Antikoagulation bei tumorassoziierter venöser Thromboembolie – Hintergrund, Studien und aktuelle Evidenz

Das Auftreten von Tumorerkrankungen und venösen Thromboembolien (VTE) ist häufig miteinander assoziiert. Tumorpatienten besitzen dabei ein erhöhtes Rezidiv- und Blutungsrisiko. Daher stellt die Antikoagulation dieser Patienten eine besondere Herausforderung dar.

Durch den Einsatz von niedermolekularem Heparin (NMH) kann das Rezidivrisiko für VTE im Vergleich zur Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) bei vergleichbarem Blutungsrisiko reduziert werden. Deshalb wurden NMH bisher bevorzugt zur VTE-Behandlung bei Tumorpatienten eingesetzt. Eine weitere Behandlungsoption stellen nun direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) dar. Sie reduzieren verglichen mit NMH stärker das Risiko für VTE-Rezidive; das Risiko für Blutungen (schwere und nicht schwere, aber klinisch relevante Blutungen zusammengefasst) steigt hingegen.

Daten hinsichtlich der optimalen Behandlungsdauer mit DOAK sowie zum Einfluss von Komorbiditäten und einzelnen Tumorentitäten fehlen bislang. Im klinischen Alltag spielen weiterhin Medikamenteninteraktionen eine Rolle. In der Praxis ist daher eine individuelle Abschätzung von Nutzen und Risiko der Antikoagulationsregime mit NMH und DOAK für jeden Patienten essenziell.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709122055560018
Zeitraum 11.06.2022 - 10.06.2023
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Prof. Dr. med. Birgit Linnemann
Assoc. Prof. PD. Dr. Cihan Ay
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Webcast
Lernmaterial Vorträge, Handout (pdf); Bearbeitungsdauer: 90 Minuten
Fortbildungspartner Bayer Vital GmbH
Bewertung 4.1 (617)

Einleitung

Venöse Thromboembolien (VTE), wie tiefe Beinvenenthrombosen und Lungenembolien, stellen nach Herzinfarkt und Schlaganfall die am häufigsten auftretenden kardiovaskulären Erkrankungen dar. Dabei tritt jede fünfte VTE als Erst-manifestation im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung auf. So entwickeln etwa 20 % der Tumorpatienten als Folge der Erkrankung eine VTE. Insbesondere werden bei Tumorpatienten, die diagnostisch oder im Rahmen des Re-Stagings einer laufenden Therapie häufig computertomografisch untersucht werden, vermehrt inzidentelle, d. h. asymptomatische Pulmonalembolien, als Zufallsbefund diagnostiziert. Aufgrund des dreifach höheren Rezidivrisikos und doppelt so hohen Blutungsrisikos stellt die Behandlung von Patienten mit tumorassoziierter VTE im Vergleich zu Patienten mit VTE ohne einer zugrunde liegenden Tumorerkrankung daher eine besondere Herausforderung dar.

Behandlung von niedermolekularem Heparin oder Vitamin-K-Anatgonisten: Die CLOT-Studie und die CATCH-Studie

Im Bereich der Antikoagulation bei tumorassoziierter VTE wurden in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. Wegweisend für die Entwicklungen waren die Ergebnisse zweier randomisierter, kontrollierter Studien (RCT), in denen die Wirksamkeit von niedermolekularem Heparin (NMH) gegenüber der Standardbehandlung mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) nach initial parenteraler NMH-Gabe untersucht wurde. In der 2003 publizierten CLOT-Studie traten unter sechsmonatiger Behandlung mit dem NMH Dalteparin im Vergleich zu VKA weniger VTE-Rezidive auf (9 % vs. 17 %). Die relative Risikoreduktion betrug 52 % (HR 0,48; 95 %-KI [0,30; 0,77]). Für den relevanten Endpunkt „Risiko für schwere Blutungen” zeigte sich jedoch kein wesentlicher Unterschied (5,6 % vs. 3,6 %, p = 0,27). Diese Ergebnisse wurden 2015 in der CATCH-Studie im Wesentlichen bestätigt. Demnach lag die Rezidivrate bei Patienten unter Therapie mit dem NMH Tinzaparin bei 6,9 % im Vergleich zu 10,5 % bei Patienten unter Behandlung mit dem VKA Warfarin, die Risikoreduktion betrug 35 % (HR 0,65; 95 %-KI [0,41; 1,03]). Das Risiko für schwere Blutungen war mit 2,7 % für Tinzaparin vs. 2,4 % unter Warfarin (p = 0,77) vergleichbar. Relevanz der Ergebnisse für den klinischen Alltag: Das VTE-Rezidivrisiko kann durch eine sechs Monate andauernde Therapie mit NMH gesenkt werden, liegt aber mit 7 % bis 9 % immer noch hoch. Das Blutungsrisiko reduziert sich durch die Gabe von NMH nicht. Viele Patienten empfinden allerdings die ein- bis zweimal tägliche subkutane NMH-Gabe über sechs Monate hinweg als unangenehm. Dies führt zu einer verminderten Therapieadhärenz und -persistenz der Patienten. Zudem liegt wenig Evidenz für die Wirksamkeit der Therapie über eine längere Dauer von sechs Monaten vor.

Behandlung mit direkten oralen Antikoagulanzien oder NMH: Evidenzlage

Über die Jahre wurden die therapeutischen Ansätze weiterentwickelt und um die der direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) erweitert. So wurden in vier RCT auch die Wirksamkeit und Sicherheit der DOAK bei Tumorpatienten untersucht, wie im Folgenden dargestellt.

Hokusai-VTE-Cancer-Studie

Im Jahr 2017 wurde mit der Hokusai-VTE-Cancer-Studie die erste RCT zur Wirksamkeit der DOAK im Vergleich zu NMH veröffentlicht. Anhand des kombinierten primären Endpunktes „Rezidiv-VTE und schwere Blutungen” wurde damit so-wohl ein Effektivitäts- als auch ein Sicherheitsendpunkt untersucht. Dabei erfolgte die Klassifikation der Blutungsschwere nach Definition der International Society on Thrombosis and Haemostasis (ISTH). Die Dauer der Nichtunterlegenheits-studie betrug zwölf Monate. Im primären Endpunkt zeigte sich eine Nichtunterlegenheit für Edoxaban im Vergleich zu Dalteparin (12,8 % vs. 13,5 %; [HR 0,97; 95 %-KI 0,70–1,36]). Patienten, die mit dem DOAK Edoxaban behandelt wurden, litten numerisch seltener an Rezidivthrombosen als Patienten unter Therapie mit dem NMH Dalteparin (6,5 % vs. 10,3 %; [HR 0,71; 95 %-KI 0,48–1,06] sekundärer Endpunkt). Die Risikodifferenz lag bei –3,8 (95 %-KI –7,1; –0,4). Gleichzeitig traten im Edoxaban-Arm signifikant mehr schwere Blutungen auf als im Dalteparin-Arm (6,3 % vs. 3,2 %; [HR 1,77; 95 %-KI 1,03–3,04; p = 0,04]) sekundärer Endpunkt). Die Risikodifferenz betrug in diesem Fall 3,1 (95 %-KI 0,5; 5,7). Die erhöhte Rate bezog sich dabei weder auf fatale Blutungen (Kategorie vier) noch auf Notfallblutungen (Kategorie drei). Diese wurden unter der Edoxaban-Therapie insgesamt seltener verzeichnet als unter NMH-Behandlung. Die Rate klinisch relevanter nicht schwerer Blutungen war unter Edoxaban höher als unter Dalteparin (14,6 % vs. 11,1 %; [HR 1,38; 95 %-KI 0,98–1,94]). Die Ergebnisse einer Post-hoc-Analyse von Kraaijpoel et al. (2018) zeigten, dass die Blutungsereignisse im Edoxaban-Arm vorrangig auf gastrointestinale Blutungen bei Patienten mit Tumoren in diesem Bereich zurückzuführen waren. Diese Patienten wiesen demnach unter Edoxaban-Therapie ein erhöhtes Risiko für schwere Blutungen auf, insbesondere gastrointestinale Blutungen.

ADAM-VTE- und Caravaggio-Studie

In diesen beiden über sechs Monate durchgeführten Studien wurde jeweils Apixaban mit Dalteparin verglichen: In der ADAM-VTE-Studie wurden schwere Blutungsereignisse als primärer Endpunkt betrachtet. Die Daten waren jedoch aufgrund der geringen Ereignisraten nur schwer interpretierbar. Zudem war die Studie für die Auswertung weiterer Outcomes nicht gepowert, statistische Analysen waren daher nur begrenzt aussagekräftig. Die Ergebnisse der Caravaggio-Studie zeigten, dass die Rezidivrate unter Apixaban nach sechs Monaten mit 5,6 % etwas niedriger im Vergleich zu 7,9 % unter Dalteparin lag (HR 0,63; 95 %-KI [0,37; 1,07]). Hinsichtlich des Blutungsrisikos wurde mit 3,8 % vs. 4,0 % kein Unterschied festgestellt (HR 0,82; 95 %-KI [0,40; 1,69]).

SELECT-D-Studie

Im Rahmen der prospektiven, randomisierten, multizentrischen Phase-III-Studie wurde zunächst in einer ersten Phase eine sechsmonatige Pilotstudie durchgeführt. Mehr als 400 Patienten mit aktiver Krebserkrankung erhielten entweder Rivaroxaban oder Dalteparin. Im Rivaroxaban-Arm erfolgte die Therapie mit zweimal 15 mg täglich über drei Wochen, gefolgt von einmal 20 mg täglich. Die Dalteparin-Behandlung erfolgte nach dem CLOT-Regime mit 200 IE pro kg Körpergewicht im ersten Monat, danach 150 IE pro kg Körpergewicht einmal täglich für insgesamt sechs Monate. Unter Rivaroxaban wurden mit 4 % vs. 11 % signifikant niedrigere Rezidivraten verzeichnet als unter Dalteparin (HR 0,43; 95 %-KI [0,19; 0,99]). Schwere Blutungen traten unter Rivaroxaban häufiger, aber nicht signifikant unterschiedlich zum Dalteparin-Arm auf: 6 % vs. 4 % (HR 1,83, 95 %-KI [0,68; 4,96]). Ferner war die Rate klinisch relevanter, nicht schwerer Blutungen unter Rivaroxaban signifikant erhöht im Vergleich zu Dalteparin: 13 % vs. 4 % (HR, 3,76; 95 %-KI, 1,63–8,69). In der zweiten Studienphase wurde ein Teil der Patienten nach Ablauf der sechs-monatigen Pilotphase erneut randomisiert und für weitere sechs Monate behandelt. Im Rivaroxaban-Arm erfolgte die Behandlung mit einmal 20 mg täglich; die Patienten im Vergleichsarm erhielten Placebo. Die Datenauswertung des Zeitraumes der zweiten Phase (siebte bis zwölfte Monat) ergab, dass die VTE-Rezidivrate unter Fortführung der Rivaroxaban-Therapie (n = 92) weiterhin bei ca. 4 % lag. Bei mit Placebo behandelten Patienten stieg hingegen die Rezidivrate auf 14 % an. Die Häufigkeit für schwere bzw. klinisch relevante, nicht schwere Blutungen lag unter Rivaroxaban bei etwa 5 % bzw. 4 %. Im Placeboarm traten keine Blutungen auf.

Vergleichbarkeit der Studien

Insgesamt bestehen zwischen den dargestellten Studien große Unterschiede bezüglich der eingeschlossenen Patientenpopulationen und der Risikoprofile, wodurch ein Vergleich der Studiendaten generell schwierig ist. So zeigt sich beispielsweise, dass die Häufigkeiten an VTE-Rezidiven in der Hokusai-VTE-Cancer-Studie, der Caravaggio-Studie, der SELECT-D-Studie und der CLOT-Studie unter Heparin-Behandlung zwischen 7,9 % und 9 % lag. Im Heparin-Arm der ADAM-VTE-Studie betrug die Rate hingegen nur 6,3 %. In allen Studien, in denen NMH mit DOAK vergleichen wurden, traten im DOAK-Arm weniger Rezidive auf. Die Werte variierten dabei zwischen 0,7 % in der ADAM-VTE-Studie und 5 % in der Hokusai-VTE-Cancer-Studie. Bei Gegenüberstellung der Daten für den Endpunkt „schwere Blutungen” zeigte sich im Dalteparin-Arm der CLOT-Studie eine Rate von 6 %, während in den anderen Studien schwere Blutungen seltener auftraten (1,4 % bis 4,0 %). In den DOAK-NMH-Vergleichsstudien wurden in den DOAK-Armen zudem weniger schwere Blutungen verzeichnet als in der CLOT-Studie unter Heparin (3,8 % bis 5,6 % vs. 6 %). Die Gründe für die Diskrepanz in den Daten sind unklar. Die Rate schwerer Blutungen war in der Hokusai-VTE-Cancer-Studie unter Edoxaban signifikant höher (sek. Endpunkt), in der SELECT-D-Studie war die Rate in der Rivaroxaban-Gruppe numerisch erhöht (sek. Endpunkt), in der Caravaggio-Studie gab es keinen Hinweis auf eine vermehrte Inzidenz schwerer Blutungen unter Apixaban. Ähnlich stellte sich die Datenlage zur Gesamtmortalitätsrate dar: In der CLOT-Studie lag der Wert mit 39 % im Heparin-Arm vergleichsweise hoch. In den komparativen Studien zwischen DOAK und Dalteparin dagegen war die Gesamtmortalität in beiden Armen deutlich geringer, der niedrigste Wert lag bei 11 % im Dalteparin-Arm der ADAM-VTE-Studie. Der höchste Wert lag bei 30 % im Dalteparin-Arm der SELECT-D-Studie. Trotz der heterogenen Datenlage bieten DOAK generell eine effektive Behandlungsoption für Patienten mit tumorassoziierter VTE und hohem Rezidivrisiko.

Ergebnisse aus Metaanalysen

Im Jahr 2020 wurden die Daten der vier RCT zur Wirksamkeit und Sicherheit von DOAK versus Dalteparin erstmals in einer Metaanalyse zusammengefasst. Im Ergebnis zeigte sich unter Therapie mit DOAK im Vergleich zu NMH ein signifikant niedrigeres Rezidivrisiko (5,2 % vs. 8,2 %), eine numerisch höhere Rate an schweren Blutungen (5,3 % vs. 3,1 %) und eine signifikant höhere Rate klinisch relevanter, nicht schwerer Blutungen (10,4 % vs. 6,4 %). Ferner wurde der sekundäre Endpunkt „Therapieabbruchrate” untersucht. In allen vier Studien brachen insgesamt weniger Patienten im DOAK-Arm die Therapie im Vergleich unter Behandlung mit NMH ab (39,6 % vs. 45,0 %; HR 0,88 [95 %-KI, 0,81–0,96]).

Empfehlungen internationaler Leitlinien

Aufgrund der guten Evidenz zur Wirksamkeit der DOAK wurden entsprechende Empfehlungen in den international einschlägigen Leitlinien aufgenommen. DOAK werden demnach unter bestimmten Bedingungen zur Behandlung tumorassoziierter Thrombosen empfohlen. Zu berücksichtigen sind dabei unter anderem mögliche Medikamenteninteraktionen sowie ein erhöhtes Risiko für gastrointestinale Blutungen.

Limitationen und Ausblick auf weitere Fragestellungen

Trotz der guten Datenlage hinsichtlich der Wirksamkeit von DOAK bei tumorassoziierter VTE sind dennoch einige relevante Aspekte noch abzuklären:
  • Derzeit existieren keine direkten Vergleichsstudien zwischen den verschiedenen DOAK.
  • Ein indirekter Vergleich der Ergebnisse aus vorhandenen DOAK-Studien ist aufgrund der unterschiedlichen Studiendesigns und Patientenprofile nur eingeschränkt möglich.
  • Es liegen keine Daten zur Wirksamkeit des direkten Thrombininhibitors Dabigatran für die Behandlung tumorassoziierter VTE im Vergleich zu NMH vor.
  • Die Ergebnisse der bisherigen Studien belegen ein hohes Risiko für gastrointestinale Blutungen bei Patienten mit Tumoren in diesem Bereich.
Ferner sind Fragestellungen zu untersuchen, die die folgenden, bislang ungeklärten Punkte einschließen:
  • Das unter DOAK immer noch vergleichsweise hohe VTE-Rezidivrisiko.
  • das erhöhte Risiko für schwere Blutungen sowie für klinisch relevante, nicht schwere Blutungen;
  • das Management von Patienten mit Komorbiditäten, wie Thrombopenie oder schwerer Niereninsuffizienz, sowie von Patienten mit bestimmten Tumorentitäten, wie primäre Hirntumoren oder zerebralen Metastasen, da diese Populationen bisher von Studien ausgeschlossen oder nur in geringer Anzahl repräsentiert wurden;
  • Nutzen und Risiko einer Therapiefortführung über sechs Monate hinaus;
  • die Option einer Dosisreduktion der DOAK nach sechs Monaten, wie es bei Patienten ohne Tumorerkrankung im Rahmen der Sekundärprävention teilweise möglich ist.

Besonderheiten der oralen Therapie

Bei der oralen VTE-Therapie sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
Die gastrointestinale Absorption kann beeinträchtigt sein, z. B. durch
  • Erbrechen, Inappetenz, Diarrhöen, Obstipation
  • gastrointestinale Toxizität im Falle einer antineoplastischen Therapie oder
  • eine Operation bzw. Resektion im Bereich des oberen Gastrointestinaltraktes.
Potenzielle Medikamenteninteraktionen:
  • Hierzu existiert nur limitierte Evidenz, da Patienten unter Therapie mit Inhibitoren bzw. Induktoren von P-Glykoprotein oder CYP3A4 zumeist aus den Studien ausgeschlossen wurden.
  • Es liegen kaum Informationen zu neueren Krebstherapien, wie beispielsweise Immuncheckpoint-Inhibitoren, vor.
Fall 1 Bei dem 64-jährigen Patienten wurde eine spontane Ober- und Unterschenkelthrombose rechtsseitig diagnostiziert, die mit Phenprocoumon über sechs Monate behandelt wurde. Die Umfelddiagnostik ergab den Befund einer heterozygoten Prothrombin-G20210A-Mutation; die Familienanamnese ergab ferner, dass die Mutter ebenfalls unter VTE litt. Im Rahmen der Abklärung eines prolongierten bronchopulmonalen Infektes wurde vier Jahre später nebenbefundlich ein 10 cm großes hepatozelluläres Karzinom mit zwei Satellitenherden festgestellt. Der Tumor wurde mittels Hemihepatektomie entfernt, eine Chemotherapie erfolgte nicht. Am dritten Tag postoperativ trat eine zentrale Lungenarterienembolie ohne Zeichen einer Rechtsherzbelastung auf. Ursächlich dafür war eine Rezidivthrombose.

Eingeleitetes Antikoagulationsregime:

  • NMH in volltherapeutischer Dosierung aufgrund des sehr früh postoperativ aufgetretenen thromboembolischen Geschehens
  • Umstellung auf Edoxaban einmal 60 mg täglich zum Zeitpunkt der Klinikentlassung, da keine weiteren Blutungskomplikationen aufgetreten waren.
Situation nach einem Jahr:
  • Persistierende leichte Belastungsdyspnoe nach zwei Stockwerken
  • Gute Verträglichkeit von Edoxaban
  • Unauffällige Tumornachsorge, jedoch erhöhte Leberenzymwerte
Entscheidungskriterien zur Fortführung oder Beendigung der Antikoagulation nach zwölf Monaten
  • Edoxaban wird im Vergleich zu anderen DOAK weniger stark über den hepatischen Kreislauf eliminiert und kann gemäß Herstellerangaben bei Patienten mit leichter und mäßiger Leberfunktionsstörung mit Vorsicht angewendet werden.
  • Die erlittene zentrale Lungenarterienembolie ist ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis und war bereits das zweite thromboembolische Ereignis bei dem Patienten.
  • Es lag eine maligne Grunderkrankung vor, bei deren Ausdehnung unklar ist, ob der Patient rezidivfrei bleiben wird.
  • Es liegen weitere persistierende Risikofaktoren vor (männliches Geschlecht, milde Thrombophilie, positive Familienanamnese).
Fall 2 Bei der 54-jährigen Patientin traten in der Vorgeschichte rezidivierende oberflächliche Venenthrombosen (Thrombophlebitiden) an den unteren Extremitäten auf. Aufgrund der wechselnden Lokalisation und des Befalls von nicht varikösen Venensegmenten wurde die Diagnose Thrombophlebitis saltans gestellt. Eine Umfelddiagnostik hatte zunächst keine Ursache ergeben; auch eine Thrombophilieabklärung zeigte sich unauffällig. Schließlich trat eine spontane tiefe Ober- und Unterschenkelvenenthrombose auf, sodass eine Antikoagulation mit Rivaroxaban eingeleitet wurde. Die Therapie wurde nach drei Monaten frühzeitig beendet, da die Venen rekanalisiert erschienen. Bereits zwei Wochen später kam es zu einer Rezidivthrombose, es folgte die erneute Therapie mit Rivaroxaban.

Antikoagulationsregime:

  • Zweimal 15 mg für drei Wochen
  • Umstellung auf die Erhaltungsdosis von einmal 20 mg täglich für sechs Monate
  • Nach ca. zwölf Monaten Umstellung auf eine verlängerte Sekundärprävention mit einmal 10 mg Rivaroxaban täglich
Entscheidungskriterien für eine Umstellung des Antikoagulationsregimes nach der onkologischen Diagnose
  • Myeloproliferative Erkrankungen wie die Polycythemia vera oder die essenzielle Thrombozytose manifestieren sich oftmals mit dem Auftreten von Thrombosen und haben – bei unbehandelter Grunderkrankung – ein hohes Rezidivrisiko.
  • Nach aktuellen Leitlinien-Empfehlungen wird für Patienten mit hohem Rezidivrisiko, wozu auch Tumorpatienten gerechnet werden, die Fortsetzung einer volltherapeutischen Antikoagulation empfohlen.
  • Ob bei Tumorpatienten nach einem Therapieintervall von sechs bis zwölf Monaten eine Umstellung auf eine Niedrigdosis (Rivaroxaban einmal 10 mg oder Apixaban zweimal 2,5 mg) erfolgen kann, ist bislang nicht untersucht.
Fall 3 Bei einem 26-jährigen Mann wurde die Erstdiagnose Osteosarkom des distalen Femurs rechts bei rechtsseitig vergrößerten Lymphknoten inguinal und iliakal gestellt. Metastasierungen waren nicht erkennbar. Es erfolgte die Implantation eines Portkatheters zur Durchführung einer neoadjuvanten Chemotherapie nach EURAMOS-Protokoll mit der Gabe von zwei präoperativen Zyklen Cisplatin und Doxorubicin gefolgt von vier Zyklen Methotrexat. Einige Tage später entwickelte der Patient rechtsseitig eine Unterschenkelschwellung und Wadenschmerzen. Die venöse Duplexsonografie erbrachte die Diagnose einer Popliteal- und Unterschenkelvenenthrombose.

Entscheidungskriterien für die Festlegung eines geeigneten Antikoagulationsregimes

  • Potenzielle Medikamenteninteraktionen zwischen Doxorubicin und den DOAK
  • Potenzielle Absorptionsstörungen durch die Nebenwirkungen von Cisplatin, wie Übelkeit, Erbrechen, Appetitverlust, Schleimhautschäden, Durchfall und Obstipation
  • Potenzielles Auftreten von Thrombopenien durch die Chemotherapie; je nach Ausmaß des Thrombozytenabfalles wäre eine passagere Dosisreduktion oder ein Pausieren des Antikoagulans notwendig, wofür die Erfahrungswerte bei DOAK sehr limitiert sind.
  • Langjährige Erfahrungswerte für die Antikoagulation mit NMH bei Thrombozytopenie
Aus diesen Gründen wurde das Antikoagulationsregime wie folgt gewählt:
  • NMH Tinzaparin 175 IE/kg als Einmalgabe im ambulanten Setting
  • Dosisanpassung im Fall einer Thrombozytopenie (ab Thrombozytenzahlen von 50 pro nl 50%ige Dosisreduktion, bei Werten unter 25 pro nl Pausieren der Therapie bis zum Wiederanstieg der Werte)
Fall 4 Bei einer 58-jährigen Patientin wurden eine Lungenembolie und eine tiefe Beinvenenthrombose beidseits diagnostiziert.

Es folgte die Antikoagulation mit

  • Rivaroxaban zweimal 15 mg täglich,
  • nach drei Wochen Umstellung auf die Erhaltungsdosis von einmal 20 mg pro Tag.
Entscheidungskriterien für die Festlegung eines geeigneten Antikoagulationsregimes
  • Studiendaten belegen, dass Tumorpatienten unter DOAK weniger VTE-Rezidive erleiden; das Risiko für schwere Blutungen hingegen steigt, insbesondere bei gastrointestinalen Tumoren.
  • Die DOAK-Therapie hat bei der Patientin zur Anämie geführt.
  • Bei der Patientin standen Chemo- und Radiotherapie bevor.
Fall 5 Bei einem 30-jährigen Patienten wurde die Diagnose eines extragonadalen, mediastinalen Keimzelltumors Stadium III gestellt. Weiterhin wurde eine Lymphadenopathie retroperitoneal, paraaortal sowie parakaval festgestellt. Daraufhin erhielt der Patient eine neoadjuvante Chemotherapie mit vier Zyklen nach PEI-Schema. Anschließend erfolgte die Teilresektion der rechten Lunge, weiterhin wurden Teile des Perikards, des Zwerchfells sowie ein kleiner Teil der Vena cava superior entfernt. Es konnte End-zu-End anastomosiert werden. Etwa zwei Wochen nach der Operation entwickelte der Patient klinische Zeichen einer oberen Einflussstauung. Computertomografisch zeigten sich ausgedehnte Thrombosierungen der Vena axillaris, Vena subclavia und Vena brachiocephalica beidseits sowie der Vena cava superior.

Entscheidungskriterien für die Festlegung eines geeigneten Antikoagulationsregimes

  • Die Lokalisation der Thrombosen ist in diesem Fall atypisch, die Thrombosen waren sehr ausgedehnt..
  • Es existieren kaum Studiendaten zur Behandlung tumorassoziierter seltener Thromboseentitiäten, die die Vena cava, Armvenen oder Viszeralvenen betreffen, deshalb besteht Unsicherheit bezüglich der Wirksamkeit von DOAK bzw. NMH bei diesen atypisch lokalisierten Thrombosen.
  • In einer postoperativen Phase ist zudem das Blutungsrisiko hoch; auch muss – sollte sich eine klinische Verschlechterung mit vital bedrohlicher Einflussstauung entwickeln – unter Umständen eine endovaskuläre oder operative Thrombektomie erwogen werden.
Gesprächsbeginn

Fazit

  • Tumorpatienten sind überproportional häufig von VTE betroffen. Gleichzeitig wird bei etwa 20 % aller VTE-Patienten im Rahmen der Diagnostik nebenbefundlich eine Tumorerkrankung festgestellt.
  • Aktuelle Studiendaten belegen, dass DOAK eine gute Alternative zur NMH-Therapie der tumorassoziierten VTE darstellen können. Unklar ist jedoch die optimale Therapiedauer, zudem fehlen Daten zur Wirksamkeit von DOAK bei atypischen Thrombosen sowie bei Patienten mit spezifischen Tumorentitäten oder Komorbiditäten. Auch potenzielle Medikamenteninteraktionen mit onkologischen Therapeutika sind derzeit noch nicht hinreichend untersucht.
  • Aufgrund des unter DOAK erhöhten Blutungsrisikos, insbesondere im gastrointestinalen Bereich, sind NMH weiterhin die Therapie der Wahl bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko und gastrointestinalen Tumoren. Ferner sind NMH empfohlen, wenn gastrointestinale Nebenwirkungen, Medikamenteninteraktionen oder Thrombozytopenien zu erwarten sind. Aufgrund der bislang limitierten Evidenz hinsichtlich der optimalen Therapiedauer sollte eine regelmäßige Re-Evaluation des Antikoagulationsregimes erfolgen. Eine Therapieumstellung zwischen NMH und DOAK ist problemlos möglich, ferner kann bei anhaltender Tumorremission nach einem gewissen Zeitintervall die Beendigung der Antikoagulation erwogen werden, wenn keine weiteren Risikofaktoren für Rezidivereignisse vorliegen.
  • Für die Wahl der optimalen Behandlung fehlen in der klinischen Praxis vielfach Kriterien mit belastbarer Evidenz. Eine individuelle Abwägung der Entscheidungskriterien ist deshalb für jeden Patienten erforderlich.
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