Künstliche Intelligenz in der Augenheilkunde – Chancen und Herausforderungen

Die künstliche Intelligenz (KI) hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt und hat das Potenzial, Ergebnisse und Effektivität im Gesundheitswesen zu verbessern. Zwar ist die KI derzeit noch nicht vollständig im klinischen Praxisalltag einsetzbar, wird aber auch zukünftig, unterstützt durch Wirtschaft und Politik, weiter vorangetrieben und zu Veränderungen der Arbeitsabläufe führen. Auch wenn die Errungenschaften der KI überwiegend positiv bewertet werden, so wird der KI doch auch mit gewissen Ressentiments und Ängsten begegnet.
Erfahren Sie hier, ob bzw. welche Ressentiments gegenüber der KI gerechtfertigt sind, in welchen Bereichen die KI den (Augen-)Arzt schon heute sinnvoll unterstützen kann, und lernen Sie, worauf bei der Entwicklung eines Deep-Learning-Algorithmus zu achten ist.


Kursinfo
VNR-Nummer 2760709122091210016
Zeitraum 05.12.0222 - 04.12.2023
Zertifiziert in D, A, CH
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Prof. Dr. Ulrich Kellner
PD Dr. med. Christoph Kern
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Webinar-Aufzeichnung
Lernmaterial Vorträge, Handout (PDF); Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner Bayer Vital GmbH
Bewertung 4.1 (312)

Einleitung

Die Technologie der künstlichen Intelligenz (KI) hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt und hat das Potenzial, Ergebnisse und Effektivität im Gesundheitswesen zu verbessern. Auch wenn bereits einige Entwicklungen – vor allem international – eingeführt wurden, so ist die KI bisher dennoch noch lange nicht vollständig im klinischen Alltag einsetzbar. Allerdings sind die Erwartungen an die KI im Gesundheitswesen sehr hoch. So erwartet die deutliche Mehrheit einer Onlineumfrage unter Auszubildenden dreier Fachschulen (Ophthalmologie, Radiologie/Strahlenonkologie, Dermatologie) in Neuseeland und Australien, dass KI ihr medizinisches Fachgebiet verbessern und den Bedarf an medizinischem Personal innerhalb des nächsten Jahrzehntes beeinflussen würde. Als wesentliche, zu erwartende Vorteile der KI wurden eine verbesserte Vorsorge sowie die Rationalisierung monotoner Aufgaben genannt. Die Autoren verwiesen zudem darauf, dass auch eine Umfrage unter Auszubildenden des Canadian Royal College of Physicians and Surgeons vergleichbare Ergebnisse lieferte: 72,2 % der knapp 4000 Befragten gaben an, dass KI einen positiven Einfluss auf den Arbeitsablauf und/oder die klinische Praxis und die Patientenerfahrung haben würde.

Angst vor KI?

Doch trotz aller positiven Erwartungen gibt es durchaus auch Ressentiments und Ängste, die mit der Einführung der KI im Gesundheitswesen verbunden sind. So besteht neben einer allgemeinen Furcht vor Unbekanntem auch die Befürchtung, dass die KI möglicherweise den Augenarzt ersetzen und/oder bislang bewährte Arbeitsabläufe erheblich verändern könnte. Hinzu kommt die Besorgnis, die KI sei eine „Blackbox”, die es dem behandelnden Arzt nicht mehr ermöglicht, Prozesse und Ergebnisse der KI in ausreichendem Umfang nachzuvollziehen und zu überprüfen – und zudem möglicherweise zu Fehlinterpretationen neigen könnte. Denn schließlich wissen wir aus eigener Erfahrung, wie schwierig die Beurteilung komplexer Fundusbilder sein kann. Werden einzelne Parameter aus dem Zusammenhang gerissen evaluiert oder überinterpretiert, so kann dies zu einer Fehlinterpretation führen, da nur alle Einzelheiten des gesamten Bildes einen vollständigen Überblick und eine tragfähige Bewertung ermöglichen. Dieser Aspekt gilt allerdings nicht nur für die Bildauswertung mittels KI, sondern auch für die (unterstützte) Bildauswertung durch Augenärzte. So wurde bereits von verschiedenen Autoren kritisch hinterfragt, ob eher einer Bildauswertung durch Ärzte oder durch KI-Systeme vertraut werden sollte.

Auch Dateninterpretation und Befund durch Arzt nicht immer fehlerfrei

Das derzeit gängige Verständnis geht davon aus, dass Augenärzte ihre Daten und Befunde selbst erheben und diese eigenständig interpretieren. Allerdings ist kritisch zu hinterfragen, ob dies heute tatsächlich für alle diagnostischen Verfahren gilt. So hat beispielsweise der Übergang von der manuellen zur automatisierten Perimetrie dazu geführt, dass Ärzte oftmals den Bezug zu ihren Patienten und damit auch ihr Gefühl für deren individuelle Fähigkeiten und Tagesform verloren haben. Stattdessen vertrauen sie häufig vollständig auf die statische Ergebnisdarstellung der automatisierten Beurteilung, ohne mögliche Einflussfaktoren oder die Relevanz nicht gemessener Areale zu berücksichtigen. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass zwar die Messung und Ergebnisdarstellung automatisiert durch das Gerät erfolgt, die Reaktion auf diese Ergebnisse wiederum nach wie vor abhängig von dem behandelnden Arzt ist. So gibt es etwa das Beispiel der Progression einer Hydroxychloroquin-Retinopathie mit fortschreitendem Gesichtsfeldausfall, die trotz klar nachweisbarer Befunde kein Absetzen der Therapie zur Folge hatte und schließlich mit einer Schädigung des Patienten einherging. Darüber hinaus gilt es, bei der Beurteilung von Messergebnissen immer auch zu bedenken, ob tatsächlich alle Parameter dargestellt werden oder nur eine vereinfachte Auswahl gezeigt wird. So erlaubt etwa ein multifokales Elektroretinogramm zwar eine detaillierte Messung der retinalen Funktion am hinteren Pol. Allerdings ist die Auswertung sehr komplex, sodass die Ergebnisse meist vereinfacht dargestellt werden. Dadurch werden sie vordergründig zwar leichter verständlich und interpretierbar, de facto hat diese Ergebnisdarstellung allerdings teilweise auch den Verlust aussagekräftiger Parameter – und damit möglicherweise Fehlinterpretationen – zur Folge. Zudem ist auch in diesem Zusammenhang die Reaktion auf das dargestellte Messergebnis wiederum menschenabhängig und erfordert, dass Artefakte zuverlässig erkannt und die erzielten Ergebnisse korrekt eingeordnet werden. Gerade auch in diesem Zusammenhang kann die Anwendung einer KI sehr hilfreich sein und die Ergebnisqualität der Diagnostik verbessern.

KI kann Ophthalmologen unterstützen, nicht ersetzen

So hat auch hinsichtlich der Diagnose von diabetischer Retinopathie eine Studie ergeben, dass eine Auswertung der Bilddaten durch Ärzte in Kombination mit KI-Systemen effektiver ist als nur die Auswertung durch Ärzte oder ein KI-System allein. Anstatt lediglich die Ergebnisqualität von KI-Systemen mit der von Spezialisten zu vergleichen, wurde in dieser Studie untersucht, wie ein Deep-Learning-Algorithmus in einer realen klinischen Umgebung zur Unterstützung der Bilddatenbeurteilung durch den Arzt eingesetzt wird und so möglicherweise zu einer Verbesserung der Ergebnisqualität beitragen kann. Dazu bewerteten zehn Augenärzte mit unterschiedlicher Erfahrung, darunter allgemeine Augenärzte und Retinaspezialisten, und unterschiedlichem Ausbildungsstand 1796 Fundusaufnahmen von Patienten mit diabetischer Retinopathie (DR) unterschiedlicher Schweregrade. Die Beurteilung der Aufnahmen erfolgte a) ausschließlich durch den Arzt und ohne KI-Assistenz sowie b) mittels KI-assistierter Bewertung durch den Arzt. Es zeigte sich, dass die KI-assistierte Beurteilung durch die Ärzte eine signifikant bessere Ergebnisqualität lieferte als nur die Beurteilung durch den Arzt allein. Zudem gaben die Ärzte an, ihr Vertrauen in die Diagnose sei bei der KI-assistierten Vorgehensweise verbessert. Darüber hinaus stehen auch bereits Retina-Screeninggeräte zur Verfügung, die basierend auf selbstlernenden Algorithmen, wie z. B. dem von der FDA zugelassenen Programm IDxDR, zur Diagnose einer DR eingesetzt werden können. Vorgesehen sind sie u. a. auch für allgemeinmedizinische Praxen, da der Patient keine Mydriasis benötigt und das Praxispersonal die Anwendung schnell lernen kann. Auch dies stellt allerdings keinen Grund zur Beunruhigung für Augenärzte dar, sie könnten „überflüssig“ werden. Im Gegenteil: Diese Möglichkeit kann vielmehr als willkommene Unterstützung angesehen werden, denn schon heute werden viele Netzhautkomplikationen als Folge von z. B. Diabetes mellitus oftmals zu spät erkannt: Selbst nach etwa zweijähriger Erkrankungsdauer erfolgt nur bei jedem zweiten Diabetespatienten eine Augenuntersuchung – mit der Folge, dass Netzhautkomplikationen häufig unerkannt bleiben, die Patienten nicht angemessen oder zu spät behandelt werden und sich ihr Augenlicht verschlechtert. Hier kann eine KI-basierte Diagnostik dazu beitragen, noch mehr Patienten mit Diabetes einen Zugang zu frühzeitiger Erkennung zu verschaffen, was wiederum die Grundlage für eine leitliniengerechte Behandlung der DR bei einem Augenarzt ist – beides entscheidende Voraussetzungen, um den Patienten ihr Sehvermögen bestmöglich zu erhalten. Erschwerend kommt in diesem Zusammenhang hinzu, dass aufgrund der demografischen Entwicklung sowie auch der Lebensweise mit einer weiteren Zunahme der Patienten mit altersbedingter Makuladegeneration (AMD), DR oder auch Glaukom zu rechnen ist. So ist basierend auf systematischen Literaturrecherchen zu erwarten, dass die Zahl der Menschen mit einer diabetischen Augenerkrankung in Europa von heute 6,4 Millionen auf 8,6 Millionen im Jahr 2050 ansteigen wird und etwa 30 % dieser Patienten, d. h. fast 300.000 Menschen, eine engmaschige und regelmäßige Überwachung benötigen.

KI bietet Chance zu Verbesserung der Gesundheitsversorgung

Gerade im Hinblick auf die Versorgungssituation bieten KI-Systeme ein großes Verbesserungspotenzial. Schließlich gilt es, nicht nur die Situation in Deutschland im Blick zu haben, wo die Wartezeiten für einen Termin bei einem Spezialisten noch vergleichsweise kurz sind. Dennoch muss in Deutschland etwa ein Viertel der Patienten einen Monat oder länger auf einen Termin bei einem Spezialisten warten, wie eine Auswertung der OECD zeigt. Allerdings ist diese Zahl selbst in anderen Industrieländern häufig mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass in anderen Ländern oftmals weniger Augenärzte und auch weniger Optometristen als in Deutschland zur Verfügung stehen. Hier können KI-basierte Systeme erheblich dazu beitragen, das Screening zu verbessern und eine adäquate ärztliche Versorgung zu ermöglichen, wie eine Studie zur Versorgung von Kataraktpatienten in China zeigt. Verglichen wurde die Leistungsfähigkeit einer „traditionellen Gesundheitsversorgung” mit der eines KI-basierten Systems zum Screening und der postoperativen Versorgung von Kataraktpatienten. Es zeigte sich, dass die Leistungsfähigkeit durch die Einbindung KI-basierter Systeme um den Faktor 10 gesteigert werden konnte: Während bei „traditioneller Vorgehensweise” ein Augenarzt etwa 4000 Menschen versorgen konnte, waren es unter Zuhilfenahme der KI-Systeme etwa 40.000 Menschen in einem Jahr. Dabei hängt die Art und Weise, wie KI-basierte Systeme in den klinischen Alltag integriert werden können, auch von dem jeweils bestehenden Gesundheitssystem ab.

KI kann Diagnostik erleichtern

Insbesondere auch in ländlichen Gebieten, in denen Augenärzte fehlen oder für die oftmals älteren Patienten nur sehr schwer zu erreichen sind, kann ein gut geplantes und validiertes KI-System erheblich zu einer besseren Versorgung beitragen. Dies zeigt ein weiteres Beispiel aus China. In dieser Studie wurde ein automatisiertes, auf über 28.000 OCT-Aufnahmen von 2254 Patienten basierendes KI-System entwickelt, um pathologische Netzhautveränderungen zuverlässig zu identifizieren und automatisch Überweisungen dringender Fälle an Spezialisten zu veranlassen. Zur automatisierten Bildauswertung mittels Feature Pyramid Network wurden Anomalien und die Dicke der Netzhaut im OCT herangezogen, um 15 Kategorien von Netzhautpathologien zu detektieren. Anschließend wurden die in den OCT-Bildern erkannten Pathologien mithilfe eines „Random-Forest-Tools” mit den Daten zur Netzhautdicke kombiniert, um automatisiert zu entscheiden, ob eine Überweisung dringend ist, es sich um einen Routinefall handelt oder zunächst lediglich eine weitere Kontrolle erforderlich ist. Das System erzielte eine sehr hohe Spezifität und Sensitivität bei der Erkennung retinaler Pathologien sowie eine Genauigkeit von 98 % hinsichtlich dringender Überweisungen. Insgesamt hat die Implementierung dieses KI-basierten Systems dazu geführt, dass Patienten mit dringendem Bedarf sehr zuverlässig und gleichzeitig selektiv an einen Netzhautspezialisten überwiesen werden konnten. Dabei ist ein wesentlicher Vorteil dieses auf dem Random-Forest-Tool (d. h. auf mehreren parallelen Entscheidungsbäumen) basierenden Entscheidungssystems, dass der behandelnde Arzt die KI-Entscheidungen nachvollziehen kann, da das Entscheidungsverhalten von Random Forests im Vergleich zu neuronalen Netzwerken verhältnismäßig leicht untersucht werden kann und zudem die individuellen OCT-Aufnahmen vom Arzt selbst angeschaut und beurteilt werden können.

Deep-Learning – KI zur Visusprognose beim IVOM-Therapie

Zusätzlich zu einer Unterstützung bei Screening und Diagnostik wäre es wünschenswert, wenn anhand von KI-Systemen auch prognostische Aussagen möglich wären, um z. B. den Behandlungsbedarf vorab abzuschätzen. So ist beispielsweise bei der intravitrealen Medikamenteneingabe (IVOM) zur Behandlung von AMD der individuelle Behandlungsbedarf sehr unterschiedlich. Zudem stellt eine (zu) hohe Injektionszahl neben einer Belastung des Gesundheitssystems auch eine erhebliche Belastung für die Patienten dar. In einem Kooperationsprojekt u. a. unter Beteiligung des bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München untersucht, ob sich mittels Deep-Learning-Algorithmen individuell vorhersagen lässt, welche Sehschärfe ein Patient mit feuchter AMD unter intravitrealer Therapie voraussichtlich erreichen kann. „Deep Learning” bedeutet „mehrschichtiges Lernen” oder „tiefgehendes Lernen” und bezeichnet eine Methode des maschinellen Lernens, die auf künstlichen neuronalen Netzen und großen Datenmengen basiert und bei der der Algorithmus sich selbstständig und ohne menschliches Zutun verbessern kann. Erreicht wird dies, indem die künstlichen neuronalen Netze aus vorhandenen Daten und Informationen selbstständig Muster extrahieren und klassifizieren. Diese Erkenntnisse werden wiederum mit Daten korreliert und in einem weiteren Kontext verknüpft, sodass der Algorithmus schließlich Entscheidungen und Vorhersagen auf Basis dieser Verknüpfungen treffen kann. Da die getroffenen Entscheidungen kontinuierlich hinterfragt und überprüft werden, erhalten die Informationsverknüpfungen – wie im Gehirn auch – bestimmte Gewichtungen. Bestätigen sich Entscheidungen, erhöht sich deren Gewichtung, werden sie revidiert, verringert sich die Gewichtung. So entstehen zwischen der Eingabe- und Ausgabeschicht immer mehr Zwischenschichten und Verknüpfungen. Da diese häufig sehr komplex sind, lassen sich die Entscheidungen von Deep-Learning-Algorithmen häufig nur sehr schwer nachvollziehen. Ein wesentlicher Vorteil eines Deep-Learning-Algorithmus im Vergleich zu klassischen Machine-Learning-Algorithmen besteht darin, dass Deep-Learning-Algorithmen auch große, unstrukturierte Datenmengen erfolgreich verarbeiten können und daher häufig z. B. zur Bildauswertung oder auch Spracherkennung eingesetzt werden.

Anforderungen an den Algorithmus und die Datenbasis

Ziel dieses Projektes war es, eine individuelle Visusprognose für Patienten mit neo-vaskulärer AMD zu ermöglichen. Dies könnte möglicherweise die Planung einer personalisierten Behandlung erleichtern und auch zur Verbesserung der Adhärenz beitragen, weil der Patient durch eine individuelle Visusprognose möglicherweise noch besser motiviert werden kann, seine Injektionstermine tatsächlich zuverlässig wahrzunehmen. Geplant war es, mithilfe des Algorithmus zu jedem Zeitpunkt der Therapie eine individuelle Visusvorhersage in der Zukunft ableiten zu können, wobei als Vorhersagezeitpunkte drei sowie zwölf Monate nach Therapiebeginn (Ende der Uploadphase) geplant wurden. Wesentliche Grundlage eines jeden Algorithmus ist ein umfangreicher Datensatz, anhand dessen der Algorithmus trainiert werden kann. Die LMU arbeitet bereits voll digital und verfügt daher über eine umfangreiche SQL-Datenbank, das sogenannte Data-Warehouse. Dieses umfasst Daten von fast 400.000 Patienten und insgesamt 67.000 IVOM. Für die Entwicklung des Algorithmus wurden zunächst alle Patienten selektiert, die wegen neovaskulärer AMD (nAMD) regelmäßig Injektionen erhalten hatten. Zu diesen wurden die gesamten vorliegenden klinischen Daten vom Visus über Alter und den Wohnort usw. für die weitere Verarbeitung exportiert.

Training des Algorithmus

An erster Stelle der Algorithmusentwicklung steht zunächst die Erstellung eines Trainingsdatensatzes, bestehend aus den klinischen Daten aus dem Data-Warehouse und den OCT-Bilddaten, anhand derer der Algorithmus bestimmte Charakteristika extrahiert, um eine Visusprognose daraus abzuleiten. Dabei werden zum Training 90 % des Datensatzes eingesetzt. Anhand der 10 % zurückgehaltener Daten wird anschließend überprüft, wie gut die Vorhersagen des Algorithmus mit den tatsächlichen Ergebnissen übereinstimmen. Für den Trainingsdatensatz wurden aus dem Data-Warehouse fast 17.000 Besuche von Patienten mit nAMD exportiert; insgesamt wurden Daten von fast 3200 Augen berücksichtigt. Dabei flossen 1077 klinische Charakteristika in die Algorithmusentwicklung ein. Es wurden somit nicht nur naheliegende Parameter wie zum Beispiel Visus, Alter und Geschlecht erfasst, sondern es wurden alle im Data-Warehouse verfügbaren Daten berücksichtigt – vom intraokularen Druck über Vordiagnosen und Vorbehandlungen sowie medikamentöse Versorgung bis hin zu bereits durchgeführten chirurgischen Eingriffen. Auch wenn bestimmte Charakteristika letzten Endes zwar keine hohe Gewichtung erhielten, so flossen sie dennoch in das Training ein. Dabei wurde das Training des Algorithmus auch genutzt, um den klinischen Datensatz erneut zu überprüfen und um möglicherweise noch irrtümlich enthaltene „falsche” Daten (wie z. B. von Patienten, die Steroidinjektionen erhalten hatten) zu bereinigen. Zusätzlich wurden die entsprechenden OCT-Bilddaten zum Training des Algorithmus genutzt. Dazu wurde zunächst ein Exporttool programmiert, um die Bilder im standardisierten DICOM-Format automatisch zu extrahieren. Um die für das Training des Algorithmus benötigte Rechenleistung zu optimieren, wurden die Bilder mithilfe eines Autoencoders komprimiert und für das weitere Training nutzbar gemacht. Dazu werden die OCT-Bilddaten zunächst auf eine möglichst geringe Datenmenge reduziert (Encoder) und anschließend wieder decodiert. Da dabei Input und Output verglichen werden, lernt der Autoencoder, welche Charakteristika des OCT-Bildes relevant sind, um es möglichst gut rekonstruieren zu können. Zudem wird so die erforderliche Rechenleistung zur Analyse der Bilddaten erheblich reduziert, und der Algorithmus kann auch auf einem Standard-PC angewendet werden. Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt des Autoencoders zur automatisierten Nutzbarmachung der Bilddaten ist, dass die rekonstruierten Bilder teilweise an Qualität gewonnen haben und relevante Netzhautschichten deutlicher erkennbar sind.

Mittlere Visusprognose innerhalb des Messgenauigkeit möglich

Nach dem Training des Algorithmus anhand von 90 % des Datensatzes wurde dessen Validierung anhand der eingangs zurückgehaltenen 10 % des Datensatzes durchgeführt. Es zeigt sich, dass sich die Visusvorhersagegenauigkeit nach zwölf Monaten in Abhängigkeit von der Anzahl der verabreichten Injektionen zwischen 0,12 und 0,16 logMAR einpendelt. Zudem wurden verschiedene Konfigurationen des Autoencoders sowie auch auf Convolutional Neural Networks basierende Algorithmen trainiert und überprüft. Es zeigt sich in allen Fällen, dass der mittlere Fehler der Visusvorhersage für zwölf Monate unabhängig von der Anzahl bisher gegebener Injektionen bei 0,14 logMAR liegt und eine geringe Standardabweichung von 0,03 aufweist. Damit entspricht der mittlere Fehler der Vorhersage einer Messungenauigkeit der Sehschärfe, wie sie auch durch verschiedene Untersucher und eine unterschiedliche Tagesform bedingt sein kann. Die geringe Standardabweichung des mittleren Fehlers spricht zudem für eine gute Reproduzierbarkeit der Daten.

Individuelle Visusprognose nicht möglich

Ohne weitere Validierung ließe dies den Schluss zu, der entwickelte Algorithmus sei geeignet, um die Sehschärfe im Rahmen der Messungenauigkeit individuell vorherzusagen. Allerdings lieferte ein zweiter Validierungsschritt leider ein gegenteiliges Ergebnis: Anhand von Box-Plot-Analysen ergab sich, dass der Algorithmus zwar bei Patienten, die kaum Visusänderungen aufweisen, recht gute Vorhersagen treffen kann. Bei Patienten hingegen, die eine deutliche Visusänderung aufweisen, lieferte der Algorithmus keine ausreichend gute Prognose: Es zeigt sich, dass unabhängig von der tatsächlichen Visusveränderung im Mittel einer Veränderung von 0,12 bis 0,16 logMAR vorhergesagt wird. Vorhersagen für Patienten, die sich nicht an die mittlere Entwicklung des Trainingskollektivs halten, werden nicht korrekt angegeben. Insgesamt ist der Algorithmus daher in dieser Form leider nicht zur individuellen Visusprognose geeignet.

Was haben wir aus diesem Projekt für die Zukunft gelernt?

Wie das Ergebnis unseres Projektes zeigt, ist eine sorgfältige und kritische Validierung von Algorithmen von allerhöchster Wichtigkeit. Insgesamt scheinen Deep-Learning-Algorithmen derzeit schon gut geeignet zu sein, um bei der Diagnose von Erkrankungen zu unterstützen. Hinsichtlich einer Prognose scheinen sie allerdings bislang noch an ihre Grenzen zu stoßen. Ein Grund könnte sein, dass die Algorithmen (zu) gut auf die Trainingsdatensätze ausgerichtet sind und daher möglicherweise Entwicklungen in Randbereichen noch nicht gut vorhersagen können. Eine weitere Schwierigkeit bestand bei diesem Projekt darin, dass der Algorithmus nicht mit der Information versorgt werden konnte, wie viele Injektionen ein Patient im Vorhersagezeitraum über ein Jahr erhalten wird, da das Therapieansprechen und die Adhärenz – und damit die Anzahl der Injektionen – eine unbekannte Größe waren. Generell ist es bei der Entwicklung eines Algorithmus wichtig, den für das Training zugrunde liegenden Datensatz sehr sorgfältig auf Validität bzw. Ungenauigkeiten zu überprüfen, ansonsten wird der Algorithmus zwar gut trainiert – allerdings auf die falschen Charakteristika. Zudem wären einheitliche Dokumentationsstandards wünschenswert, um möglichst auch Datensätze unterschiedlichen Ursprunges poolen und als Trainingsgrundlage nutzen zu können. Auch hinsichtlich der KI sollten einheitliche Vorgaben und Standards entwickelt und befolgt werden, um die Leistungsfähigkeit verschiedener Algorithmen besser miteinander vergleichen zu können. Und letztlich wäre die Etablierung großer Datenbanken wie sie z. B. bereits in Großbritannien oder in den USA vorliegen auch für Deutschland wünschenswert, um für KI-Projekte auf eine umfassende Datenbasis zugreifen zu können.

Zukunftsaussichten – aus Sicht der Politik und Wirtschaft

Sowohl Wirtschaft als auch Politik setzen im Bereich der Medizin zukünftig auf den Ausbau der Digitalisierung, um bei Mangel an medizinischem Fachpersonal und gleichzeitig steigender Zahl der Patienten eine adäquate Versorgung zu ermöglichen – auch in ländlichen Gebieten. Die Politik hat bereits begonnen, eine Reihe an Digitalisierungsgesetzen zu verabschieden, selbst wenn deren Umsetzung im Detail noch nicht geklärt ist. Zudem soll ein nationales Gesundheitsportal implementiert werden, in dem Basis- und qualitätsbezogene Daten der vertragsärztlichen Versorgung zusammengeführt werden, um diese auswerten und nutzen zu können. Dieses Vorhaben wird sich nur mittels KI-Systemen umsetzen lassen. Insgesamt bleibt daher festzuhalten, dass die KI längst in der Medizin allgemein und auch in der Augenheilkunde angekommen ist. Dabei sollten Ärzte nicht vergessen, dass es in ihrer Hand liegt, die Weiterentwicklung der KI in der Augenheilkunde mitzusteuern und zu gestalten. Auch wenn sich die Arbeitsumgebung durch die KI verändern wird, bleibt es dennoch Aufgabe der Ärzte, eine qualifizierte augenärztliche Patientenversorgung sicherzustellen und zukünftig mitzugestalten

Fazit

  • KI ist längst auch in der Augenheilkunde angekommen.
  • KI bietet vielfältige Vorteile für die Ophthalmologie wie z. B. standardisierte, rasche Auswertung umfassender Bilddaten (wesentlicher Vorteil z. B. bei multimodaler Bildgebung).
  • KI ermöglicht eine weltweit bessere Versorgung von Patienten, die ansonsten keinen Zugang zu (spezialisierter) ärztlicher Versorgung haben.
  • KI kann Früherkennung erleichtern.
  • Deep Learning ist eine spezielle Form des Machine Learning, kann auch unstrukturierte, große Datenmengen verarbeiten und wird häufig zur Bildauswertung genutzt.
  • Eine Visusprognose mittels KI scheint derzeit noch nicht möglich zu sein.
  • Genaue Überprüfung des zugrunde liegenden Datensatzes und sorgfältige Validierung der Algorithmen sind wichtig.
  • Auch Politik und Wirtschaft setzen zunehmend auf Digitalisierung.

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