Risiko der Umstellungen im Rahmen der Eskalationstherapie bei Multipler Sklerose

Bei der Multiplen Sklerose (MS) handelt es sich um die häufigste neurologische Erkrankung, die im jungen Erwachsenenalter bleibende Behinderungen und eine vorzeitige Berentung zur Folge haben kann. Sie ist eine immunvermittelte chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), die zu Demyelinisierung und axonalem Schaden führt. In der Therapie des akuten MS-Schubes sind Glukokortikoide ein etablierter Standard. Hinzu kommt eine verlaufsmodifizierende Therapie, die darauf abzielt, den fehlgeleiteten autoimmunen Prozess im ZNS zu unterbinden und so die entzündlichen Vorgänge im ZNS aufzuhalten sowie weitere Schübe zu verhindern.

Für die verlaufsmodifizierende Therapie hat es in der jüngsten Vergangenheit eine Vielzahl an Neuzulassungen gegeben. Daher ist es heute wichtig zu stratifizieren, welcher Patient welches Medikament bekommen sollte. Bisher erfolgte eine Therapiestrategie, die auf dem Prinzip beruht, zunächst mild bis moderat wirkende Medikamente einzusetzen und jeweils bei unzureichendem Ansprechen auf ein Medikament mit höherer Effektivität umzustellen. Es gibt inzwischen jedoch zunehmend Überlegungen, die Therapie stärker zu personalisieren und vom Pathomechanismus des individuellen Krankheitsverlaufes sowie vom Wirkmechanismus der verfügbaren Medikamente abhängig zu machen.

Prof. Dr. med. Martin S. Weber
Dauerhaft angewendet könnten hochaktive Wirkstoffe ein Sicherheitsrisiko darstellen.


Kursinfo
VNR-Nummer 2760709120059200011
Zeitraum 02.09.2020 - 01.09.2021
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Prof. Dr. med. Martin S. Weber
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Animierter Vortrag (Webcast)
Lernmaterial Vortrag (31:57 Min.), Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner Bayer Vital GmbH
Bewertung 4.4 (309)

Einleitung

Während das Prinzip der Therapie der Multiplen Sklerose (MS) bereits sehr alt ist, hat es in den letzten Jahren enorme Fortschritte bei der Zulassung von neuen Wirkstoffen gegeben (Abb. 1). So wurde etwa 100 Jahr nach der Erstbeschreibung durch Jean-Martin Charcot 1868 das Konzept entwickelt, dass die Patienten beim akuten Schub Kortison und als Schubprophylaxe Azathioprin erhalten. Die Behandlung wurde dann in den 1990er-Jahren durch die Zulassung der Beta-Interferon-Präparate (Interferon beta-1b s. c., Interferon beta-1a i. m. bzw. s. c.) für die Schubprophylaxe bzw. die verlaufsmodifizierende Therapie spezifischer. Um die Jahrtausendwende folgten die Markteinführungen von Glatirameracetat und Mitoxantron. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Einführung von Natalizumab im Jahr 2006, einem monoklonalen Antikörper, der erstmals darauf abzielte, die Migrationsfähigkeit von Lymphozyten zu inhibieren. Fingolimod steht seit 2011 zur Verfügung, ab 2013 erfolgte dann nahezu jährlich mindestens eine weitere Neuzulassung, sodass das Therapiespektrum mit zunehmender Geschwindigkeit immer breiter wird. Daher stellt sich inzwischen die Frage, wie Behandler und ihre Patienten aus dieser Vielfalt durch einen strategisch sinnvollen Einsatz der Wirkstoffe den größten Nutzen ziehen.

Verlauf der MS

Die Mehrheit der MS-Patienten hat in der frühen Phase zunächst eine schubförmige remittierende Verlaufsform, die dann in eine sekundär chronisch progrediente Phase übergeht (Abb. 2, grau). Nur eine Minderheit der Betroffenen erkrankt demgegenüber an einer primär progredienten MS, der keine schubförmige Phase vorgeschaltet ist. Die Diagnose der MS und die Abgrenzung der Verlaufsformen basiert auf der retrospektiv oder prospektiv erfassten klinischen Krankheitsaktivität, der Liquoruntersuchung und der Magnetresonanztomografie (MRT) [1]. Die MRT, die mit hoher Sensitivität Läsionen und Erkrankungsaktivitäten im ZNS nachweist, spielt zudem eine wichtige Rolle bei der Beurteilung, wie effektiv eine Therapie die Entzündungsaktivität unterdrückt. Denn die Zahl der entzündlichen Läsionen ist weit höher als die Zahl der MS-Schübe (Abb. 2, grün). Zugleich ist heute bekannt, dass bereits frühzeitig im Verlauf das Hirnvolumen ab- und der Axonverlust zunimmt (Abb. 2, blau), was schließlich zum Übertritt in die sekundär chronisch progrediente Phase führt. Demnach wird bereits sehr frühzeitig determiniert, wie stark die Erkrankung im Verlauf sekundär chronisch progredient wird und einhergehend der Behinderungsgrad zunimmt.

Früher Therapiebeginn

Basierend auf diesem Konzept zielt die moderne MS-Therapie darauf ab, durch eine sehr frühe Diagnosestellung und einen sehr frühen Einsatz von verlaufsmodifizierenden Medikamenten die Zahl der Schübe und damit einhergehend den Axon- und Hirnvolumenverlust zu minimieren (Abb. 3). Denn dieses frühe therapeutische Fenster hat einen Einfluss darauf, wie stark der Patient erkrankt bzw. wie hoch sein Behinderungsgrad sein wird. Das spiegelt allerdings auch die Einseitigkeit des bisherigen therapeutischen Vorgehens wider, das auf einer Eingrenzung bzw. Unterdrückung der fokal infiltrierenden Entzündungen basiert: Würde es mit der Therapie gelingen, beispielsweise Regenerationsmechanismen zu fördern, sollte diese in allen Krankheitsstadien wirksam sein.

Stufentherapie der MS gemäß DGN/KKNMS

Das gemeinsame Stufenschema der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) unterscheidet klassisch in die Entitäten klinisch isoliertes Syndrom (CIS), schubförmig remittierende MS (RRMS), sekundär chronisch progrediente MS (SPMS) und primär progrediente MS (PPMS). Die RRMS wird weiter unterteilt in eine milde/moderate und eine hochaktive Verlaufsform, bei der SPMS richtet sich die Therapieempfehlung nach dem Vorliegen von aufgesetzten Schüben (Abb. 4) [6]. Bei der CIS, der milden/moderaten RRMS und der SPMS mit aufgesetzten Schüben spielen klassische MS-Medikamente wie Beta-Interferon-Präparate weiterhin eine wichtige Rolle. Die Neuzulassungen kommen überwiegend bei der hochaktiven RRMS zum Einsatz. Für die PPMS stellte die Entwicklung von Ocrelizumab einen Durchbruch dar.

Eskalation der MS-Therapie

Bei MS erfolgt heute in der Regel eine Stufentherapie, da sich die verfügbaren Substanzen in ihrer Wirksamkeit, aber auch in ihrer Verträglichkeit unterscheiden. In ihrem Rahmen kommt zu Beginn zunächst ein mild oder moderat wirksames Medikament zum Einsatz. Ziel der Behandlung ist das Erreichen der sogenannten „No Evidence of Disease Activity“, das heißt, bei dem Patienten sollen keine Schübe, keine Behinderungsprogression und keine läsionsgebundene MRT-Aktivität detektierbar sein. Lässt sich dieses Ziel nicht erreichen, wird die Therapie eskaliert und auf ein vermeintlich wirksameres Medikament umgestellt.

Herausforderungen bei der Eskalation der MS-Therapie

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich zwar vor allem die MRT-Aktivität gut messen lässt und dies auch regelmäßig geschieht, Schübe und Behinderungsprogress werden ebenfalls erfasst, doch die schleichenden Prozesse wie Atrophie (Hirnvolumen-/Axonverlust) sowie Abnahme der Kognitionsfunktion sind nur insuffizient messbar und wahrscheinlich nicht vorhersagbar. Das schränkt das Konzept ein, da sich bisher nur drei der relevanten Parameter in der Praxis wirklich detektieren lassen. Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass mit zunehmender Häufigkeit von MRT-Untersuchungen die Wahrscheinlichkeit steigt, eine entzündliche Aktivität nachzuweisen. Daher erfolgt bei Patienten, die häufiger untersucht werden, früher eine Eskalation der Therapie. Zudem ist das Konzept der relativen Wirkstärken der verfügbaren Medikamente mit Schwächen behaftet. Es basiert auf den in den zulassungsrelevanten Studien ermittelten Schubraten (Abb. 5). Nach dem Konzept beginnt die Stufentherapie mit den Wirkstoffen auf der rechten Seite, weil diese in ihren jeweiligen Zulassungsstudien eine vergleichsweise milde oder moderate Wirksamkeit hatten. Mit zunehmender Eskalation der Therapie kommen dann sukzessive die Medikamente zum Einsatz, die weiter links stehen und in ihren jeweiligen Zulassungsstudien die Schubrate gegenüber Placebo vergleichsweise stärker reduziert hatten. Doch zum einen lassen sich die Schubraten kaum miteinander vergleichen, da es sich nicht um Head-to-Head-Studien handelt, sondern um einen Vergleich von unterschiedlichen Studien. Zum anderen treffen die Schubraten nicht notwendigerweise auf den individuellen Patienten zu. Denn es handelt sich jeweils um die mittlere Reduktion der Schubrate über die gesamte Gruppe. Daher erlauben die Daten keinen Schluss darüber, ob vielleicht die Hälfte der Patienten extrem gut respondiert und die andere Hälfte gar nicht. Mit anderen Worten: Die mittleren Wirkstärken, an denen sich das abgestufte Vorgehen im Rahmen der Eskalationstherapie orientiert, müssen nicht notwendigerweise für den einzelnen Patienten gelten.

Umstellung der Therapie

Während für den Arzt bei der Anpassung der Therapie in der Regel die Effizienz im Vordergrund steht, sind für die Patienten oft die Angst vor Nebenwirkungen sowie existierende oder auftretende Nebenwirkungen und somit die Lebensqualität vorrangiger. Sie möchten nicht zusätzlich zur MS durch Nebenwirkungen belastet werden, sodass es für viele Erkrankte sehr wichtig ist, die Nebenwirkungen durch entsprechende Therapieanpassungen in den Alltag zu integrieren. Dies beeinflusst die Adhärenz und somit auch den Erfolg der Therapie. Daher basiert nach dem Multiple Sclerosis Decision Model (MSDM) die Entscheidung, die MS-Therapie umzustellen, neben den Domänen Schub, Behinderungsprogression und MRT-Aktivität auch auf „Patient Reported Outcomes (PRO)“, die den Wunsch des Patienten berücksichtigen (Abb. 6). Dabei ist es wichtig, Wünsche des Patienten – etwa nach einer Umstellung von einer injizierbaren auf eine orale Therapie – medizinisch einzuordnen und beispielsweise darauf hinzuweisen, dass in dem Fall ein stabiles Ansprechen unter Umständen nicht gewährleistet werden kann. Nach dem Ampelschema gibt es keinen Grund für eine Therapieumstellung, wenn die Therapie bei allen vier Domänen gut abschneidet und somit alle vier Ampeln auf Grün stehen. Springt eine Ampel auf Gelb um, etwa weil sich eine moderate MRT-Aktivität zeigt, wird nicht sofort umgestellt, sondern zunächst das Monitoring intensiviert. Stehen zwei Ampeln auf Gelb oder eine auf Rot, weist dies auf ein schlechtes Ansprechen und somit auf die Notwendigkeit einer Therapieänderung/-eskalation hin.

Keine Deeskalationsstrategie

Wenn der Patient eine vermeintlich effizientere Therapie erhält, unter der keine MRT-Aktivität mehr nachzuweisen ist, könnte er auch übertherapiert sein. Bei dem bisherigen Eskalationskonzept ist allerdings keine Deeskalation vorgesehen. Abgesehen von der relativen Verträglichkeit gibt es derzeit keinen Parameter, auf dessen Basis eine Deeskalation erwogen werden würde. Das stellt eine Herausforderung dar, da die bisherigen Medikamente, die alle nicht spezifisch auf die MS wirken, mit zunehmender Wirksamkeit – vereinfacht dargestellt – das Immunsystem zunehmend lokal oder systemisch supprimieren und somit das Risiko für Infektionen und Malignome erhöhen (Abb. 7).

MS-Therapie nach dem Wirkmechanismus

Vor diesem Hintergrund wird das Konzept, von mild auf moderat wirksame MS-Medikamente zu eskalieren, zunehmend infrage gestellt. An seiner Stelle könnte ein Konzept stehen, bei dem die MS-Therapeutika nach ihrem Wirkmechanismus zum Einsatz kommen. Bei den bisherigen Ansätzen steht im Vordergrund, neu auftretende entzündliche Läsionen im ZNS zu verhindern, um letztendlich dem Auftreten von neuen Schüben entgegenzuwirken. Hierbei gibt es derzeit vier zentrale Wirkmechanismen (Abb. 8):
  • Die Immunmodulation (z. B. Beta-Interferone) ist das älteste Wirkprinzip bei MS. Sie verändert die Immunantwort so, dass sich die Immunzellen weniger aggressiv verhalten.
  • Die Proliferationshemmung (z. B. Azathioprin, Cladribin) unterdrückt die Vermehrung der Immunzellen.
  • Die Migrationshemmung (z. B. Natalizumab) verhindert durch Inhibition der entsprechenden Adhäsionsmoleküle die Infiltration der Immunzellen in das ZNS. Ein Vorteil besteht darin, dass die peripheren Migrationshemmer nicht systemisch immunsuppressiv wirken. Doch sie können lokal im ZNS eine Immunsuppression auslösen.
  • Die Depletion (z. B. Alemtuzumab) entfernt Teile des adaptiven Immunsystems, die in das ZNS infiltrieren können.
Aus dieser Übersicht resultieren zwei Konsequenzen: Zum einen ist es bei unzureichender Wirksamkeit wahrscheinlich günstiger, den Wirkmechanismus zu wechseln, als innerhalb des gleichen Wirkmechanismus die Therapie auf ein vermeintlich effizienteres Medikament umzustellen, um den Patienten individuell besser behandeln zu können. Zum anderen erscheint es sinnvoll, bei Neuentwicklungen nicht einen der bereits bekannten Wirkmechanismen weiter zu entwickeln, sondern andere zu erforschen, die nicht das periphere Immunsystem betreffen und somit komplementär wirken können.

Immunmodulation

Die Immunmodulatoren, zu denen Beta-Interferon-Präparate und Glatirameracetat gehören, beeinflussen das Immunsystem auf vielen Ebenen, etwa der Immunzellen und der Zytokine. Beta-Interferone bremsen beispielsweise die Wirkung von entzündungssteigernden Botenstoffen und fördern die Produktion von entzündungshemmenden Botenstoffen (Abb. 9). Diese Effekte werden womöglich auf beiden Seiten der Blut-Hirn-Schranke erzielt, also peripher bei der Generierung einer Immunantwort, aber auch zentral bei der Reaktivierung dieser Zellen, sodass Immunmodulatoren möglicherweise das Potenzial haben, im ZNS eine Regeneration anzustoßen.

Proliferationshemmung

Bei Cladribin handelt es sich um einen modernen Vertreter der Proliferationshemmer. Das chlorierte Analogon des DNA-Bausteines Desoxyadenosin ist ein Prodrug, das bevorzugt von Lymphozyten aufgenommen und in seine aktive Form überführt wird. Hierbei entsteht ein falscher DNA-Baustein, der die DNA-Synthese und -Reparatur hemmt. Dies reduziert die Zahl sowohl der proliferierenden als auch der ruhenden Lymphozyten.

Migrationshemmung

Der wichtigste Vertreter der Migrationshemmer ist Natalizumab. Hierbei handelt es sich um einen Antikörper, der Adhäsionsmoleküle auf Leukozyten blockiert, sodass diese nicht in das ZNS gelangen können. Das führt zu einer lokalen Immunsuppression im ZNS, die mit fortschreitender Behandlungsdauer zunimmt. Die Anwendung von Natalizumab kann das Risiko für eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) erhöhen, eine durch das JC-Virus hervorgerufene opportunistische Infektion, die tödlich verlaufen oder zu einer schweren Behinderung führen kann. Das Risiko der Patienten lässt sich anhand dreier Faktoren abschätzen:
  • Vorliegen von Anti-JCV-Antikörpern
  • Behandlungsdauer (ein bis 24 Monate, 25 bis 48 Monate, 49 bis 72 Monate)
  • Vorherige Behandlung mit Immunsuppressiva
Das Risiko liegt im günstigsten Fall bei 1 : 10.000, wenn der Anti-JCV-Antikörper-Status negativ ist, und steigt im ungünstigsten Fall auf ungefähr 1 : 100 bei positivem Antikörperstatus, einer Vorbehandlung mit Immunsuppressiva und einer Dauer der Natalizumab-Therapie von 25 oder mehr Monaten. Daher muss Natalizumab unter Berücksichtigung dieser drei Faktoren intelligent eingesetzt werden, um potenziellen Nutzen und Schaden individuell abzuwägen.

Depletion

Für die depletierende Therapie bei RMMS steht als neuer Vertreter Ocrelizumab zur Verfügung [8]. Der Antikörper bindet selektiv an das CD20-Molekül auf der Oberfläche von B-Zellen und interagiert mit dem Immunsystem, um die CD20-positiven B-Zellen zu eliminieren (depletieren). Da die Plasmazellen kein CD20 exprimieren, bleibt die Antikörperproduktion zwar zumindest eine gewisse Zeit erhalten. Doch die Plasmazellen differenzieren sich aus den depletierten Vorläuferzellen, sodass die Antikörperantwort bei längerer Therapiedauer abfallen kann.

Sicherheitsprobleme bei hochaktiven Wirkstoffen

Hochaktive Wirkstoffe wie Ocrelizumab und Natalizumab lassen sich sehr gut als Interventionstherapeutika einsetzen, wenn die Krankheitsaktivität entsprechend hoch ist. Bei beiden Medikamenten stellt aber sehr wahrscheinlich die dauerhafte Anwendung ein Sicherheitsproblem dar. Denn in den Zulassungsstudien, die in der Regel über ein bis zwei Jahre laufen, lässt sich nicht notwendigerweise das gesamte Spektrum der Nebenwirkungen abschätzen, da es bei diesen Wirkstoffen Nebenwirkungen wie das Antikörpermangelsyndrom gibt, die sich erst mit zunehmender Therapiedauer entwickeln.

Personalisierte MS-Therapie nach Pathomechanismus

Ocrelizumab war zudem das erste Medikament mit nachgewiesener Wirksamkeit beim PPMS [11]. Darüber hinaus wurde 2019 in den USA – bisher allerdings nicht in der EU – mit Siponimod erstmals ein Medikament zugelassen, das bei SPMS wirksam war [9]. Demnach stehen inzwischen nicht nur für die schubförmig remittierenden, sondern auch für die progredienten Verlaufsformen der MS Medikamente zur Verfügung. Nach heutigem Verständnis sollten diese jedoch nicht als eigenständige Entitäten betrachtet werden, sondern als unterschiedliche Achsen einer Erkrankung, die entsprechend des Pathomechanismus behandelt werden (Abb. 10). Nach diesem Konzept ist zu unterscheiden, ob eine progredienten MS aktiv ist (der Patient also einen klinischen Schub hat oder fokale MRT-Aktivität aufweist) oder ob eine Progression im engeren Sinne, ohne eine derartige Aktivität, stattfindet. Die Therapie hängt dann nicht davon ab, ob eine PPMS oder eine SPMS vorliegt, sondern von der Ausprägung der beiden Achsen „Progression“ und „Aktivität“. Denn in den beiden Zulassungsstudien von Ocrelizumab und Siponimod konnten PPMS- bzw. SPMS-Patienten mit noch bestehender Läsionsbildung besonders von der Behandlung mit der Prüfsubstanz profitieren. So wurde unter Ocrelizumab vs. Placebo die Behinderungsprogression nicht vollständig aufgehalten, sondern nur reduziert. Nach einer Subgruppenanalyse profitierten allerdings Patienten mit Läsionen im MRT zu Studienbeginn deutlich besser in Bezug auf die Behinderungsprogression als Patienten ohne derartige Läsionen, sodass es bei der PPMS eine läsionsgetriebene Komponente gibt [11]. Auch bei Siponimod zeigte sich ein Einfluss der Aktivität auf die Wirksamkeit. Hier konnte die Behinderungsprogression gegenüber Placebo besonders gut aufgehalten werden bei Patienten, die zu Studienbeginn noch Schübe gehabt hatten [9]. Basierend auf diesen Überlegungen könnten PPMS- bzw. SPMS-Patienten, die noch eine fokale MRT-Aktivität oder Schübe haben, von verlaufsmodifizierenden Medikamenten profitieren. Interferon beta-1b ist z. B. auch für SPMS-Patienten mit aktiven Schüben zugelassen [4]. Zudem scheinen basierend auf den Studiendaten Siponimod bei SPMS-Patienten mit Krankheitsaktivität, d. h. mit Vorliegen von Läsionen (in der EU noch keine Zulassung für diese Indikation), und Ocrelizumab bei PPMS-Patienten mit Krankheitsaktivität sinnvolle Therapieoptionen zu sein. Bei SPMS-Patienten mit Krankheitsaktivität ist Mitoxantron eine Alternative, dessen Zulassung für Patienten mit hochaktiver RRMS und sich rasch entwickelnder Behinderung besteht, die keine anderen Therapieoptionen haben [5]. Liegt bei PPMS- bzw. SPMS-Patienten hingegen eine reine Progression ohne Aktivität vor, können nach wie vor Kortikosteroide zum Einsatz kommen. Um derartige Therapieentscheidungen treffen zu können, sollten auch Patienten mit progredienter MS regelmäßig im MRT auf das Vorhandensein von Läsionen untersucht werden.

Fazit

Die Eskalationstherapie bei MS ist mit einer Reihe von Problemen behaftet. So lassen sich bislang nur MRT-Aktivität, Schübe und Behinderungsprogress suffizient detektieren, andere relevante Parameter, die einen ausreichenden Therapieerfolg anzeigen würden, hingegen nicht. Zudem spielt für die Patienten oft nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch die Verträglichkeit eine wichtige Rolle. Die Abwägung von Wirksamkeit und Verträglichkeit ist insbesondere auch bei den modernen, hochaktiven Wirkstoffen von zentraler Bedeutung, da es bei ihnen schwerwiegende Nebenwirkungen geben kann, die erst mit zunehmender Therapiedauer auftreten. Außerdem gibt es bislang keine Strategie, die Therapie nach einer gewissen Zeit wieder zu deeskalieren. Darüber hinaus basiert das Konzept der Eskalation auf den Zulassungsstudien der verfügbaren Substanzen, die sich jedoch nicht vergleichen lassen. In jeder Studie sind die Effekte zudem in Form der mittleren Reduktion der Schubrate über die gesamte Gruppe dargestellt, die womöglich auf den einzelnen Patienten nicht zutrifft. Vor diesem Hintergrund gibt es zunehmend Überlegungen, die Wirkmechanismen der Medikamente und bei progredienten Formen die Pathophysiologie des individuellen Krankheitsverlaufes bei der Wahl der Therapie stärker zu berücksichtigen. So könnten Beta-Interferon-Präparate nicht nur bei der milden/moderaten RRMS eine wichtige Rolle spielen, sondern – unter Berücksichtigung des Zulassungsstatus – ebenfalls bei progredienten Verlaufsformen, wenn bei diesen Krankheitsaktivität nachweisbar ist. Auch moderne hochwirksame Wirkstoffe für die progredienten Verlaufsformen scheinen besonders wirksam zu sein, wenn die Patienten akute Schübe oder Läsionen im MRT haben.

Literatur:

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  4. Fachinformation Betaferon®, Stand Juni 2018.
  5. Fachinformation Ralenova®, Stand Oktober 2018.
  6. Gold R et al. Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose. S2e-Leitlinie. Gültig bis 2017: www.dgn.org/leitlinien/2333-ll-31-2012-diagnose-und-therapie-der-multiplen-sklerose. Letzter Abruf: 5.7.2019.
  7. Hauser SL et al. Multiple sclerosis: Prospects and promise. Ann Neurol. 2013;74(3):317–27.
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  9. Kappos L et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): a double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet. 2018;391(10127):1263–73.
  10. Lublin FD et al. Defining the clinical course of multiple sclerosis: the 2013 revisions. Neurology. 2014;83(3):278–86.
  11. Montalban X et al. Ocrelizumab versus Placebo in Primary Progressive Multiple Sclerosis. N Engl J Med. 2017;376(3):209–20 & Supplementary Appendix.
  12. Sorensen PS. New management algorithms in multiple sclerosis. Curr Opin Neurol. 2014;27(3):246–59.
  13. Stangel M et al. Multiple Sclerosis Decision Model (MSDM): Entwicklung eines Mehrfaktorenmodells zur Beurteilung des Therapie- und Krankheitsverlaufs bei schubförmiger Multipler Sklerose. Akt Neurol. 2013;40(09):486–93.