Idiopathische überaktive Blase (iOAB)

Bei der idiopathischen überaktiven Blase (engl.: idiopathic overactive bladder, iOAB) handelt es sich um einen weitverbreiteten Symptomenkomplex mit dem Kernsymptom imperativer Harndrang mit oder ohne Dranginkontinenz, begleitet zumeist von Pollakisurie und Nykturie. Die Erkrankung führt häufig zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität. Sie stellt zudem eine hohe gesundheitsökonomische Belastung dar.

Bei der Diagnostik geht es vor allem darum, andere Ursachen der Symptomatik auszuschließen. Die therapeutische Palette reicht von allgemeinen Maßnahmen der Lebensführung über ein Blasen- und Beckenbodentraining bis hin zu einer Pharmakotherapie und minimalinvasiven Verfahren wie der Injektion von Botulinumtoxin A und der Neuromodulation. Weiterreichende chirurgische Eingriffe stellen eine Ultima ratio dar.

Behandlungsziel ist die Reduktion des imperativen Harndranges sowie der begleitenden Symptome und damit einhergehend die Verbesserung der diesbezüglichen Lebensqualität.

Priv.-Doz. Dr. Heinrich Schulte-Baukloh
Die iOAB ist eine „Volkskrankheit“. Dennoch erhalten viele Patienten keine adäquate Therapie.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709122031160016
Zeitraum 12.03.2022 - 11.03.2023
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Priv.-Doz. Dr. Heinrich Schulte-Baukloh
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Animierter Vortrag (eTutorial)
Lernmaterial Vortrag (25:48 Min.), Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG
Bewertung 4.4 (771)

Einleitung

Die Prävalenz der idiopathischen überaktiven Blase, im Volksmund auch als „Reizblase“ oder „schwache Blase“ bezeichnet, liegt in der allgemeinen erwachsenen Bevölkerung bei etwa 17 %. Sie nimmt altersabhängig zu. Die Störung ist häufig schambesetzt und führt dadurch oft erst bei hohem Leidensdruck zur Arztkonsultation. Die Behandlung kann dabei eine Herausforderung im klinischen Alltag darstellen, da konservative Maßnahmen einschließlich der Pharmakotherapie häufig nicht zu einer adäquaten Besserung dieses Symptomenkomplexes führen. Es gilt deshalb, in jedem Einzelfall die für den Patienten optimale Lösung inklusive auch interventioneller Maßnahmen zu finden.

Definition

Mit dem Begriff der „idiopathischen überaktiven Blase“ (idiopathic overactive bladder, iOAB) wird nach der Definition der internationalen Kontinenzgesellschaft (International Continence Society, ICS) eine chronische Erkrankung der Blase klassifiziert, die vornehmlich durch einen imperativen Harndrang gekennzeichnet ist [1]. Sie kann mit und ohne Harninkontinenz auftreten; entsprechend wird sie als iOAB wet (iOAB mit Harninkontinenz) bzw. als iOAB dry (iOAB ohne Harninkontinenz) bezeichnet [2]. Die iOAB ist abzugrenzen von der neurogenen überaktiven Blase. Während letztere durch neurologische Erkrankungen wie zum Beispiel Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, einen Apoplex oder eine Querschnittslähmung bedingt ist, sind bei der iOAB keine ursächlichen Erkrankungen offenbar [3]. Die überaktive Blase geht typischerweise mit häufigem Wasserlassen (Pollakisurie) und/oder mit der Notwendigkeit nächtlichen Wasserlassens (Nykturie) einher. Die Pollakisurie ist definiert als ein =8-maliges Wasserlassen innerhalb von 24 Stunden. Eine Nykturie besteht beim ein- oder mehrmaligen nächtlichen Aufwachen zum Wasserlassen [1].

Formen der Harninkontinenz

Bei der Harninkontinenz werden im Wesentlichen drei Formen unterschieden [1]:
  • Eine Dranginkontinenz (Urge Urinary Incontinence) liegt vor bei ungewolltem Harnverlust nach plötzlichem intensiven Harndrang, verursacht durch unwillkürliche Detrusorkontraktionen während der Blasenfüllung und/oder einhergehend mit dem Gefühl der plötzlichen Druckzunahme in der Harnblase.
  • Eine Belastungs- oder auch Stressinkontinenz (Stress Urinary Incontinence) besteht, wenn ein erhöhter abdomineller Druck, beispielsweise beim Heben schwerer Lasten oder beim Husten, zu unwillkürlichem Harnverlust führt.
  • Eine Mischinkontinenz (Mixed Urinary Incontinence) ist gegeben, wenn eine Drang- und eine Belastungsinkontinenz gemeinsam vorliegen.

Epidemiologie

Die Prävalenz der OAB wurde in mehreren Studien in den USA und in Europa untersucht. In der erwachsenen Bevölkerung liegt sie bei 16 bis 17 % (Abbildung 1) und nimmt mit steigendem Lebensalter zu [4, 5]. Frauen sind insgesamt etwas häufiger betroffen als Männer [6]. In einer populationsbasierten Querschnittsbefragung von 9.416 Männern und 10.584 Frauen im Alter über 40 Jahre in den USA gaben sogar 27 % der männlichen und 43 % der weiblichen Teilnehmer an, zumindest „manchmal“ an Symptomen einer überaktiven Blase zu leiden [7].

Auswirkungen auf die Lebensqualität

Menschen mit einer überaktiven Blase erleben das Syndrom meist als sehr belastend und sind in ihrer Lebensqualität stark eingeschränkt (Abbildung 2) [3, 8]. Die meisten Betroffenen entwickeln Bewältigungsstrategien, um die Symptome ansatzweise in den Griff zu bekommen und nach außen verbergen zu können. Mindestens 70 % der Menschen mit iOAB haben solche Strategien erprobt [9]. Die Einbußen an Lebensqualität betreffen die körperliche und psychische Ebene, die sexuelle Aktivität und das soziale Leben. Die Auswirkungen tangieren den häuslichen wie auch den beruflichen Bereich [10, 11]:
  • Verlust der Kontrolle und des Selbstwertgefühls
  • Sozialer Rückzug aus Sorge, der Urinverlust und Uringeruch könne von Außenstehenden bemerkt werden
  • Entwicklung von Depressionen
  • Vermeidungsverhalten mit Aktivitätseinschränkungen, z. B. bezüglich sportlicher Aktivität
  • Beeinträchtigung der Sexualfunktion infolge des Gefühls mangelnder Attraktivität und Scham sowie der Angst vor Urinabgang während des Geschlechtsverkehrs
Viele Menschen mit iOAB zögern eine Arztkonsultation hinaus. Gründe hierfür können sein:
  • Eine nicht stark genug ausgeprägte Symptomatik
  • Tabus und Scham, über die Störung zu sprechen
  • Die Neigung, die Symptome zu verleugnen
  • Zu wenig Informationen zum Syndrom der iOAB
Zur Überwindung solcher Faktoren und zum Arztbesuch kommt es oft erst bei hoher Belastung durch die Symptomatik und bei erheblicher Einschränkung der Lebensqualität [3].

Gesundheitsökonomische Aspekte

An einer iOAB leiden Schätzungen zufolge hierzulande rund 6,4 Millionen Erwachsene über 40 Jahre. Hiervon weisen 2,1 Millionen eine Inkontinenz auf [12]. Es besteht ein nicht unerhebliches Risiko für die Entwicklung von Komplikationen und Folgeerkrankungen wie Harnwegsinfekten, Hautinfektionen, Stürzen, Frakturen und Depressionen. Die Erkrankung bedingt Kosten von knapp 4 Milliarden Euro/Jahr und liegt damit hinsichtlich der gesundheitsökonomischen Konsequenzen etwa im Rahmen des Diabetes mellitus und der Demenz.Die iOAB verursacht etwa 6 % der Behandlungskosten in der Urologie. Der größte Teil der Kosten entfällt mit 45 % auf die Pflege, gefolgt von Komorbiditäten (19 %), Hilfsmitteln (17 %), Arztbesuchen (16 %), und nur 2 % werden durch das Verschreiben von Arzneimitteln verursacht. Das Krankheitsbild führt dabei zu einer erheblichen ökonomischen Belastung der Krankenkassen wie auch der Pflegeversicherung und der Patienten selbst (Zuzahlungen) [12].

Pathophysiologie der iOAB

Die Kontrolle der Blasenfunktion ist komplex. An der Regulation der Harnspeicherung und Harnentleerung sind mehrere Hirnareale beteiligt sowie verschiedene Neurotransmitter und -peptide, darunter Acetylcholin und Noradrenalin [13]. Die neuronale Steuerung der Harnblase erfolgt über afferente, efferente und zentrale Bahnen. Die Pathophysiologie der iOAB hat vielschichtige Ursachen, die Gegenstand intensiver Forschungsaktivitäten sind und zur Erarbeitung unterschiedlicher Hypothesen geführt haben [14]. Beteiligt sind neurogene Faktoren wie beispielsweise ein Ungleichgewicht hemmender und erregender Impulse im ZNS sowie auch muskuläre Einflüsse, zum Beispiel im Zusammenhang mit Alterungsprozessen. Ebenfalls diskutiert werden Ursachen auf der Ebene des Urothels, wie etwa funktionelle Veränderungen der urothelialen Rezeptoren [14]. Funktionell kann somit die Ursache des OAB-Syndroms in einer verstärkten afferenten Aktivität bestehen, was zu einem Ungleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Reizen führt. Die afferenten Signale gehen vom Urothel, Suburothel und dem glatten Detrusormuskel aus und können unter anderem durch Acetylcholin beeinflusst werden. Eine erhöhte Ausschüttung von Transmittern kann durch die Verstärkung der afferenten Signale während der Urinspeicherung zur iOAB beitragen. Eine verminderte suprapontine Hemmung kann zudem eine erhöhte Sensitivität für Acetylcholin bedingen und somit das Ungleichgewicht zwischen hemmenden und erregenden Impulsen verstärken [14].

Diagnostik der iOAB

Zur Basisdiagnostik der iOAB gehört eine umfassende Anamnese, ggf. mithilfe entsprechender Symptomfragebögen [15]. Sie soll enthalten
  • Beginn und Verlauf sowie Schwere der Symptomatik
  • Miktionen tagsüber/nachts, Inkontinenzepisoden situationsabhängig sowie Anzahl Vorlagen
  • Trinkmenge
  • angeborene urogenitale oder (erworbene) metabolische (z.B. Diabetes mellitus) Erkrankungen
  • chirurgische Eingriffe im kleinen Becken, gynäkologische Komplikationen, Geburtstraumen
  • (rezidivierende) Harnwegsinfekte
  • Risikofaktoren für eine iOAB (Adipositas, Rauchen)
  • Medikamentenanamnese
  • soziale Anamnese
Anschließend erfolgt eine körperliche Untersuchung einschließlich der Untersuchung des Urogenitaltraktes, einer vaginalen bzw. rektalen Untersuchung. Außerdem sollte eine kursorische neurologische Untersuchung zur Überprüfung der pelvinen Reflexe erfolgen [16]. Diagnostisch ist ferner eine Urinanalyse angezeigt, um beispielsweise einen Harnwegsinfekt und eine Mikrohämaturie auszuschließen.Der Einsatz von Miktionstagebüchern zur objektiven Erfassung von Miktionsfrequenz und Miktionsvolumina wird in den Leitlinien ausdrücklich empfohlen [17]. Dabei wird der Patient aufgefordert, Miktionen während des Tages wie auch in der Nacht einzutragen und ggf. auch Angaben zum Trinkvolumen, zum Miktionsvolumen sowie zu Drang- und Inkontinenzepisoden und der Zahl der verwendeten Vorlagen zu machen. Es gibt vorgedruckte Miktionstagebücher, die der Patient nutzen kann und die zumindest über 2 Tage ausgefüllt werden sollten [8].

Erfassen der Lebensqualität

Ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik ist darüber hinaus das Erfassen der Lebensqualität des Patienten und der Beeinträchtigungen durch die iOAB. Hierzu eignen sich standardisierte Fragebögen zur Erfassung des Schweregrades der Symptomatik [16]. Dazu gehören Patientenfragebögen, anhand derer Symptom-Scores erfasst werden, sowie eine Messung von patientengerichteten Zielgrößen (Patient Reported Outcome Measures) und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Health-Related Quality of Life, HRQoL). Zum Einsatz kommen unter anderem [17]:
  • ICIQ-OABqol (International Consultation on Incontinence Questionnaire Overactive Bladder Module), ein Fragebogen zur Erfassung der individuellen Symptomatik sowie der Lebensqualität bei der OAB
  • ICIQ-MLUTS, ICIQ-FLUTS, geschlechtsspezifische Fragebögen der ICIQ zur Erfassung der Auswirkungen von Symptomen im unteren Harntrakt auf die Lebensqualität
  • KHQ (Kings-Health-Fragebogen) zum Einfluss von Symptomen im Bereich des unteren Harntraktes sowie einer Harninkontinenz auf die Lebensqualität
  • SF36 (Short Form 36), ein aus 36 Fragen bestehender allgemeiner Gesundheitsfragebogen, der eine Beurteilung der gesundheitsspezifischen Lebensqualität erlaubt

Differentialdiagnostik

Die Internationale Kontinenzgesellschaft (ICS) fordert vor der Diagnosestellung einer OAB den Ausschluss stoffwechselbedingter sowie lokaler pathologischer oder endokriner Faktoren als potenzielle Ursache der Symptomatik [3, 15]. Auszuschließen sind demnach insbesondere:
  • Benigne obstruktive Prostatahyperplasie/Prostatakarzinom beim Mann
  • Genitalprolaps oder atrophische postmenopausale Vaginitis bei der Frau
  • Anderweitige subvesikale Obstruktion
  • Harnblasenstein
  • Harnwegsinfekt sowie interstitielle Zystitis
  • Diabetes mellitus
Ergeben sich im Rahmen der Basisdiagnostik Hinweise auf weitere Pathologien oder versagt eine konservative Therapie, kann eine weiterführende Diagnostik angezeigt sein. Das Spektrum reicht von urodynamischen Untersuchungen und der Zystoskopie bis hin zu bildgebenden Verfahren [16, 17].

Therapie der iOAB

Die Behandlung umfasst eine Vielzahl an Möglichkeiten von der konservativen Therapie über die Pharmakotherapie bis hin zu minimalinvasiven Verfahren und operativen Eingriffen (Abbildung 3). Zur konservativen Therapie gehören allgemeine Maßnahmen wie beispielsweise eine Gewichtsabnahme, ein Blasen- und Beckenbodentraining sowie eine Reduktion der Flüssigkeitsaufnahme und des Kaffeekonsums, aber gegebenenfalls auch das Auffangen von Harn mithilfe von Inkontinenzprodukten bei Vorliegen einer Harninkontinenz. Die Pharmakotherapie basiert vor allem auf dem Einsatz von Anticholinergika (Syn.: Antimuskarinika). Stellt sich der erwartete Therapieerfolg nicht ein, können minimalinvasive Verfahren zur Anwendung kommen wie die Injektion von Botulinumtoxin A und die Neuromodulation. Operative Maßnahmen sind lediglich in schweren, anders nicht zu beherrschenden Fällen indiziert.

Behandlungsziele

Behandlungsziele sind die Reduktion des imperativen Harndranges sowie der begleitenden Symptome und damit einhergehend die Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität [18].

Versorgungsrealität

Eine relevante Zahl der Patienten mit einer iOAB scheint keine optimale Therapie zu erhalten. So gaben bei einer Umfrage bei Männern und Frauen mit iOAB 17 % der betroffenen Männer sowie 29 % der Frauen an, aufgrund ihrer Symptome behandelt zu werden (Abbildung 4). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass 71 % der Frauen und 83 % der Männer, die an einer iOAB leiden, aus unterschiedlichsten Gründen keine adäquate/ausreichende Behandlung zu erhalten scheinen [19].

Konservative Therapie

Die Erstlinientherapie der iOAB erfolgt konservativ. Sie umfasst verhaltens- sowie physiotherapeutische Maßnahmen [18]. Zu den Veränderungen des Lebensstils gehören allgemeine Maßnahmen wie eine Gewichtsabnahme sowie eine gleichmäßig über den Tag verteilte und zum Abend reduzierte Flüssigkeitsaufnahme. Außerdem kann der Verzicht oder ein reduzierter Konsum von Kaffee, Nikotin und scharfen Gewürzen ratsam sein [20]. Es ist ferner auf eine regelmäßige Darmentleerung zu achten, da eine Obstipation durch die enge anatomische Lagebeziehung die Symptomatik verstärken kann [15]. Beim Blasentraining lernt der Patient, das Intervall zwischen den Miktionen zu vergrößern. Ebenso kann ein Beckenbodentraining dazu beitragen, die Kontrolle über die Blasenfunktion zu verbessern und auch habituell eingefahrene Miktionsmuster zu durchbrechen [15].

Pharmakotherapie

Patienten, die nicht ausreichend auf verhaltens- oder physiotherapeutische Ansätze ansprechen und deren iOAB-Symptome ihre Lebensqualität wesentlich beeinträchtigen, wird üblicherweise eine Pharmakotherapie angeboten. Am häufigsten kommen dabei Anticholinergika (Syn.: Antimuskarinika) zum Einsatz. Sie werden zumeist oral eingenommen oder – wie beispielsweise bei Oxybutynin – auch transdermal appliziert. Anticholinergika binden an die muskarinergen Rezeptoren auf Muskeln und verhindern damit die Wirkung des Neurotransmitters Acetylcholin (ACh). Durch die Bindung an muskarinerge Rezeptoren auf dem Detrusormuskel verhindern Anticholinergika die Interaktion von ACh mit diesen Rezeptoren und inhibieren so die Kontraktion des Detrusormuskels. Die Substanzen wirken hauptsächlich während der Speicherphase der Blasenfunktion, steigern die funktionelle Blasenkapazität und verringern den maximalen Detrusordruck. Es kommt zu einer Besserung der iOAB, einer Reduktion der Miktionsfrequenz wie auch der Inkontinenzepisoden [18].

Potenzielle Nebenwirkungen

Da die muskarinen Rezeptoren nicht nur in der Blase, sondern in vielen Organen vorhanden sind [21, 22], ist das Spektrum potenzieller Nebenwirkungen der Anticholinergika groß. Dazu gehören:
  • Gastrointestinale Störungen – Übelkeit, Diarrhö, Obstipation, Mundtrockenheit, abdominelle Beschwerden, Anorexie, Erbrechen und gastroösophagealer Reflux
  • Störungen des Nervensystems – Agitation, Kopfschmerzen, Schwindel, Benommenheit, Desorientiertheit, Halluzinationen, Albträume und Konvulsionen
  • Kardiovaskuläre Störungen – Tachykardie und kardiale Arrhythmie
  • Sehstörungen – verschwommenes Sehen, Mydriasis, Augeninnendruckerhöhung, Glaukom, trockene Augen
  • Renale Störungen und Harnwegsstörungen – Harnverhalt und Probleme beim Wasserlassen
  • Hautstörungen – Gesichtsrötung, trockene Haut und allergische Reaktionen
Anticholinergika können die Symptome der iOAB potenziell verstärken, wenn beispielsweise die Patienten aufgrund der Mundtrockenheit vermehrt trinken.

Problem Adhärenz

Die Therapietreue unter Anticholinergika gilt insgesamt als schlecht: Bereits nach 1 Monat nehmen nur noch 69 % der Patienten die verordnete Medikation ein. Nach 3 Monaten sind es nur noch 38 % und nach einem halben Jahr nur noch 18 % (Abbildung 5) [23]. Eine große Metaanalyse untermauert diese Zahlen: Die Adhärenz über alle eingesetzten Anticholinergika lag hierbei nach 1 Jahr bei nur noch 12 bis 39 %. Nach 3 Jahren sank der Wert sogar auf 0 bis 16 % [24]. Häufig genannte Gründe für einen vorzeitigen Therapieabbruch unter Anticholinergika sind eine mangelnde Wirksamkeit sowie Nebenwirkungen [25, 26].

Alternativen zu Anticholinergika

Neben Anticholinergika kommen bei der Behandlung der iOAB auch a1-Adrenorezeptor-Antagonisten, die zu einer Muskelentspannung in der Prostata und im Blasenhals führen, sowie ß3-Adrenorezeptor-Agonisten wie Mirabegron, auch kombiniert mit Anticholinergika, zum Einsatz. Mirabegron führt über die Aktivierung des Sympathikus zu einer Detrusorrelaxation und zur Vergrößerung der funktionellen Harnblasenkapazität. Eine mögliche Komplikation ist Bluthochdruck. Dieser sollte vor Behandlungsbeginn und regelmäßig während der Behandlung mit Mirabegron gemessen werden, insbesondere bei Patienten mit Hypertonie [18, 27].

Minimalinvasive Verfahren

Ist die iOAB durch eine Pharmakotherapie nicht erfolgreich zu behandeln, sind minimalinvasive Therapieverfahren wie die Elektrostimulation in Betracht zu ziehen. Zu differenzieren sind die posteriore (perkutane) Tibialis-Nerv-Stimulation (PTNS) und die sakrale Neuromodulation(SNM). Als weitere Therapieoptionen empfehlen die internationalen Leitlinien die Injektion mit Botulinumtoxin A.

Tibialis-Nerv-Stimulation (PTNS)

Die perkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS) liefert über das sakrale S2-S4 Nervengeflecht elektronische Impulse in das sakrale Zentrum. Hierzu wird der Nervus tibialis mit einer feinen 34-G-Nadel, die direkt oberhalb des Innenknöchels eingeführt wird, stimuliert. Die PTNS wird einmal pro Woche für 30 Minuten ambulant durchgeführt. Ein Behandlungszyklus erstreckt sich über 12 Wochen. Ein Nachteil der Neuromodulationsbehandlung ist der fehlende Langzeiteffekt, sodass in der Regel eine Erhaltungstherapie durchgeführt werden muss [18].

Sakrale Neuromodulation

Bei der sakralen Neuromodulation (SNM) werden schwache elektrische Impulse eingesetzt, um den Sakralnerv, der die Blase und andere Muskeln kontrolliert, geringschwellig zu stimulieren und damit die Detrusorüberaktivität zu unterdrücken. Die Elektrodenimplantation des minimalinvasiven Verfahrens erfolgt in der Regel unter Allgemeinanästhesie. Die SNM hat sich als Behandlungsmethode international etabliert und gilt allgemein als sicher. Mögliche Komplikationen sind chirurgisch gut beherrschbar [28]. Die Einstellung des Systems muss einmal jährlich kontrolliert und gegebenenfalls angepasst werden. Nachteilig sind der relativ hohe Preis des Verfahrens und die nicht selten notwendigen Revisionseingriffe sowie die Inkompatibilität mit MRT-Untersuchungen. Im Rahmen der „INSITE-Studie“ wurde die SNM gegen eine Standardtherapie mit Antimuskarinika getestet. Die Erfolgsrate nach 6 Monaten betrug 61 % in der SNM-Gruppe und 42 % in der Antimuskarinika-Gruppe [29]. Im Follow-up nach 5 Jahren zeigt sich zudem ein stabiler Langzeitverlauf [30].

Botulinumtoxin A

Nicht bei allen Patienten führen konservative Maßnahmen oder eine Pharmakotherapie zum erwarteten Behandlungserfolg. Kommt es auch beim Wechsel auf ein anderes Anticholinergikum nicht zur adäquaten Symptombesserung und damit verbunden zur Steigerung der Lebensqualität, ist als Therapiealternative im individuellen Fall die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin A in den Detrusor vesicae zu erwägen. Botulinumtoxin A hemmt über die Wirkung auf die efferenten Bahnen die Ausschüttung von Acetylcholin aus den präsynaptischen Endigungen der Motoneuronen und verhindert so die ACh-Freisetzung und die Muskelkontraktion. Es resultiert eine Relaxation des M. detrusor. Darüber hinaus wirkt Botulinumtoxin A auf die afferenten Bahnen und blockiert die Ausschüttung von Neurotransmittern wie CGRP und Substanz P und reduziert damit den Harndrang.Zur Behandlung der iOAB mit den Symptomen Harninkontinenz, imperativer Harndrang und Pollakisurie, wenn ein Patient Anticholinergika nicht vertragen hat oder auf Anticholinergika nur unzureichend angesprochen hat, ist Onabotulinumtoxin A derzeit das einzige zugelassene Botulinumtoxin [31]. Die Behandlung mit Botulinumtoxin A wurde zum 1. Januar 2018 in den EBM aufgenommen. Die Leistung können Urologen und Gynäkologen abrechnen. Die Honorierung erfolgt extrabudgetär. Voraussetzung für die Abrechnung ist eine Genehmigung der KBV. Diese wird erteilt, wenn einmal pro Jahr die Teilnahme an einer von den jeweiligen Landesärztekammern anerkannten Fortbildung zur Therapie von Blasenfunktionsstörungen im Umfang von mindestens 8 CME-Punkten nachgewiesen wird [32, 33]. Die Zulassung in dieser Indikation basiert auf den Ergebnissen von zwei Phase-III-Studien im Rahmen des EMBARK-Studienprogrammes [34, 35]. Eingeschlossen waren iOAB-Patienten mit Inkontinenz („iOAB wet“), Pollakisurie und begrenztem Restharn ?100 ml, die zuvor mit Anticholinergika nicht adäquat zu behandeln waren.

Harnblasenaugmentation

Chirurgische Eingriffe sind angezeigt, wenn durch konservative und minimalinvasive Therapieverfahren kein befriedigendes Behandlungsergebnis erreicht werden konnte. Als chirurgische Standardtherapie der iOAB gilt die Blasenaugmentation, die meist als Ileumaugmentation durchgeführt wird [15]. Sie kommt zum Einsatz bei Erwachsenen wie auch bei Kindern, wenn keine angemessene Blasenkapazität oder Detrusor-Compliance gegeben ist [36, 37]. Zu den Komplikationen der Enterozystoplastik gehören allerdings Stoffwechsel- und Elektrolythaushaltsstörungen. Es bestehen außerdem die Gefahr einer Perforation beim intermittierenden Selbstkatheterismus und ein erhöhtes Risiko für eine Bakteriurie bzw. für Harnwegsinfekte. Durch eine vermehrte Schleimproduktion kann es zu Entleerungsstörungen kommen [37]. Viele Patienten, die sich einem Augmentationsverfahren unterziehen, sind nicht in der Lage, die Blase vollständig zu entleeren und benötigen einen intermittierenden Selbstkatheterismus [38].

Fazit

Die iOAB ist eine „Volkskrankheit“. Zwar ist das diagnostische und therapeutische Vorgehen in Leitlinien beschrieben, dennoch erhalten viele Patienten keine adäquate Therapie. Die Behandlung muss sich an der individuellen Symptomatik und dem Leidensdruck der Patienten orientieren. Ziel ist die Reduktion des imperativen Harndranges sowie der begleitenden Symptome und damit einhergehend die Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Es sind verschiedene Therapieansätze verfügbar – von der Verhaltensmodifikation über physiotherapeutische Maßnahmen und die Pharmakotherapie bis hin zu minimalinvasiven Verfahren wie der Injektion von Botulinumtoxin A und der Neuromodulation. Chirurgische Eingriffe stellen eine Ultima ratio dar.