Das Familiäre Mittelmeerfieber

Das Familiäre Mittelmeerfieber (FMF) ist die häufigste monogene autoinflammatorische Erkrankung. Sie wird durch Mutationen im „Mediterranean Fever“-(MEFV-)Gen ausgelöst. Typisch sind wiederkehrende, selbstlimitierende Fieberschübe, meist verbunden mit starken Bauch- oder Brustschmerzen sowie Arthralgien. Die schwerwiegendste Komplikation ist die sogenannte AA-Amyloidose, die unbehandelt zu verschiedenen Organschädigungen und typischerweise zur Niereninsuffizienz führen kann. Die Erstlinientherapie von FMF basiert in der Regel auf einer lebenslangen Anwendung von Colchicin zur Kontrolle der Entzündung und zur Vermeidung von Schüben. Bei Unverträglichkeit, unzureichendem Ansprechen oder bei Auftreten einer Amyloidose wird eine Interleukin-(IL-)1-Antagonisierung empfohlen.

In Deutschland sind vor allem Menschen mit Migrationshintergrund aus dem östlichen Mittelmeerraum betroffen. Diese Patienten stehen vor erheblichen Barrieren beim Zugang zum Gesundheitssystem. Eine herausfordernde Kommunikation und Sprachbarrieren erschweren nicht nur die Diagnosestellung, sondern auch die adäquate Versorgung. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, sind Schlüsselkompetenzen wie Reflexions- und Kommunikationskompetenz sowie interkulturelle Sensibilität des medizinischen Personals von entscheidender Bedeutung. Eine gezielte Berücksichtigung dieser Aspekte ist essenziell, um eine effektive und kultursensible Versorgung für FMF-Patienten sicherzustellen.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709124018580018
Zeitraum 10.01.2024 - 09.01.2025
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte 2 Punkte (Kategorie D)
Zielgruppe Ärzte
Referent PD Dr. med. Oliver Sander
Dr. med. Nedim Soydan
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Webinar
Lernmaterial Vortrag, Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner Swedish Orphan Biovitrum GmbH
Bewertung 4.2 (467)

Einleitung

Das Familiäre Mittelmeerfieber (FMF) ist die häufigste monogene autoinflammatorische Erkrankung. Es wird in der Regel autosomal rezessiv vererbt und manifestiert sich in Deutschland insbesondere bei Personen mit Migrationshintergrund aus dem östlichen Mittelmeerraum. Typisch sind wiederkehrende selbstlimitierende Fieberschübe verbunden mit starken Schmerzen im Bauch- oder Brustbereich (Peritonitis, Pleuritis). Zu den schwerwiegendsten Langzeitkomplikationen gehört die AA-Amyloidose, die unbehandelt zu verschiedenen Organschädigungen und typischerweise zu Nierenversagen führen kann. Mit einem ganzheitlichen Ansatz bestehend aus effektiver lebenslanger Prophylaxe und Therapie können bei den meisten Patienten Beschwerdefreiheit erreicht und Komplikationen vermieden werden. Dafür ist ein tiefgreifendes Verständnis von Krankheit und Therapie im interkulturellen Kontext wichtig, was die Grundlage für eine differenzierte, kultursensible Kommunikation ermöglicht. Gemäß der „Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland”-(ESPED-)Survey von 2013 beträgt die Prävalenz von FMF bei Kindern bis zum 16. Lebensjahr in der deutschen Gesamtbevölkerung drei pro 100.000. Bei Personen mit türkischer oder armenischer Abstammung erhöht sich diese Prävalenz auf 55 pro 100.000. Im Jahr 2014 bis 2015 ergaben Krankenkassendaten für die Allgemeinbevölkerung eine Gesamtprävalenz von zwölf pro 100.000.

Genetik und Pathophysiologie

Das FMF hat seinen Ursprung in Mutationen des „Mediterranean Fever”-(MEFV-) Gens, das auf dem kurzen Arm vom Chromosom 16 lokalisiert ist. FMF tritt familiär gehäuft auf und wird vorwiegend autosomal rezessiv vererbt. Heterozygote Merkmalsträger leiden in den meisten Fällen nicht an typischen FMF-Symptomen. Allerdings treten bei diesen Patienten vermehrt unspezifische inflammatorische Symptome auf. Die populationsgenetische Verbreitung der MEFV-Mutation wird auf einen Selektionsvorteil im Zusammenhang mit Yersinia pestis während der Pestwelle in den Jahren 1347 bis 1351 zurückgeführt. Das MEFV-Gen kodiert für das Protein Pyrin, auch als Marenostrin bekannt. Pyrin wird hauptsächlich in Neutrophilen, aber auch in Eosinophilen, Monozyten und dendritischen Zellen exprimiert. Als entscheidender Regulator der Entzündung aktiviert Pyrin die Transkription von Zytokinen. Durch eine Interaktion mit einem Adapterprotein des Inflammasoms führt dieser Prozess in mehreren Schritten zu einer gesteigerten Freisetzung der proinflammatorischen Zytokine Interleukin-(IL-)1β und IL-18. Die übermäßige Freisetzung dieser Zytokine verursacht die charakteristische Symptomatik des FMF, einschließlich der laborchemisch nachweisbaren Entzündungsreaktion mit erhöhtem C-reaktiven Protein (CRP) und erhöhtem Serum-Amyloid A (SAA). Die wirksamen Behandlungsmethoden, die im Abschnitt Therapie vorgestellt werden, greifen an den Schlüsselprozessen dieser entzündlichen Kaskade an. Es existieren unterschiedliche Mutationsvarianten, darunter ist die M694-Variante prädominant. Diese Variante führt zu einer frühzeitigen Manifestation und einem schweren klinischen Phänotyp. Sie ist zudem die am häufigsten auftretende Mutation bei türkischen, armenischen, arabischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen. Die Mehrheit der FMF-Patienten trägt diese M694-Variante, zusammen mit anderen Mutationen. Mutationen im Exon 10 sind in der Regel mit schweren klinischen Verläufen assoziiert. Eine weitere häufige Variante ist E148Q. Eine alleinige Mutation dieser Art führt nicht immer zur Manifestation des FMF. Bei Compound-Heterozygotie besteht jedoch die Möglichkeit, dass symptomatische Verläufe auftreten. Bei etwa 85 % der Patienten werden Hochpenetranzmutationen beobachtet, vorwiegend im Exon 10 und gelegentlich im Exon 2. Dies unterstreicht die Bedeutung der genetischen Differenzierung für die Prognoseabschätzung. Ein fehlender Nachweis einer bekannten MEFV-Mutation schließt aber FMF nicht sicher aus.

Klinik und Diagnostik

Das Management gliedert sich in drei Hauptpunkte: Frühidentifikation, Differenzialdiagnose und Bestätigung. Eine frühzeitige Diagnose der Erkrankung, einschließlich genetischer Anamnese und Bestätigung der Diagnose, sind von essenzieller Bedeutung. In aller Regel manifestiert sich die Erkrankung initial im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter. Eine erstmalige Präsentation im fortgeschrittenen Erwachsenenalter kommt seltener vor. FMF präsentiert sich in Schüben mit einer Dauer von meist wenigen Tagen. Dazwischen liegen vollständig beschwerdefreie Intervalle. Ihre Dauer ist variabel und liegt meist zwischen wenigen Wochen und mehreren Monaten. Vollständig symptomfreie Intervalle sind hingegen untypisch für Autoimmunerkrankungen und stellen damit ebenfalls ein wichtiges Unterscheidungskriterium dar. Hierbei ist die Aufklärung der Patienten von kritischer Bedeutung. Die frühzeitige Einleitung einer Schubprophylaxe ist entscheidend. Falls die hierfür ergriffenen Maßnahmen unzureichend sind und dennoch Schübe auftreten, werden Optionen für eine gezielte Schubtherapie angeboten. Das FMF kann sich je nach Alter unterschiedlich manifestieren. Das Leitsymptom im Schub bei Kindern und Erwachsenen ist Fieber ≥38 °C, das bei praktisch allen Patienten mit FMF vorkommt. Das Fieber verschwindet typischerweise spontan nach zwölf bis 72 Stunden. Besonders bei Kleinkindern manifestiert sich FMF oft ausschließlich durch das Symptom Fieber. Erst im Verlauf zeigen sich weitere charakteristische Symptome, die die klinische Diagnosefindung erleichtern. Typische weitere Symptome bei Kindern sind Bauchschmerzen, oft begleitet von Serositis mit Nachweis von freier Flüssigkeit, was zu Fehldiagnosen wie Appendizitis oder Adnexitis führen kann. Thoraxschmerzen treten bei Kindern ebenfalls häufig auf, verbunden mit Perikarditis oder Pleuritis. Eine begleitende Arthritis betrifft typischerweise größere Gelenke der unteren Extremität. Im Rahmen der Abklärung ist eine detaillierte Familienanamnese entscheidend. Im akuten Schub zeigen Laboruntersuchungen eine Leukozytose, eine erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG), ein C-reaktives Protein (CRP) und als langfristigen Marker auch ein erhöhtes Serum-Amyloid A (SAA). Außerhalb der akuten Schübe normalisieren sich die Laborparameter in aller Regel. Es können jedoch teilweise isoliert erhöhte SAA-Werte gemessen werden. Es existieren verschiede Diagnosesysteme, die die klinischen, laborchemischen und genetischen Parameter zusammenfassen und die Diagnosestellung erleichtern, beispielsweise die Eurofever/PRINTO-Kriterien der Paediatric Rheumatology International Trials Organisation (PRINTO). Bei Erwachsenen zeigen sich neben Fieber vor allem eine Peritonitis mit starken Unterleibsschmerzen und/oder eine Pleuritis oder Perikarditis mit starken Brustschmerzen, verbunden meist mit einer mono- oder oligoartikuläre Arthritis – eher der großen Gelenke. Ein Diagnoseverdacht besteht bei Vorliegen eines Hauptkriteriums wie Fieber, begleitet von beispielsweise Brustschmerzen (wobei eine Serositis nicht immer nachweisbar ist), Gelenkschmerzen oder belastungsabhängigen Schmerzen in den Beinen. Ein Ansprechen auf Colchicin mit Reduktion der Schubhäufigkeit und -schwere ist typisch und bietet ebenfalls einen diagnostischen Hinweis auf FMF. Bei Vorliegen typischer klinischer Zeichen sollte eine genetische Untersuchung erfolgen. In großen Studien wurde allerdings gezeigt, dass lediglich in ca. 80 % der Patienten mit eindeutigen klinischen Zeichen Mutationen im MEFV-Gen gefunden werden. Zusätzlich ermöglicht die genetische Untersuchung eine Abgrenzung des Krankheitsbildes gegenüber anderen periodischen Fiebersyndromen wie dem Hyper-IgD-Syndrom, der zyklischen Neutropenie, dem Tumornekrosefaktor-Rezeptor-1-assoziierten periodischen Syndrom (TRAPS), dem chronisch infantilen neurologisch kutanen artikulären Syndrom (CINCA-Syndrom), dem Muckle-Wells-Syndrom oder dem PFAPA-Syndrom (PFAPA: periodisches Fieber, Aphthen, Pharyngitis, Adenitis). Ausschlusskriterien, das heißt, Symptome, die bei FMF in aller Regel nicht vorkommen und somit eher für andere Erkrankungen sprechen würden, sind urtikarielle oder makulopapulöse Exantheme, Lymphadenopathie und Stomatitis aphthosa. Hier ist zu beachten, dass FMF auch koinzident mit anderen Erkrankungen auftreten kann. Neben dem klassischen Phänotyp (Typ 1) gibt es zusätzliche Verlaufsformen.

Therapie

Bislang gibt es keine kausale Therapie für das FMF. Nach Sicherung der Diagnose empfiehlt sich eine Behandlung mit Colchicin (Colchicum) in einer Dosierung von ein- oder zweimal täglich 1 bis 2 mg. Colchicin, ein trizyklisches Alkaloid, wird gewonnen aus dem Gift der Herbstzeitlosen. Es wirkt durch Hemmung der Mikrotubuli-Bildung der Ausbildung des Pyrin-Inflammasoms entgegen, einem frühen und kritischen Akteur im Rahmen der Autoinflammation. Es zeigt eine gute Wirksamkeit mit signifikanter Reduktion der Attackenfrequenz bei FMF. Attacken treten unter Colchicin im Vergleich zu Placebo etwa fünfmal seltener auf. Innerhalb eines Zeitraums von >10 Jahren entwickeln unter Colchicin-Therapie nur ca. 1,7 % der Patienten eine Proteinurie als Ausdruck einer AA-Amyloidose der Nieren, im Vergleich zu fast 50 % der Patienten ohne Colchicin. Bei 64 % lässt sich mit Colchicin eine komplette Remission erreichen, bei weiteren 31 % immerhin eine partielle Remission. Lediglich 5 % der Patienten zeigen keine Besserung. Nebenwirkungen, vor allem bei hohen Dosen, sind relativ häufig und umfassen Diarrhoe, Abdominalschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Bei Auftreten von Nebenwirkungen wird eine Dosisreduktion empfohlen, wobei die individuelle therapeutische Breite und die Nierenfunktion berücksichtigt werden müssen. Ein praktisches Problem in der Therapie mit Colchicin ist die maximal verfügbare Packungsgröße in Deutschland von 30 Stück, was zu Adhärenzproblemen aufgrund der erforderlichen wiederholten Beschaffung von Einzelpackungen führen kann. Die akuten Schübe sind selbstlimitierend. Bei Bedarf können nicht steroidale Antirheumatika wie Ibuprofen oder eine kurzfristige eine Gabe von Prednisolon in einer Dosis von 20 mg für ein bis drei Tage zusätzlich verabreicht werden. Bei persistierenden Attacken trotz regelmäßiger Colchicin-Einnahme kann eine Dosiserhöhung auf bis zu dreimal tägliche Einnahmen erwogen werden. Höhere Dosen erhöhen jedoch das Risiko für abdominelle Beschwerden und Durchfall und sind daher nur begrenzt tolerabel. Die langfristige Anwendung von Colchicin zeigt ein vorteilhaftes Sicherheitsprofil. Eine inakzeptable Attackenfrequenz trotz Therapieadhärenz deutet auf einen Colchicin-resistenten Verlauf hin. In solchen Fällen stehen als zugelassene Therapieoptionen die IL-1-Antagonisierung durch Bindung des IL-1 mit dem monoklonalen Antikörper Canakinumab oder durch Blockade des IL-1-Rezeptors durch den IL-1-Rezeptorantagonisten Anakinra als Dauertherapie zur Verfügung. Alternativ kann das kurz wirksame Anakinra auch zur Durchbrechung akuter Attacken on demand eingesetzt werden. Bei Diagnose einer AA-Amyloidose sollte eine IL-1-Blockade eingeleitet werden, da dieses Vorgehen nachweislich die Prognose verbessert. Im Falle von Therapieresistenz oder bei Verläufen mit starker Gelenkbeteiligung werden Besserungen berichtet unter der – bisher für diese Indikation nicht zugelassenen – Therapie mit Tumornekrosefaktor-(TNF-) α-Inhibitoren.

Prognose

Eine AA-Amyloidose kann im Verlauf jeder chronisch entzündlichen Erkrankung nach mehreren Jahren auftreten. Hierbei erfolgt die Anreicherung von fehl gefalteten Proteinen (SAA) im Gewebe vor allem der Gefäße. Die Prävalenz der AA-Amyloidose ist bei FMF besonders hoch und manifestiert sich besonders häufig an den Nieren, aber auch im Gastrointestinaltrakt, am Herzen und an den Nerven. Die Zeitspanne zwischen der Diagnosestellung von FMF und dem Auftreten der AA-Amyloidose beträgt im Median 17 Jahre. Vor der Ära der Colchicin-Behandlung lag das Risiko für die Entwicklung von Amyloidose bei 60 %, während es unter Colchicin-Therapie auf 13 % der Fälle reduziert werden konnte. Dies unterstreicht den besonderen Stellenwert der langfristigen Colchicin-Prophylaxe. Es empfiehlt sich zur frühen Erkennung eine Überwachung der Patienten durch die regelmäßige Kontrolle von CRP und Urin (Proteinurie) in Intervallen von sechs bis zwölf Monaten. Bei einer regelhaften Erhöhung des CRP-Wertes sollten die SAA mitbestimmt werden. Bei nachgewiesener Verschlechterung der Laborparameter ist eine Eskalation der Therapie angezeigt. Insbesondere bei einer Proteinurie von mehr als 0,5 g/24-Stunden-Urin wird eine nephrologische Mitbetreuung empfohlen. In der Praxis ergeben sich häufig erhebliche Probleme in der Versorgung von FMF-Patienten. Die Zeitspanne zwischen der Erstmanifestation der Symptome und der Diagnosestellung kann Jahre betragen. Darüber hinaus erfolgt die Therapie häufig verspätet, ist unter Umständen unzureichend dosiert oder wird nicht konsequent fortgesetzt. Patienten mit einem besonders hohen Risiko werden in vielen Fällen entweder gar nicht oder nicht rechtzeitig erkannt. Zusätzlich können interkulturelle Missverständnisse die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Patienten erschweren.

Migration und Gesundheit

In Deutschland betrifft FMF zumeist Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Erfassung der spezifischen Gesundheitsaspekte und des Krankheitsverständnisses bei Migranten ist für eine optimale Versorgung von Patienten mit FMF daher unerlässlich. Das Robert Koch-Institut berichtet gemäß dem Mikrozensus 2021, dass in Deutschland mehr als jede vierte Person (27,2 %) einen Migrationshintergrund aufweist. Besonders im Kindes- und Jugendalter beträgt dieser Anteil sogar über 30 %. Diese Gruppe von Menschen ist äußerst heterogen, und ihre Bedürfnisse sowie Ressourcen werden durch eine Vielzahl von Determinanten geprägt. Es ist wichtig, die Komplexität dieser Situation zu würdigen, um eine angemessene Berücksichtigung der vielfältigen Bedürfnisse und Ressourcen in der Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Der Umgang mit einer Erkrankung und die Kommunikation mit dem medizinischen Personal kann durch den jeweiligen kulturellen Hintergrund wesentlich mitbestimmt sein. So erlangt etwa im türkischen Kulturkreis die Frage nach der Krankheitsursache oftmals eine größere Bedeutung im Vergleich zu deren diagnostischer Einordnung in ein nosologisches System. Krankheit wird in diesem Kontext als bedrohliches Ereignis betrachtet und als exogen verursacht angesehen. Im Vergleich zu Einheimischen zeichnet sich die Auffassung türkischer Patienten von Körper, Symptomatik und Krankheit durch eine eher ganzheitliche Perspektive aus. Es ist nicht nur das einzelne Symptom von Interesse, sondern vielmehr die Verbindung von Körper und Geist im Kontext der Krankheit. So äußern Mütter mit Migrationshintergrund beispielsweise häufiger, dass „ihr Kind ganz oder alles krank” sei. Diese kulturelle Differenzierung in der Wahrnehmung von Krankheit hebt die Bedeutung einer kultursensiblen Herangehensweise in der medizinischen Versorgung hervor.

Kultursensible Patientenversorgung

Türkische Patienten neigen dazu, ihre gesundheitlichen Beschwerden häufig mithilfe von sog. „Organchiffren” auszudrücken, deren Bedeutung im Deutschen oft missverstanden wird. Insbesondere Leber und Lunge spielen in diesen Redewendungen eine vielseitige Rolle, die über die rein anatomische Dimension hinausgeht und mit Begriffen wie Trauer, Krankheit und Schmerzen in Verbindung steht (beispielsweise „meine Leber schmerzt oder brennt”). Einige Beispiele solcher metaphorischen Ausdrücke umfassen das Bild des „Fallens von Organen” (wie in „meine Leber fällt” oder „mein Magen fällt”). Hierbei wird die Vorstellung vermittelt, dass Beschwerden auftreten, weil die Ordnung und Balance im Körper nicht mehr stimmen. Ein solches Verständnis von Organsymbolik ist wesentlich für eine präzise Einordnung der Beschwerden und somit für eine effektive medizinische Kommunikation mit und Behandlung von türkischen Patienten.

Kulturspezifisches Krankheitsverständnis

Ein kulturspezifisches Verständnis von Medizin kann auch mythische Aspekte umfassen, die tief in der Überlieferung verankert sind. Die Vorstellung des „bösen Blicks” (Nazar) spielt insbesondere beim Schutz von Neugeborenen und Kindern eine wichtige Rolle. Dieser Glaube beruht auf der Überzeugung, dass der negative Einfluss des bösen Blickes von anderen Menschen Krankheiten oder Unfälle verursachen kann. Auch die Annahme, dass Krankheiten als Folge göttlicher Bestrafung („Strafe Gottes”) für moralische Verstöße auftreten können, prägt das kulturspezifische Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Das muslimische Gesundheits- und Krankheitsverständnis ist eng mit dem islamischen Glauben verbunden, der Körper und Gesundheit als eine Gottesgabe betrachtet, für die der Gläubige vor Gott eine Verantwortung trägt. Die Bewahrung der Gesundheit wird im Islam als religiöse Pflicht angesehen. Obwohl der Muslim anerkennt, dass Krankheit und Heilung letztlich in Gottes Hand liegen, obliegt es ihm dennoch, sich erforderlicher und angemessener medizinischer Maßnahmen zu bedienen. Dies spiegelt die Balance zwischen göttlichem Vertrauen und menschlicher Verantwortung wider. Im medizinischen Alltag kann daher die religiöse Orientierung eines Patienten auch als wichtige Ressource für die interkulturelle Zusammenarbeit genutzt werden – sowohl bei der Krankheitsbewältigung als auch bei der Mitwirkung und Akzeptanz von medizinischen Notwendigkeiten. Die Unterschiede in der Interpretation von Krankheitssymptomen und deren Ursachen können zu Missverständnissen zwischen Patienten und medizinischem Personal führen, was wiederum die Qualität der Diagnose und Behandlung beeinträchtigen kann. Eine kultursensible Kommunikation und Herangehensweise sind daher entscheidend, um die Gefahr solcher Missverständnisse zu minimieren und eine effektive medizinische Betreuung sicherzustellen. Die Betrachtung der „fremden” Kultur sollte dabei stets auch eine Reflexion über die „eigene” Kultur beinhalten.

„Morbus Mediterraneus“ – Cave vor stereotypen (Vor-)Urteilen

Eine rein kulturzentrierte Betrachtungsweise von Erkrankungen seitens der Ärzte läuft allerdings Gefahr, Vielfalt und individuelle Unterschiede zu übersehen. Sie könnte zu vorschnellen Annahmen oder generalisierten Schlussfolgerungen führen, die nicht zwangsläufig die spezifischen Bedürfnisse und Überzeugungen des einzelnen Patienten widerspiegeln. Um eine qualitativ hochwertige und patientenzentrierte Versorgung sicherzustellen, ist es daher von entscheidender Bedeutung, kulturelle Aspekte in einem differenzierten und kontextbezogenen Rahmen zu betrachten und gleichzeitig die individuelle, aktuelle Situation des Patienten angemessen zu berücksichtigen. Eine unreflektierte Kulturvorstellung zeigt sich oft in stereotypen Aussagen, insbesondere im Kontext des vermeintlichen „mystischen Medizinverständnisses” bei türkischen Patienten. Diese stereotype Wahrnehmung kann zu generalisierten Annahmen führen, die nicht die Vielfalt individueller Einstellungen und Überzeugungen angemessen berücksichtigen. In der medizinischen Praxis ist es daher von wesentlicher Bedeutung, eine reflektierte und kontextbezogene Herangehensweise an kulturelle Unterschiede zu entwickeln, um stereotypen Annahmen entgegenzuwirken und eine individualisierte, patientenzentrierte Versorgung zu gewährleisten. Ein in Deutschland verbreitetes Vorurteil betrifft die oft vermutete, vermeintlich stärker ausgeprägte Schmerzempfindung bei Patienten aus dem Mittelmeerraum, auch als „Morbus Mediterraneus” bezeichnet. Dieses stereotype Bild hat sich in der medizinischen Praxis etabliert; doch wissenschaftliche Daten konnten diese Annahme nicht stützen.

Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten

Die Thematik der Arzt-Patienten-Kommunikation erweist sich als weit komplexer als lediglich eine Frage der Deutschkenntnisse aufseiten von Patienten mit Migrationshintergrund. Die Defizite in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient betreffen nicht ausschließlich Patienten mit unzureichenden Deutschkenntnissen, sondern stellen ein grundlegendes und weitverbreitetes Problem im medizinischen Alltag dar. Es ist wichtig zu betonen, dass selbst Patienten mit fundierten Deutschkenntnissen von Angeboten in der Muttersprache profitieren können. Dies gilt insbesondere bei komplexen und chronischen Erkrankungen, psychosomatischen Leiden und bei der Mitteilung von lebensbedrohlichen Erkrankungen mit schlechter Prognose. Gerade in der medizinischen Versorgung kann und sollte die interkulturelle Sensibilität durch offene Strukturen, kulturelle Selbstreflexion des Personals, klare Worte in der jeweiligen Sprache oder mit Dolmetschern, Einbeziehung von Angehörigen, Integration von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und durch verpflichtende Schulungen zur kultursensiblen Versorgung im medizinischen Alltag gefördert werden.

Fazit

  • Das Familiäre Mittelmeerfieber (FMF) basiert auf Mutationen des MEFV-Gens.
  • In Deutschland betrifft die Erkrankung vorwiegend Menschen mit Migrationshintergrund aus dem östlichen Mittelmeerraum.
  • Colchicin ist die bevorzugte Erstlinientherapie für FMF-Patienten.
  • Bei unzureichendem Ansprechen auf Colchicin zeigt die zusätzliche IL-1- Antagonisierung vielversprechende klinische Effektivität bei einem guten Sicherheitsprofil.
  • Die konsequente Therapie ist entscheidend, um schwerwiegende Komplikationen wie die AA-Amyloidose zu verhindern.
  • Migranten stehen vor erheblichen Hindernissen beim Zugang zum Gesundheitssystem.
  • Kommunikation und Sprache stellen zentrale Herausforderungen dar.
  • Schlüsselkompetenzen für eine erfolgreiche Versorgung sind Reflexions- und Kommunikationskompetenz sowie die interkulturelle Kompetenz des medizinischen Personals.

Bildnachweis

Karen Roach, ii-graphics – stock.adobe.com