Impfungen bei Patienten mit Multipler Sklerose

Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste neurologische Erkrankung, die im jungen Erwachsenenalter bleibende Behinderungen und vorzeitige Berentung zur Folge haben kann. Ihr liegen immunvermittelte, chronisch entzündliche Prozesse im zentralen Nervensystem (ZNS) zugrunde, die Demyelinisierung und axonale bzw. neuronale Schäden bewirken.

Akute virale oder bakterielle Infekte können den Verlauf der Erkrankung negativ beeinflussen. Daher profitieren MS-Patienten besonders von Impfungen. Bei der Immunisierung sind jedoch Besonderheiten zu beachten. Denn in der verlaufsmodifizierenden Therapie kommen u. a. immunsuppressive Wirkstoffe zum Einsatz, die den Impferfolg beeinflussen können.


Kursinfo
VNR-Nummer 2760709120059190014
Zeitraum 10.12.2020 - 09.12.2021
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Priv.-Doz. Dr. med. Karl Baum
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Animierter Vortrag (Webcast)
Lernmaterial Vortrag (31:57 Min.), Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner Bayer Vital GmbH
Bewertung 4.3 (710)

Einleitung

Zwischen der Multiplen Sklerose (MS), die durch autoimmune Reaktionen vermittelt wird, und Infektionen sowie Impfungen gibt es eine Vielzahl von potenziellen Zusammenhängen. So kamen immer wieder Diskussionen auf, ob Infektionen oder Impfungen die MS begünstigen oder sogar verursachen könnten [13].
In systematischen Studien und Übersichtsarbeiten wurden jedoch weder Zusammenhänge zwischen Impfungen (Hepatitis B, Influenza, Tetanus) und einer Erkrankung an MS noch zwischen Impfungen und einer Schubauslösung bei vorliegender MS beobachtet [16].
Für Infektionen ließ sich hingegen zeigen, dass sich diese ungünstig auf den MS-Verlauf auswirken: Innerhalb der Risikoperiode (zwei Wochen vor und fünf Wochen nach Beginn einer klinischen Infektion) ist bei MS-Patienten das Risiko für Schübe allgemein etwa verdoppelt. Zugleich ist das Risiko für schwere, länger andauernde MS-Schübe mit einer Verschlechterung des Schweregrades der Behinderung, ermittelt anhand der Expanded Disability Status Scale (EDSS), nahezu verdreifacht [1] Dabei kommt es nicht auf die Art der Infektionen an: Diese können viral oder bakteriell sein und beispielsweise die Atemwege, den Gastrointestinaltrakt oder den Urogenitaltrakt betreffen (Abb. 1).
Derzeit ist die Immunisierung mittels Impfung eine der effektivsten Möglichkeiten, vor impfpräventablen Infektionen zu schützen [13]. Zugleich erhalten viele MS-Patienten eine verlaufsmodifizierende Therapie, für die inzwischen eine Vielzahl an teils sehr hochwirksamen Medikamenten zur Verfügung steht, die gezielt in das Immunsystem eingreifen. Diese können ihrerseits das Infektionsrisiko erhöhen [17]. Zudem können immunsuppressive Therapien die Wirksamkeit von Impfungen beeinträchtigen [16]. Des Weiteren können Lebendimpfstoffe bei Immunsupprimierten eine Gefahr darstellen [16]. Vor diesem Hintergrund spielen Impfungen bei MS-Patienten eine wichtige Rolle, doch es sind einige Besonderheiten zu berücksichtigen.

Empfehlungen bei Autoimmunerkrankungen und Immunsuppression

Nach Ansicht der Ständigen Impfkommission des Robert Koch-Instituts (STIKO) unterstreicht das erhöhte Schubrisiko bei MS-Patienten durch Infektionen die Notwendigkeit eines umfassenden Impfschutzes [16]. Generell wird bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen und chronisch entzündlichen Erkrankungen empfohlen, im Idealfall alle Impfungen vor Beginn der immunsuppressiven Therapie, zu der auch eine hochdosierte Kortikoidtherapie gehört, abzuschließen sowie bestimmte zeitliche Abstände zwischen Impfung und Beginn der Therapie einzuhalten. Totimpfstoffe können allerdings entsprechend den Empfehlungen der STIKO grundsätzlich sowohl ohne als auch unter einer immunsuppressiven Therapie angewendet werden, wobei unter der Therapie eine serologische Kontrolle des Impferfolges durchgeführt werden sollte [16]. Dabei kommt es nicht auf die Höhe der Antikörpertiter an, sondern auf den Nachweis eines Anstieges des Antikörpertiters. Lebendimpfstoffe können hingegen nur bei Erkrankten ohne bzw. vor einer geplanten immunsuppressiven Therapie entsprechend den Empfehlungen der STIKO zum Einsatz kommen, wobei ein Abstand zwischen Impfung und Beginn der Therapie von mindestens vier Wochen einzuhalten ist [16]. Dies gilt für immunmodulierende Wirkstoffe wie beispielsweise Beta-Interferone oder Glatirameracetat nicht, da beide Wirkstoffklassen keine schwere Immunsuppression verursachen, sodass es keine Kontraindikationen für Lebendimpfstoffe gibt. Dennoch sollten Lebendimpfstoffe bei entsprechend behandelten Patienten aufgrund der immunmodulierenden Effekte nach individueller Nutzen-Risiko-Abschätzung zum Einsatz kommen [16]. Zu weiteren allgemeinen Empfehlungen von besonderem Interesse für MS-Patienten gehört, Impfungen frühestens zwei Wochen nach einer akuten behandlungsbedürftigen Erkrankung – also einer Infektion – durchzuführen und bevorzugt Kombinationsimpfstoffe einzusetzen.

Generell empfohlene Impfungen auch für MS-Patienten

Tetanus, Diphtherie

Die Impfungen gegen Tetanus und Diptherapie werden von der STIKO allgemein im Erwachsenenalter empfohlen [4]. Beides sind Toxin- und somit Totimpfstoffe. Die Grundimmunisierung erfolgt im Säuglingsalter viermal, zudem gibt es zwei Auffrischungsimpfungen im Kindes- und Jugendalter. Erwachsene sollten alle zehn Jahre eine Auffrischungsimpfung vornehmen lassen [4]. Für beide Impfungen ist sehr gut untersucht, dass die Impfungen das Schubrisiko nicht erhöhen, was insbesondere auch für Kombinationsimpfstoffe gilt.

Influenza

Die STIKO empfiehlt MS-Patienten, die durch Infektionen getriggerte Schübe haben, Influenza-Impfungen vornehmen zu lassen. Denn diese Impfung reduziert möglicherweise die durch Influenza während einer Saison ausgelösten Schübe, ohne dass durch die Impfung selbst Erkrankungsschübe ausgelöst werden [3]. Es handelt sich um einen Totimpfstoff, der zudem generell Menschen ab 60 Jahren empfohlen wird [4]. Dabei ist zu beachten, dass der Impfschutz erst etwa zwei bis drei Wochen nach der Impfung vorliegt, sodass die Impfung rechtzeitig vor der Grippesaison vorgenommen werden sollte. Der für Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis 17 Jahren zugelassene Influenza-Lebendimpfstoff sollte nicht verwendet werden [16].

Indikationsimpfungen in Risikosituationen

Pneumokokken

Die Pneumokokken-Impfung ist ebenfalls ein Totimpfstoff. Die Grundimmunisierung basiert auf drei Impfungen im Säuglingsalter. Im Erwachsenenalter wird die Impfung ab dem 60. Lebensjahr empfohlen. Zu weiteren Gruppen, die die Impfung erhalten sollten, gehören Menschen mit Immundefekten und Menschen unter einer immunsuppressiven Therapie [4]. Bei der Pneumokokken-Impfung ist zu beachten, dass diese – insbesondere bei älteren MS-Patienten – vor der geplanten Immunsuppression vorgenommen werden sollte und nicht währenddessen.

Masern, Mumps, Röteln

Bei den Impfstoffen gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) handelt es sich um attenuierte Lebendimpfstoffe, die überwiegend als Kombinationsimpfstoffe vorliegen. Generell erfolgt eine zweimalige Grundimmunisierung im Alter zwischen dem 11. und 23. Monat. Das Risiko für MS-Schübe war in Studien auch mit Kombinationsimpfstoffen nicht erhöht. Vor Einleitung einer immunsupprimierenden Therapie sollte eine altersentsprechende MMR-Grundimmunisierung abgeschlossen sein [16]. Bei erwachsenen MS-Patienten, die keine laufende Immuntherapie erhalten und die bei unklarem bzw. fehlendem Impfstatus kürzlich Kontakt zu einem Erkrankten hatten, gilt die allgemeine Impfempfehlung: Sie sollten eine Impfung erhalten. Ein derartiges Vorgehen wurde beispielsweise bei regionalen Masernepidemien im Südwesten von Deutschland oder in Berlin umgesetzt. Bei MS-Patienten unter einer Immunsuppression wird die Masernimpfung hingegen nicht empfohlen, da Immunsupprimierte ein erhöhtes Risiko haben, schwer an einem masernähnlichen Krankheitsbild zu erkranken. Hier kann bei unklarem oder fehlendem Impfstatus und kürzlichem Kontakt zu einem Masernpatienten durch Gabe eines Masernstandardimmunglobulins ein passiver Schutz aufgebaut werden.

Varizellen (Herpes Zoster)

In Deutschland haben 3 % der Erwachsenen keinen Antikörpertiter gegen das Varizella-Zoster-Virus. Seronegativen Personen wird eine Varizellen-Impfung vor einer geplanten immunsuppressiven Therapie empfohlen. Demnach sollte vor Beginn der immunsuppressiven Therapie durch Impfpass- oder besser noch durch serologische Kontrolle der Varizellen-Immunstatus geklärt werden. Dies gilt nicht für eine Therapie mit Beta-Interferon, Glatirameracetat oder Dimethylfumarat, bei vielen anderen Medikamenten für die MS-Therapie ist es jedoch notwendig, z. B. bei Alemtuzumab, Azathioprin, Cladribin, Cyclophosphamid, Fingolimod, Mitoxantron, Natalizumab, Ocrelizumab und Teriflunomid. Bei dem Varizellen-Impfstoff handelt es sich um einen Lebendimpfstoff, der erst nach sechs Wochen einen Impfschutz bietet. Ein erhöhtes Schubrisiko wurde nicht nachgewiesen. Da Varizellen-Infektionen bei ungeschützten immunsupprimierten Personen besonders schwer verlaufen, wird bei Immunsupprimierten mit unklarem oder fehlendem Immunstatus nach Varizellen-Exposition die Gabe von Varizella-Zoster-Immunglobulin empfohlen.

Hepatitis B

Gegen Hepatitis B erfolgt eine drei- bis viermalige Grundimmunisierung im Säuglingsalter. Wurde diese verpasst, kann die Impfung zwischen dem 15. Monat und dem Alter von vier Jahren nachgeholt werden. Nachdem lange ein möglicher Zusammenhang zwischen Hepatitis-B-Impfung und erhöhtem MS-Risiko diskutiert wurde, gibt es inzwischen fünf große Studien, nach denen kein Zusammenhang zwischen der Impfung und dem MS-Risiko besteht [12]. Zu möglichen Folgen der chronischen Hepatitis-B-Infektion gehören Leberversagen und Leberzellkarzinom. Das Virus kann auf vielen Wegen übertragen werden. Risikogruppen, die sich impfen lassen sollten, sind unter anderem Menschen, die im medizinischen Bereich, bei der Polizei, im Justizvollzug, in Heimen oder in Kitas tätig sind. Das Risiko ist ebenfalls erhöht bei Konsum von intravenösen Drogen, bei Sexualkontakten mit hoher Infektionsgefährdung sowie generell bei Auslandsaufenthalten in den Tropen. Die Impfempfehlung betrifft zudem Menschen mit chronischen Leber- und Nierenerkrankungen und Menschen, die regelmäßig auf Bluttransfusionen oder Blutprodukte angewiesen sind. Auch bei einer geplanten Immunsuppression sollte die Impfung vorgenommen werden – empfohlen wird hier ein Abstand von vier Wochen zwischen Impfung und Therapiebeginn. Bei der Hepatitis-B-Impfung handelt es sich um einen Totimpfstoff; der Impfschutz liegt erst nach vier Wochen vor. Die STIKO empfiehlt vier bis acht Wochen nach Abschluss der Grundimmunisierung eine Antikörperkontrolle zur Überprüfung des Impferfolges [16].

Gelbfieber

Die Gelbfieberimpfung wird bei Einreise in Endemiegebiete empfohlen. Das trifft auf große Teile Afrikas, Südasien und Südostasien sowie nahezu ganz Südamerika zu. Hierbei sind streng die nationalen Einreisebestimmungen zu beachten, da die Einreise ohne gültigen Impfnachweis verweigert werden kann. Je nach Land kann zudem der Nachweis von einer oder zwei Impfungen vorgeschrieben sein. Bei der Gelbfieberimpfung handelt es sich um einen Lebendimpfstoff. In Studien gab es keinen Beleg für einen ursächlichen Zusammenhang mit der Entwicklung einer MS, aber zum einen kann sich eine bestehende MS nach einer Gelbfieberimpfung verschlechtern und zum anderen gab es Fälle von akuter Enzephalitis, die durch eine Gelbfieberimpfung ausgelöst wurden. Bei einer laufenden Immunsuppression ist die Gelbfieberimpfung kontraindiziert.

Pertussis

Gegen Pertussis bzw. Keuchhusten, der in den letzten 20 Jahren in Deutschland immer häufiger auftritt und immer schwerwiegendere Verläufe hat, sollte die Grundimmunisierung möglichst früh beginnen. Sie erfolgt bei Säuglingen ab einem Alter von zwei Monaten viermal. Ergänzend findet bis zum Erwachsenenalter eine zweifache Auffrischungsimpfung statt. Weitere Auffrischungsimpfungen werden alle zehn Jahre empfohlen, meist als Kombinationsimpfung mit Tetanus, Diphterie und Poliomyelitis. Darüber hinaus gibt es Impfempfehlungen für Frauen im gebärfähigen Alter, für enge Kontaktpersonen eines Säuglings vor dessen Geburt sowie für Mütter, die sich vor der Konzeption nicht haben impfen lassen, kurz nach der Geburt, damit die Infektionskette nicht von diesen Kontaktpersonen zum Säugling geht. Bei der Impfung gegen Pertussis handelt es sich um einen Totimpfstoff. Die Datenlage zum möglichen Zusammenhang zwischen der Impfung und MS ist bislang unzureichend, aber es gibt auch keine eindeutigen Warnhinweise.

Impferfolg unter verlaufsmodifizierender MS-Therapie

Ob eine verlaufsmodifizierende Therapie der MS einen Einfluss auf den Impferfolg haben kann, hängt vom eingesetzten Wirkstoff ab (Abb. 2). Eine Kontrolle der Antikörpertiter nach acht Wochen liefert einen Hinweis darauf, ob es eine Impfantwort gegeben hat, entscheidend für den Impferfolg ist der Nachweis eines Anstieges des Antikörpertiters, nicht jedoch die Höhe der Antikörperbildung. Von den Medikamenten, die nach den Leitlinien bei den milden/moderaten Verlaufsformen zum Einsatz kommen, haben Beta-Interferone, Glatirameracetat und Dimethylfumarat keinen Einfluss auf den Impferfolg. Unter Dimethylfumarat sollte jedoch keine Impfung mit einem Lebendimpfstoff erfolgen [10]. Unter Teriflunomid kann der Impferfolg beeinträchtigt sein; er wird jedoch als ausreichend angesehen. Auch hier werden Lebendimpfungen nicht empfohlen [5]. Die immunsuppressiv wirkenden Medikamente, die nach den Leitlinien Patienten mit (hoch)aktiven Verlaufsformen erhalten, können alle einen Einfluss auf den Impferfolg haben. Das gilt für Alemtuzumab genauso wie für Cladribin, Fingolimod und Ocrelizumab sowie etwas eingeschränkt für Natalizumab. Es trifft ebenfalls auf die älteren Immunsuppressiva Azathioprin, Cyclophosphamid und Mitoxantron zu.

Immunsuppressive MS-Medikamente und Impfungen

Im Folgenden wurden für die immunsuppressiven Medikamente, die bei (hoch)aktiven Verlaufsformen der MS zum Einsatz kommen, die Angaben zu Impfungen aus den jeweiligen Fachinformationen zusammengefasst.

Alemtuzumab

Alemtuzumab ist angezeigt zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmig remittierender MS und aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung. Der humanisierte monoklonale Antikörper bindet an CD52, ein Antigen auf der Zelloberfläche, das in hohen Konzentrationen auf T- und B-Lymphozyten vorkommt. Auf diese Weise führt er zu einem Abfall der zirkulierenden T- und B-Zellen sowie deren Repopulation, was die Progression der Erkrankung verzögert [7]. Die Fähigkeit, nach Behandlung mit Alemtuzumab eine Immunantwort auf einen Impfstoff zu entwickeln, wurde nicht untersucht. Es wird empfohlen, dass Patienten die regionalen Impfanforderungen mindestens sechs Wochen vor Beginn der Therapie erfüllt haben. Virale Lebendimpfstoffe sollten nicht an MS-Patienten verabreicht werden, die kürzlich eine Behandlungsphase mit Alemtuzumab erhalten haben. Bei MS-Patienten mit negativem Varizella-Zoster-Immunstatus sollte vor Beginn der Therapie eine Impfung gegen das Varizella-Zoster-Virus (VZV) in Erwägung gezogen werden. Um die vollständige Wirkung zu ermöglichen, sollte die Alemtuzumab-Behandlung auf sechs Wochen nach der Impfung verschoben werden [7].

Cladribin

Cladribin wird angewendet zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit hochaktiver schubförmiger MS, definiert durch klinische oder bildgebende Befunde. Cladribin ist ein Nukleosid-Analogon des Desoxyadenosins und fungiert als Prodrug, das vornehmlich in den Lymphozyten aktiviert wird. Dadurch kommt es zu einer selektiven Reduktion von sich teilenden und nicht teilenden T- und B-Zellen [8]. Die Behandlung sollte wegen des Risikos einer aktiven Impfinfektion frühestens vier bis sechs Wochen nach einer Impfung mit Lebendimpfstoffen oder abgeschwächten Lebendimpfstoffen begonnen werden. Während und nach der Behandlung mit Cladribin sollte eine Impfung mit Lebendimpfstoffen oder abgeschwächten Lebendimpfstoffen vermieden werden, solange die Anzahl der weißen Blutkörperchen nicht im Normalbereich liegt. Bei VZV-Antikörper-negativen Patienten wird vor einer Cladribin-Therapie eine VZV-Impfung empfohlen, wobei der Behandlungsbeginn um vier bis sechs Wochen verschoben werden muss, damit die Impfung ihre volle Wirkung entfalten kann [8].

Fingolimod

Fingolimod ist als krankheitsmodifizierende Monotherapie von hochaktiver schubförmig remittierend verlaufender MS bei erwachsenen Patienten und Kindern und Jugendlichen ab einem Alter von zehn Jahren angezeigt, wenn diese eine hochaktive Erkrankung trotz Behandlung mit einem vollständigen und angemessenen Zyklus mit mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie haben oder wenn bei ihnen ein rascher Progress vorliegt, definiert durch zwei oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr, und sie eine oder mehr Gadolinium-anreichernde Läsionen in der Kernspintomografie (MRT) des Gehirns bzw. eine signifikante Erhöhung der T2-Läsionen im Vergleich zu einer kürzlich durchgeführten MRT haben. Fingolimod bindet in seiner aktiven Form an den Sphingosin-1-Phosphat-(S1P-)Rezeptor 1 auf den Lymphozyten und reduziert so die Infiltration pathogener Lymphozyten in das ZNS [6]. Während und bis zu zwei Monate nach einer Behandlung mit Fingolimod kann die Wirksamkeit von Impfungen beeinträchtigt sein. Die Anwendung von attenuierten Lebendimpfstoffen kann ein Infektionsrisiko beinhalten und sollte daher vermieden werden. Es wird empfohlen, dass Patienten ohne eine ärztlich bestätigte anamnestische Windpockenerkrankung oder ohne Dokumentation einer vollständigen Impfung mit einem Varizellen-Impfstoff vor dem Beginn einer Therapie mit Fingolimod einen VZV-Antikörpertest durchführen lassen. Bei Patienten mit negativem Antikörpertest sollte vor Beginn einer Fingolimod-Therapie ein vollständiger VZV-Impfdurchlauf erfolgen. Der Behandlungsbeginn mit Fingolimod sollte danach um einen Monat aufgeschoben werden, damit die Impfung ihre volle Wirkung entfalten kann [6].

Natalizumab

Natalizumab wird angewendet für die krankheitsmodifizierende Monotherapie bei Erwachsenen mit hochaktiver schubförmig remittierend verlaufender MS, wenn diese eine hochaktive Erkrankung trotz Behandlung mit einem vollständigen und angemessenen Zyklus mit mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie haben oder wenn bei ihnen ein rasch fortschreitender Verlauf vorliegt, definiert durch zwei oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr, und sie eine oder mehr Gadolinium-anreichernde Läsionen in der MRT des Gehirns bzw. eine signifikante Erhöhung der T2-Läsionen im Vergleich zu einer kürzlich durchgeführten MRT haben. Natalizumab bindet an humane Integrine, die in hohem Maß auf Leukozyten exprimiert werden. Auf diese Weise wird die Migration von mononukleären Leukozyten in entzündliches Parenchymgewebe verhindert. Zudem unterdrückt der rekombinante humanisierte Antikörper möglicherweise auch eine bestehende Entzündungsaktivität in den erkrankten Bereichen und hemmt eine weitere Rekrutierung von Immunzellen in entzündetes Gewebe [11]. In einer randomisierten offenen Studie, an der 60 Patienten mit schubförmiger MS teilgenommen haben, gab es bei Patienten mit sechsmonatiger Natalizumab-Therapie im Vergleich zu einer unbehandelten Kontrollgruppe keinen signifikanten Unterschied in der humoralen Immunantwort auf ein Recall-Antigen (Tetanustoxoid); zudem wurde lediglich eine etwas langsamere und reduzierte humorale Immunantwort auf ein Neoantigen (Keyhole Limpet Hemocyanin = KLH) beobachtet. Lebendimpfstoffe wurden nicht untersucht [11]. Die Studien zum Einfluss der Therapie auf den Erfolg der Influenza-Impfung sind widersprüchlich. In einer Studie fand sich keine signifikante Beeinträchtigung des Impferfolges [15], während die Autoren einer zweiten Studie zu dem Schluss kamen, dass die Impfantwort reduziert war und daher unter Umständen zwei Impfdosen eingesetzt werden sollten [14]. Bei Natalizumab wird die VZV-Impfung nicht in der Fachinformation empfohlen; allerdings gibt es die generelle Empfehlung, bei immunsupprimierten, VZV-Antikörper-negativen Patienten eine VZV-Impfung mit einem Abstand von mindestens vier Wochen vor Therapiebeginn durchzuführen [16].

Ocrelizumab

Ocrelizumab ist angezeigt zur Behandlung erwachsener Patienten mit schubförmiger MS und aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung. Zudem können erwachsene Patienten mit früher primär progredienter MS, charakterisiert anhand der Krankheitsdauer und des Grades der Behinderung, sowie mit Bildgebungsmerkmalen, die typisch für eine Entzündungsaktivität sind, mit Ocrelizumab behandelt werden. Der rekombinante humanisierte monoklonale Antikörper ist selektiv gegen CD20-exprimierende B-Zellen gerichtet und bewirkt deren Depletion mittels Antikörper-abhängiger zellulärer Phagozytose [9]. Die Sicherheit einer Immunisierung mit Lebendimpfstoffen oder attenuierten Lebendimpfstoffen nach einer Therapie mit Ocrelizumab wurde nicht untersucht. Eine derartige Impfung wird während einer Ocrelizumab-Behandlung und bis zur B-Zell-Repletion nicht empfohlen (in klinischen Studien betrug die mediane Zeit bis zur B-Zell-Repletion 72 Wochen). In einer randomisierten offenen Studie waren Patienten mit schubförmiger MS in der Lage, eine Immunantwort gegen Tetanustoxoid, 23-valentes Pneumokokken-Polysaccharid mit oder ohne Booster-Impfstoff, Keyhole-Limpet-Hämocyanin-Neoantigen und saisonale Influenza-Impfstoffe aufzubauen – wenn auch in abgeschwächter Form. Es wird empfohlen, mit Ocrelizumab behandelte Patienten mit einem inaktivierten saisonalen Influenza-Impfstoff zu impfen [9]. Zudem sollten Ärzte den Immunisierungsstatus von Patienten, die für eine Behandlung mit Ocrelizumab in Betracht gezogen werden, überprüfen. Für Patienten, die eine Impfung benötigen, sollte die Immunisierung mindestens sechs Wochen vor der ersten Anwendung von Ocrelizumab abgeschlossen sein [9]. Das gilt auch beispielsweise für die VZV-Impfung.

Fazit

Da Infektionen bei MS-Patienten das Risiko für Schübe erhöhen können, sollten MS-Betroffene die für sie empfohlenen Impfungen erhalten. Zugleich können jedoch immunsuppressive MS-Therapien den Einsatz von Impfungen einschränken und den Impferfolg beeinträchtigen. Daher wird insbesondere bei einer bevorstehenden Therapie mit Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Ocrelizumab und eingeschränkt ebenfalls mit Natalizumab rechtzeitig vor deren Beginn eine Überprüfung des Impfstatus empfohlen. Das gilt vor allem für Impfungen gegen Tetanus sowie Diphterie und für die Impfung gegen Pneumokokken bei Patienten ab einem Lebensalter von 60 Jahren und bei Patienten, die eine immunsuppressive Therapie erhalten sollen. Ebenso sollte vor Therapiebeginn bei allen genannten immunsuppressiven Medikamenten ein VZV-Antikörpertest durchgeführt werden und bei negativem Antikörperstatus vorab mit ausreichendem Abstand eine VZV-Impfung erfolgen. Zu den wichtigsten Impfungen, die in bestimmten Risikosituationen empfohlen werden, gehört die Hepatitis-B-Impfung. Auch sie muss vor Beginn der Therapie mit den genannten Medikamenten stattfinden. Das Gleiche gilt für MS-Patienten mit unzureichendem Schutz gegen Masern, die vor Beginn einer Immunsuppression eine Masernimpfung vornehmen lassen sollten, und für Frauen mit MS und Kinderwunsch, die sich gegen Pertussis impfen lassen sollten.