zum weiblichen Phänotyp. Tritt der Hypogonadismus präpubertär auf, äußert er sich durch Pubertas tarda, eunuchoiden Hochwuchs, verringerte Hodengröße und eine geringe Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Beim erwachsenen Mann kann sich der Hypogonadismus mit reduzierter Libido, weniger morgendlichen Erektionen, erektiler Dysfunktion oder Infertilität manifestieren. Zudem können Depression, Nervosität, Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Schlafstörungen, chronische Müdigkeit und Konzentrationsprobleme auftreten. Weitere mögliche Symptome sind übermäßiges Schwitzen, Hitzewallungen, Gynäkomastie, verringertes Hodenvolumen, Reduktion der Muskelkraft und Muskelmasse, Gewichtszunahme, Zunahme des (viszeralen) Fettgewebes, Insulinresistenz, Osteopenie oder Osteoporose oder eine Anämie sein. Im Fall des funktionellen Hypogonadismus wird davon ausgegangen, dass es zu gegenseitigen Wechselwirkungen von reduzierter Testosteronproduktion und Komorbiditäten wie Adipositas, metabolischem Syndrom und gestörter Glukosetoleranz kommt.
Diagnose
Der männliche Hypogonadismus wird gemäß der aktuellen Leitlinien definiert durch klinische Symptome und den laborchemischen Nachweis eines Testosterondefizits. Für die Diagnose muss mindestens zweimal ein erniedrigter Testosteronwert im Serum gemessen worden sein (Blutabnahme nüchtern zwischen 7 und 11 Uhr).
Anamnese
Im Rahmen einer gezielten Anamnese müssen die oben genannten klinischen, sexuellen, kognitiven und psychovegetativen Symptome abgefragt werden. Etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Männer mit sexueller Dysfunktion sind hypogonadal. Standardisierte Fragebögen zur Abfrage von Symptomen werden aufgrund ihrer niedrigen Spezifität kritisch beurteilt. Die Anamnese sollte Fragen zu systemischen Erkrankungen, akuten Erkrankungen, Hinweisen auf Fehlernährung und eine Medikamenten- sowie Genussmittelanamnese einschließen. Behandlungen mit Kortikosteroiden, Opioiden, Antidepressiva, Drogenmissbrauch (z. B. Opioide und Alkohol) und ein Gebrauch von (hoch dosiertem) Testosteron sowie der Missbrauch androgen anaboler Steroide müssen erfragt werden.
Körperliche Untersuchung
Bei der körperlichen Untersuchung sollten der Body-Mass-Index (BMI) und das Taillen-Hüften-Verhältnis (oder Sagittal-Abdominal-Durchmesser), der Status der Körperbehaarung, eunuchoide Merkmale (u. a. disproportional lange Arme und Beine), Hinweise auf eine androgenetische Alopezie, eine Gynäkomastie und die Hodengröße (gemessen mit einem Orchidometer oder per Ultraschall) und der Penis beurteilt werden. Darüber hinaus ist die Prostata digital rektal zu untersuchen.
Indikationen zur Testosteronbestimmung
Bestimmte anamnestische Angaben und Befunde können als Indikation zur Testosteronbestimmung betrachtet werden. Dabei kann es sich um subjektive Beschwerden handeln wie Abnahme der Libido, Erektionsstörungen, Abnahme nächtlicher/morgendlicher Erektionen, depressive Stimmungslage, Abnahme der allgemeinen Aktivität, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Einschränkung kognitiver Funktionen, Hitzewallungen und verminderte Muskelkraft oder objektive Symptome wie verminderte Schambehaarung, ein geringes Hodenvolumen, verminderter Bartwuchs, fahles Hautkolorit, Osteopenie/Osteoporose, Anämie, Abnahme der Muskelmasse bei Zunahme des Fettgewebes, Gewichtszunahme, reduzierter Allgemeinzustand, Insulinresistenz/Typ-2-Diabetes, Abnahme des Ejakulatvolumens, männliche Infertilität oder Gynäkomastie. Weitere Indikationen für die Messung des Testosteronwertes können Krankheiten oder medizinische Eingriffe sein, die mit einem Testosteronmangel assoziiert sind, wie das metabolische Syndrom, viszerales Übergewicht/Adipositas, Diabetes mellitus, Erkrankungen der Hypothalamus-/Hypophysenregion und/oder deren Bestrahlung, medikamentöse Therapien (zum Beispiel Kortikosteroide und Opioide), obstruktive Lungenerkrankungen und HIV-Infektion mit Sarkopenie.
Besonderheiten bei der Testosteronbestimmung
Die Testosteronkonzentration im Serum unterliegt Tagesschwankungen. Es ist zu beachten, dass die Proben für die Testosteronmessungen morgens beim nüchternen Patienten zwischen 7 und 11 Uhr abgenommen werden müssen. Ein Hypogonadismus kann vorliegen, wenn der Wert für das Gesamttestosteron im Serum 12 nmol/l unterschreitet. Bei Vorliegen einer Diskrepanz zwischen den Symptomen und den Testosteronwerten ist das freie Testosteron zur weiteren Beurteilung heranzuziehen. Das freie Testosteron kann anhand des Gesamttestosterons und des SHBG-(und Albumin-)Wertes mittels der Vermeulen-Formel berechnet werden. Die Wiederholung der Messung des Gesamttestosterons zur geforderten mindestens zweimaligen Bestimmung sollte möglichst nach einem Intervall von 30 Tagen erfolgen.
Weiterführende Diagnostik
Zur Unterscheidung der Hypogonadismusformen müssen eine Bestimmung der Serumwerte für LH und FSH und ggf. ein GnRH-Test erfolgen. Eine Kernspintomografie (cMRT) mit Hypophysenfeinschichtung wird bei Verdacht auf ein Hypophysenadenom (Prolaktinom) oder andere Tumoren oder Krankheitsprozesse im Bereich von Hypothalamus/Hypophyse durchgeführt. Nur symptomatische Männer sollten auf Hypogonadismus gescreent werden.
Behandlung: Testosterontherapie
Patienten, die einen symptomatischen Hypogonadismus mit Gesamttestosteronwerten <12 nmol/l aufweisen und keine Kontraindikationen haben, können gemäß der EAU-Leitlinie eine Testosterontherapie erhalten. In der Praxis zeigt sich, dass ein evtl. bestehender aktueller Kinderwunsch vor der Entscheidung zur Substitutionstherapie mit Testosteron zu selten Beachtung findet. In diesen Fällen gilt es aber, bestimmte Modifikationen beim Vorgehen zu berücksichtigen.
Absolute Kontraindikationen
Zu den absoluten Kontraindikationen für eine Testosteronbehandlung zählen ein lokal fortgeschrittenes oder metastasiertes Prostatakarzinom, Mammakarzinom des Mannes, aktueller Kinderwunsch, Hämatokrit ≥54 % und eine unkontrollierte oder schlecht kontrollierte kongestive Herzinsuffizienz.
Relative Kontraindikationen
Als relative Kontraindikationen zu betrachten sind schwere Symptome des unteren Harntraktes (International Prostate Symptom Score, IPSS, >19), ein Ausgangshämatokrit von 48 bis 50 % und eine positive Familienanamnese für venöse Thromboembolien. Bei letzteren Patienten ist das Vorliegen einer Thrombophilie-Hypofibrinolyse auszuschließen. Bei Hämatokritwerten >54 % sollen die Testosterontherapie angepasst oder abgesetzt und ggf. ein Aderlass durchgeführt werden. Sobald sich der Hämatokritwert normalisiert hat, sollte die Testosterontherapie mit einer niedrigeren Dosis wiederaufgenommen werden – zudem ist bei vorherigen intramuskulären Injektionen von Testosteronestern ein Wechsel zu topischen Testosteronpräparaten zu erwägen.
Behandlung des primären Hypogonadismus
Soweit kein aktueller Kinderwunsch besteht, erfolgt die Substitution mit Testosteron (transdermal oder intramuskulär). Eine Stimulation mit HCG (LH) ist in der Regel nicht sinnvoll, da aufgrund des testikulären Schadens das LH ohnehin kompensatorisch erhöht ist. Auch bei aktuellem Kinderwunsch und fehlendem Nachweis von Spermien im Ejakulat (Azoospermie) ist die Gabe von Testosteron solange kontraindiziert, bis geklärt ist, ob eine testikuläre Spermieninjektion gewünscht ist und durchgeführt werden soll.
Behandlung des sekundären Hypogonadismus
Zunächst sollten durch sorgfältige Abklärung mögliche Ursachen für einen sekundären Hypogonadismus erfasst und behandelt werden (z. B. Therapie eines Prolaktinoms). Ansonsten wird wie bei einem primären Hypogonadismus eine Testosterontherapie durchgeführt, wenn kein aktueller Kinderwunsch besteht (hypergonadotroper Hypogonadismus). Bei aktuellem Kinderwunsch kann in Abhängigkeit von der Ursache des hypogonadotropen Hypogonadismus eine Stimulationstherapie mit GnRH oder HCG und rFSH eingeleitet werden, bis sich der Testosteronwert im Serum normalisiert und die Initiierung der Spermatogenese einsetzt. Die Therapie muss solange fortgesetzt werden, wie der Kinderwunsch noch nicht realisiert ist. In diesen Fällen werden humanes Choriongonadotropin (HCG = LH-Wirkung) zwei- bis dreimal pro Woche 1500 IE i. m. und hochgereinigtes oder rekombinantes FSH dreimal pro Woche 150 IE s. c. appliziert. Die Zeitdauer bis zum Auftreten erster Spermien beträgt ca. drei bis neun Monate, in einigen Fällen mehr als zwei Jahre. Bei hypothalamischen Störungen kann alternativ eine Stimulation der Hypophyse durch GnRH mit pulsatiler subkutaner Injektion durch eine auf der Haut fixierte Minipumpe (5 bis 20 μg Gonadorelin pro Puls alle 90 bis 120 Minuten s. c.) erfolgen.
Behandlung des funktionellen Hypogonadismus
Im Vordergrund steht die Erfassung und Behandlung von Komorbiditäten sowie die Beeinflussung von äußeren Einflüssen mit Auswirkung auf die Testosteronproduktion. Hierzu gehören z. B. Lifestylemodifikationen zur Gewichtsreduktion und Verbesserung der Insulinsensitivität bei Adipositas. Eine Testosteronsubstitution kann begleitend begonnen werden.
Darreichungsformen des Testosterons
Testosteron kann in verschiedenen Darreichungsformen aufgenommen werden (oral, transdermal, intramuskulär). Die hierzu verfügbaren Präparate weisen jeweils ein unterschiedliches Profil an Vor- und Nachteilen auf, über die die Patienten aufzuklären sind. Bei der Auswahl des Präparates sollten die individuelle klinische Situation, die Verfügbarkeit des Präparates und die Bedürfnisse und Erwartungen des Patienten berücksichtigt werden. Oral verfügbar ist das Testosteronundecanoat (TU). Dessen größter Nachteil ist allerdings eine schwer vorhersehbare Bioverfügbarkeit, da diese mit der Nahrungsaufnahme schwankt. Die orale TU-Formulierung muss dreimal täglich mit fettreicher Nahrung eingenommen werden, führt zu stark schwankenden Testosteronwerten im Serum und eignet sich daher in der Regel nicht für eine ausreichende Testosteronsubstitution. Intramuskulär zu verabreichende Testosteronester können in kurz und lang wirksame Präparate unterteilt werden. Die Halbwertszeit (HWZ) von Testosteronenanthat (TE) beträgt vier bis fünf Tage; die Injektionsintervalle liegen bei zwei bis drei Wochen. Der größte Nachteil der kurz wirksamen TE-Injektionen ist, dass es direkt nach der Injektion zu supraphysiologischen Testosteronwerten im Serum kommen kann, während die Werte am Ende des Injektionsintervalls niedriger sind. Diese Schwankungen gehen mit einem erhöhten Risiko für eine Erythrozytose bzw. Polycythämie (Hämatokrit ≥54 %) einher. Testosteronundecanoat (TU) in Rizinusöl (HWZ: 34 Tage; Verabreichung alle zehn bis 14 Wochen) ist ein lang wirksames Präparat und führt zu stabilen Testosteronwerten im Serum ohne supra physiologische Erhöhungen. Im Fall unerwünschter Nebenwirkungen bleiben die Testosteronwerte im Serum aber daher auch nach dem Absetzen noch längere Zeit im therapeutischen Zielfenster. Testosterongele werden für die transdermale Aufnahme von Testosteron in den Körper verwendet. Durch Auftragung am Morgen wird die unter physiologischen Bedingungen bestehende zirkadiane Rhythmik der Testosteronwerte im Serum nachvollzogen mit höheren Werten am Morgen bzw. am Vormittag. Zu beachten ist, dass Testosterongel nach dem Auftragen bei engem Hautkontakt unter Umständen auf andere Personen übertragen werden kann. Daher sollten zur Minimierung des Übertragungsrisikos die entsprechenden Hautpartien nach dem Gelauftrag mit Kleidung abgedeckt und bei Haut-Haut-Kontakt mit anderen Personen innerhalb der ersten Stunden abgewaschen werden.
EAU-Empfehlungen zur Wahl der Behandlung
Bei gegebener Indikation sind organische Ursachen für einen Hypogonadismus (z. B. Prolaktinom) zu behandeln. Der Lebensstil sollte optimiert und eine Gewichtsreduktion (bei Übergewicht) angestrebt werden. Wenn möglich, sollte eine Medikation abgesetzt werden, die einen Hypogonadismus fördert (z. B. Opioide). Komorbiditäten sollten, wenn möglich, vor dem Beginn der Testosterontherapie behandelt werden. Patienten sollten über die vorhandenen Behandlungsoptionen und die damit verbundenen Vor- und Nachteile aufgeklärt werden. Die Auswahl des Hormonpräparates sollte zusammen mit dem gut informierten Patienten getroffen werden. Zu Behandlungsbeginn sollten bei Hochrisikopatienten Testosterongele anstelle langwirkender Depotpräparate verwendet werden.
Patientensicherheit und Therapieüberwachung
Um die Patientensicherheit bestmöglich zu gewährleisten, muss eine Testosterontherapie medizinisch überwacht werden. Die Kooperation des Patienten ist dabei ein wichtiger Faktor. Eine Testosterontherapie ist bei absoluten Kontraindikationen nicht möglich. Sollte Testosteron trotz Vorliegen relativer Kontraindikationen verabreicht werden, ist auf mögliche diesbezügliche Risiken im Therapieverlauf zu achten. Betrachtet man neuere Studienergebnisse, insbesondere die der TRAVERSE-Studie, einer großen randomisierten doppelblinden kontrollierten Studie mit 5246 Probanden mit Hypogonadismus und kardiovaskulären Risiken oder bereits vorangegangenen kardiovaskulären Erkrankungen, kann davon ausgegangen werden, dass eine Testosterontherapie im Vergleich zu Placebo keine erhöhte Inzidenz für schwere kardiale Ereignisse aufweist, zumindest über den Verlauf von vier Jahren. In Bezug auf eine benigne Prostatahyperplasie und untere Harnwegsbeschwerden sind nur schwere Ausprägungen bedenklich. Die aktuelle Literatur verweist auch nicht auf eine erhöhte Inzidenz von Prostatakarzinomen unter Testosterontherapie. Ein Hämatokrit ≥54 % weist eine schwache (testosteronunabhängige) Assoziation mit kardiovaskulären Ereignissen und Mortalität auf. Ein Hämatokritwert ≥54 % erfordert daher eine Dosisreduktion oder ein Absetzen des Testosterons. Gemäß EAU-Empfehlungen sind regelmäßige Nachkontrollen unter einer Substitutionstherapie mit Testosteron notwendig. Hierbei werden klinische und biochemische Parameter erhoben, darunter PSA, Hämatokrit, Testosteron, Lipid und glykämisches Profil.
Nutzen der Testosterontherapie
Die Testosterontherapie hat sich besonders bewiesen in der Linderung sexueller Symptome (sexuelle Aktivität, Libido, milde Formen von erektiler Dysfunktion, Frequenz des Geschlechtsverkehrs und Orgasmen) bei hypogonadalen Männern. Hier ist hervorzuheben, dass eine Testosterontherapie bei eugonadalen Männern keinen Nutzen im Hinblick auf sexuelle Dysfunktionen bietet. Günstige Effekte wurden auch beschrieben für die Zusammensetzung der Körpermasse und Insulinsensitivität. In der sogenannten T4DM-Studie (randomisiert, kontrolliert, 1007 Probanden) verringerte sich der Anteil an Männern mit Typ-2- Diabetes in der mit Testosteron substituierten Behandlungsgruppe. Dieser Effekt ging dabei über ebenfalls untersuchte Lebensstilveränderungen hinaus. Die Datenlage zur Gewichts- und Bauchumfangsreduktion und Verbesserung der Blutfette ist noch uneinheitlich. Bei hypogonadalem Status kann sich eine Testosterontherapie günstig auf milde, depressive Symptome und die Knochenmineralisierung auswirken (Effekt auf Frakturrisiko noch nicht gesichert). Es gibt auch Hinweise, dass eine Testosterontherapie bei hypogonadalen Männern eine milde Anämie verbessern kann.
Fazit
- Der männliche Hypogonadismus ist ein klinisches Syndrom mit reduzierten Testosteronwerten im Serum und entsprechenden Symptomen.
- Die Abnahme der Testosteronwerte mit zunehmendem Lebensalter des Mannes ist auf altersassoziierte Komorbiditäten wie Adipositas, Typ-2-Diabetes, metabolisches Syndrom oder Bluthochdruck zurückzuführen.
- Die laborchemische Diagnose eines Hypogonadismus erfordert eine mindestens zweimalige Blutentnahme unter standardisierten Bedingungen am Vormittag zwischen 7 und 11 Uhr.
- Neben laborchemischen Untersuchungen sind gemäß aktuellen Leitlinien Anamnese, körperliche Untersuchungen und evtl. bildgebende Verfahren notwendig.
- Unter Berücksichtigung einer Schädigung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse werden ein primärer und sekundärer Hypogonadismus unterschieden. Der funktionelle Hypogonadismus, zu dem auch der „late-onset” Hypogonadismus (LOH) gezählt wird, ist eine Mischform.
- Am Anfang der Therapie eines Hypogonadismus stehen die Behandlung von Komorbiditäten und eine Lifestyleoptimierung.
- Eine Testosterontherapie ist indiziert, wenn ein laborchemischer Testosteronmangel vorliegt und der Patient entsprechende anhaltende Symptome zeigt.
- Absolute und relative Kontraindikationen sind vor Beginn der Testosterontherapie zu beachten.
- Bei aktuellem Kinderwunsch ist eine Testosterontherapie kontraindiziert!
- Bei einer Testosterontherapie ist ein zuverlässiges Therapiemonitoring (u. a. PSA, Hämatokrit) notwendig zur Erhöhung der Patientensicherheit.
- Die Gabe von Testosteron bei Hypogonadismus kann zur Besserung von Beschwerden bzw. Symptomen wie sexuelle Dysfunktionen, milde Anämie, Osteopenie oder Osteoporose und Insulinresistenz sowie zur Besserung der Lebensqualität führen.
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