Steigender Anteil älterer Patienten mit schwerer Hämophilie A
Mit der Einführung von Gerinnungsfaktorkonzentraten in den frühen 1970er-Jahren konnten sowohl die Lebensqualität als auch die Lebenserwartung von Hämophilie-Patienten deutlich verbessert werden. Dies zeigt sich auch an den Hämophilie-Patienten im Alter von 60 bis 74 Jahren sowie an den über 75-Jährigen, deren Anzahl sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt hat. In den 1990er-Jahren waren diese Zahlen rückläufig, da mit HIV und HCV kontaminierte Blutprodukte zu vielen Todesfällen bei Hämophilie-Patienten geführt hatten. Seitdem virusinaktivierte plasmatische Faktorkonzentrate und virusfreie rekombinante Faktorkonzentrate zur Verfügung stehen, steigt die Lebenserwartung von Patienten mit schwerer Hämophilie wieder kontinuierlich an und hat in entwickelten Ländern inzwischen annähernd das Niveau von Gerinnungsgesunden erreicht.
Altersverteilung der Personen mit Hämophilie A in Europa
Trotz der gestiegenen Lebenserwartung sind viele Patienten in den europäischen Hämophilie-Zentren Kinder, Jugendliche und jüngere Erwachsene, wie eine Auswertung von epidemiologischen Daten zeigt. Die meisten Patienten mit schwerer Hämophilie A sind aktuell zwischen 20 und 49 Jahre alt, danach nimmt ihre Zahl ab. Dabei fällt der Rückgang in den höheren Altersgruppen im Vergleich zu den Daten der Nicht-Hämophilie-Bevölkerung stärker aus. Nur wenige Personen mit schwerer Hämophilie A sind älter als 80 Jahre.
Gesundheitliche Risiken älterer Hämophilie-Patienten
Zusätzlich zu den üblichen Komorbiditäten, die mit einem fortgeschrittenen Alter einhergehen, treten bei Patienten mit Blutungsstörungen mehrere spezifische Probleme auf. Beispielsweise haben Hämophilie-Patienten eine verringerte Knochenmineraldichte und damit einhergehend ein höheres Osteoporose-Risiko als die Allgemeinbevölkerung. Daher ist die Gefahr von Frakturen nach Stürzen erhöht. Auch von Bluthochdruck und anderen Herz-Kreislauf-Erkrankungen können Hämophilie-Patienten häufiger betroffen sein als die Allgemeinbevölkerung. Bekannte, direkt auf die Hämophilie zurückzuführende Gesundheitsrisiken sind u. a. spontane Blutungen, v. a. Gelenkblutungen. Diese können Entzündungen der Gelenkhaut, Schmerzen und chronische Gelenkschäden bis hin zur Gelenkzerstörung zur Folge haben, was orthopädische Operationen inklusive Gelenkersatzverfahren nach sich ziehen kann. Auch tragen Blutungen in das zentrale Nervensystem nach wie vor erheblich zur Morbidität und Mortalität von Patienten mit schwerer und moderater Hämophilie bei. Im Folgenden werden wir Komorbiditäten wie arterielle Hypertonie, andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, intrakraniale Blutungen, Nierenerkrankungen, orthopädische Probleme und Schmerzen näher beleuchten und für Hämophilie-Patienten geeignete Behandlungsoptionen aufzeigen.
Häufige Komorbiditäten bei älteren Patienten mit Hämophilie
Um die Häufigkeit von Komorbiditäten bei älteren Hämophilie-Patienten zu ermitteln, wurden die Versicherungsdaten von 375 Patienten im Rahmen einer US-amerikanischen Querschnittsanalyse ausgewertet. Mit Abstand waren Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Begleiterkrankung, gefolgt von Diabetes mellitus, Anämie, Schmerzen, Gelenk- oder Muskelerkrankungen, Krebs und chronischen Nierenerkrankungen. Die Prävalenz dieser Komorbiditäten nahm mit dem Alter weiter zu. Unter den Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen hatten zwei Drittel eine Hypertonie und jeder zweite eine Fettstoffwechselstörung. Ischämische Herzkrankheiten und Vorhofflimmern traten bei 44 % bzw. 36 % der Betroffenen auf.
Signifikant höhere Hypertonie-Prävalenz bei Hämophilie-Patienten
Ob es einen Unterschied in der Hypertonie-Prävalenz zwischen Hämophilie-Patienten und der Allgemeinbevölkerung gibt, wurde in einer multizentrischen, prospektiven Querschnittstudie untersucht: Die Blutdruckmessungen von 386 niederländischen und 315 britischen Hämophilie-Patienten wurden analysiert und mit der altersgleichen männlichen Allgemeinbevölkerung verglichen. Die Forscher fanden eine signifikant höhere Gesamtprävalenz der arteriellen Hypertonie bei den Hämophilie-Patienten von 49 % im Vergleich zu 40 % in der Kontrollgruppe. Der Grund für diese erhöhte Prävalenz ist weitgehend unbekannt. Bluthochdruck war mit dem Schweregrad der Hämophilie, dem Alter und mit Übergewicht/Adipositas assoziiert. Aber es gab keinen Zusammenhang mit der Art der Hämophilie, mit der Nierenfunktion, mit einer HIV-Infektion oder mit einer chronischen Hepatitis-C-Infektion und nur einen Trend zu einem Zusammenhang mit einer Vorgeschichte von Nierenblutungen. Blutdruckmessungen sollten bei allen Hämophilie-Patienten ab 30 Jahren zur Standardversorgung gehören.
H3-Studie: Hypertonie etwas häufiger, KHK seltener bei Hämophilie-Patienten
In der H3-Studie wurden Daten zu kardiovaskulären Begleiterkrankungen von 532 Hämophilie-Patienten im Alter von über 40 Jahren aus 16 teilnehmenden europäischen Zentren erhoben und mit Daten der Allgemeinbevölkerung aus der DEGS1-Studie (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) verglichen. In der Altersgruppe der 50- bis 59-jährigen Hämophilie-Patienten trat Bluthochdruck signifikant häufiger auf als in der altersgleichen Kontrollgruppe (52,0 % vs. 41,7 %, p = 0,03). Koronare Herzkrankheiten (KHK) waren bei Hämophilie-Patienten im Alter von ≥ 60 Jahren signifikant seltener (60 bis 69 Jahre: 8,1 % vs. 19,5%, p = 0,02; 70 bis 79 Jahre: 11,8 % vs. 30,5 %, p = 0,002). Die Autoren empfehlen, Hämophilie-Patienten regelmäßig auf einen möglichen arteriellen Bluthochdruck zu untersuchen. Insbesondere vor dem Hintergrund eines erhöhten Risikos intrakranialer Blutungen scheint dies von besonderer Bedeutung zu sein.
Hypertonie-Risiko: intrakraniale Blutung (IKB) bei Hämophilie
Eine Blutung in das zentrale Nervensystem, eine sogenannte intrakraniale Blutung (IKB), ist das wohl schwerwiegendste Ereignis bei Hämophilie-Patienten. Bei Erwachsenen ist eine unbehandelte arterielle Hypertonie der Hauptrisikofaktor für eine IKB. Weitere Risikofaktoren sind ein hoher Schweregrad der Hämophilie und das Fehlen einer Prophylaxe mit Faktorkonzentraten. Bei Patienten mit Hämophilie unter Bedarfstherapie wurden IKB 20- bis 50-mal häufiger beobachtet als in der männlichen Allgemeinbevölkerung. IKB-Episoden treten vermehrt in zwei verschiedenen Altersgruppen der Patienten mit schwerer Hämophilie auf: Bei Kindern im Alter von unter zwei Jahren sowie bei Erwachsenen ab 60 Jahren mit bekannten Risikofaktoren wie Bluthochdruck. Obwohl die Anwendung der Prophylaxe die Ergebnisse verbessert haben, liegt die Sterblichkeit aufgrund von IKB immer noch bei etwa 20 % und ist bei kleinen Kindern sogar noch höher. Etwa 33 % der betroffenen Kinder hatten Langzeitfolgen, darunter geistige Beeinträchtigungen und Verhaltensstörungen, Paresen und Epilepsie. Eine erhöhte Aufmerksamkeit für Risikofaktoren und Frühsymptome kann zusammen mit der am besten geeigneten Prophylaxe das Risiko schwerer intrakranialer Hämorrhagien verringern.
Häufigkeit von kardiovaskulären und thrombotischen Ereignissen
Seit Langem wird spekuliert, Hämophilie könnte aufgrund der lebenslangen Einschränkung der Gerinnungsfunktion vor thrombotischen Ereignissen wie einem Herzinfarkt schützen. Allerdings liefern epidemiologische Studien widersprüchliche Ergebnisse zum kardiovaskulären Risiko. Jetzt hat eine aktuelle Studie in den USA mithilfe KI-gestützter Analysen von Versicherungsdaten das Risiko für die fünf wichtigsten thrombotischen Ereignisse – Herzinfarkt, Lungenembolie, ischämischer Schlaganfall, tiefe Venenthrombose und geräteassoziierte Venenthrombose – bei Hämophilie-A-Patienten im Vergleich zur entsprechenden Allgemeinbevölkerung ermittelt. Das Risiko für eine geräteassoziierte Thrombose war demnach für Hämophilie-A-Patienten am höchsten und signifikant höher als für altersgleiche Personen ohne die Blutgerinnungsstörung. Der Grund dafür liegt im langfristigen Einsatz von zentralen Venenkathetern bei Hämophilie-Patienten. Die Inzidenz von ischämischen Schlaganfällen und tiefen Venenthrombosen war in der Hämophilie-A-Population etwas höher als in der entsprechenden Nicht-Hämophilie-Population. Die Gründe dafür sind unklar. Möglicherweise trägt u. a. eine eingeschränkte Mobilität zum höheren Thromboserisiko bei. Die Inzidenzraten für Herzinfarkt und Lungenembolie waren hingegen in beiden Populationen vergleichbar, was darauf hindeutet, dass Hämophilie-A-Patienten diesbezüglich kein signifikant unterschiedliches Risiko haben. Insgesamt kann nicht von einer schützenden Wirkung der funktionell eingeschränkten Blutgerinnung bei Hämophilie-A-Patienten ausgegangen werden. Möglicherweise wird ein potenzieller Schutz durch die Behandlung mit gerinnungsaktiven Medikamenten aufgehoben. Daher sollten Hämophilie-Patienten auf thrombotische Risikofaktoren überwacht und das Thromboserisiko von Hämophilie-A-Behandlungen berücksichtigt werden.
Bietet Hämophilie einen Schutz vor Atherosklerose?
Einige retrospektive Studien haben bei Patienten mit Hämophilie eine geringere kardiovaskuläre Mortalität festgestellt, als zu erwarten gewesen wäre. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den Ergebnissen einer internationalen Studie, in der männliche Hämophilie-Patienten im Alter von über 40 Jahren im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein ungünstigeres kardiovaskuläres Risikoprofil anhand des QRISK®2-Scores aufwiesen als eine entsprechende Kontrollgruppe. Der QRISK®2-Score schätzt das Risiko einer Person ein, in den nächsten zehn Jahren eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu entwickeln. Darüber hinaus unterschieden sich in Studien weder der Grad der Koronararterienverkalkung noch die Intima- Media-Dicke von der Allgemeinbevölkerung. Eine neuere Untersuchung lieferte zudem laborchemische und funktionelle Hinweise für eine verminderte endotheliale Funktion bei Hämophilie-Patienten, die auf ein mögliches höheres Risiko für KHK hindeuten. Demnach sind Hämophilie-Patienten nicht vor der Entwicklung einer Atherosklerose geschützt.
Geringere kardiovaskuläre Morbidität als erwartet
Erst kürzlich wurden die Ergebnisse einer ersten prospektiven, multizentrischen Langzeitstudie veröffentlicht, die die Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen (CVD) in einer großen Kohorte erwachsener Patienten mit Hämophilie aus den Niederlanden und Großbritannien untersucht hat. Die Forscher dokumentierten über einen Zeitraum von fünf Jahren bei Hämophilie-Patienten eine signifikant geringere Inzidenzrate von Herz-Kreislauf-Erkrankungen als der QRISK®2-2011-Score vorhergesagt hat, und zwar 1,5 % vs. 4,1 %. Das verringerte Risiko wurde bei allen Schweregraden der Hämophilie beobachtet. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass Standardrisikoscores das kardiovaskuläre Risiko bei Hämophilie-Patienten überbewerten. Allerdings könnten die Folgen eines ischämischen Ereignisses bei Patienten mit Hämophilie größer sein als in der Allgemeinbevölkerung, da eine Antikoagulationstherapie nicht immer möglich ist. Wie in der Allgemeinbevölkerung wird auch für Patienten mit Hämophilie eine Überprüfung der Risikofaktoren und des Risikoprofils für Herz-Kreislauf-Erkrankungen empfohlen.
CVD-Management bei Hämophilie A:
Erhöhtes Blutungsrisiko bei antithrombotischen Therapien
Antithrombotische Behandlungen, vor allem mit Thrombozytenaggregationshemmern (TAH), spielen eine zentrale Rolle bei der Sekundärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (CVD). Um mögliche Folgen dieser Therapien bei Hämophilie-Patienten abschätzen zu können, wurde in Frankreich die prospektive Fall-Kontroll-Studie COCHE durchgeführt. Die COCHE-Gruppe umfasste 68 Hämophilie-Patienten, die aufgrund eines akuten Koronarsyndroms, einer KHK oder eines nicht valvulären Vorhofflimmerns gemäß den Empfehlungen für das CVD-Management in der Allgemeinbevölkerung behandelt wurden. Als Kontrolle dienten 68 Patienten in entsprechendem Alter und mit gleichen Hämophilie-Schweregraden, aber ohne antithrombotische Therapie. Blutungsereignisse traten bei Hämophilie-Patienten, die eine TAH-Therapie erhielten, signifikant häufiger auf als in der Kontrollgruppe – und zwar unabhängig vom Schweregrad der Hämophilie und dem verwendeten Antithrombotikum. Mehrheitlich handelte es sich bei den schwerwiegenden Blutungen um Hämarthrosen (52 %), gefolgt von Hämatomen (30 %), gastrointestinalen (10 %) und sonstigen Blutungen (8 %). Wie eine andere französische Studie zeigen konnte, war der einzige Risikofaktor für schwere Blutungen unter antithrombotischer Therapie eine Vorgeschichte mit nicht schweren Blutungen innerhalb des letzten Jahres, insbesondere wenn diese mehr als einmal pro Monat auftraten. Dabei spielte der Schweregrad der Hämophilie ebenfalls keine Rolle. Das heißt, dass auch Patienten mit leichter Hämophilie ein erhöhtes Risiko für schwere Blutungen unter antithrombotischer Therapie haben. Daher sollten sie diesbezüglich überwacht werden.
Empfehlungen zur antithrombotischen Therapie
Angesichts des erhöhten Blutungsrisikos stellt das Management kardiovaskulärer Erkrankungen mit TAH und Antikoagulanzien bei Hämophilie-Patienten eine große Herausforderung dar. Es ist unklar, inwieweit die evidenzbasierten Leitlinien für das CVD-Management in der Allgemeinbevölkerung auch für Hämophilie-Patienten gelten können. Angesichts der wenigen veröffentlichten Daten zur TAH-Therapie bei Patienten mit Hämophilie empfiehlt die WFH (World Federation of Hemophilia) eine sorgfältige Bewertung des individuellen Blutungs- und Thromboserisikos. Bei einer dualen TAH-Therapie sollte der FVIII-Zielspiegel auf mindestens 15 bis 30 % gehalten werden und bei einer TAH-Monotherapie auf 3 bis 5 %. Die Behandlungsstrategie sollte je nach Thromboserisiko und Blutungsphänotyp individualisiert werden. Eine enge Abstimmung zwischen Hämophilie-Spezialisten und Kardiologen ist erforderlich.
Therapien bei Vorhofflimmern
Vorhofflimmern ist eine häufige Komorbidität bei älteren Hämophilie-Patienten. Die Risikostratifizierung für die Erwägung einer Antikoagulation beruht vorzugsweise auf dem CHA2DS2VASC-Score. Bei Hämophilie-Patienten überschätzt der Score wahrscheinlich das Schlaganfallrisiko, wobei ein Wert von mindestens 3 von einem Expertengremium als hohes Risiko angesehen wird. Da jedoch Faktoren wie weibliches Geschlecht, periphere arterielle Verschlusskrankheit und ein Alter von über 75 Jahren bei Hämophilie-Patienten eher selten vorkommen, kann ab einem Schwellenwert von ≥2 eine Antikoagulation in Betracht gezogen werden. Da das Blutungsrisiko von Hämophilie-Patienten mit einem Talspiegel unter 20 % bei einer Antikoagulanzientherapie erhöht ist, wurde der CHA2DS2VASC-Schwellenwert auf 4 angehoben. In solchen Fällen, in denen ein angemessener Talspiegel zur Unterstützung der Antikoagulation nicht erreicht werden kann, kann eine Katheterablation oder niedrig dosiertes Aspirin infrage kommen.
Nierenerkrankungen bei Hämophilie
Nierenerkrankungen treten bei Hämophilie-Patienten häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit, an Nierenversagen zu sterben, für Hämophilie-Patienten etwa 50-mal höher. Die zunehmende Häufigkeit von Nierenerkrankungen bei älteren Hämophilie-Patienten ist vermutlich auf eine Reihe von Risikofaktoren zurückzuführen, u. a. auf höheres Alter, Hypertonie, Nierenblutungen und Hämaturie in der Vorgeschichte, HIV-Infektion mit antiretroviraler Therapie sowie die Einnahme von Antifibrinolytika (z. B. Tranexamsäure). Die WFH empfiehlt für Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion eine reduzierte Dosierung von Antifibrinolytika und eine engmaschige Überwachung. Generell sollte die Nierenfunktion bei älteren Hämophilie-Patienten regelmäßig überwacht werden.
Bedeutung der Hämaturie bei Hämophilie A
Hämaturie ist eine bekannte Begleiterscheinung der Hämophilie A. Während in einer europäischen epidemiologischen Studie kein Zusammenhang zwischen Hämaturie und Nierenfunktionsstörungen bei Hämophilie-Patienten festgestellt wurde, kommt eine neuere Untersuchung für die makroskopische Hämaturie zu einem anderen Ergebnis. Demnach sind mehrere Episoden makroskopischer Hämaturie mit einer Verschlechterung der Nierenfunktion und dem Fortschreiten einer chronischen Nierenerkrankung assoziiert. Es wird vermutet, dass aus Erythrozyten freigesetztes Hämoglobin, Häm oder Eisen für eine strukturelle Nierenschädigung verantwortlich sind. Die regelmäßige Faktorsubstitution kann das Auftreten von makroskopischer Hämaturie verringern und so die Nierenfunktion verbessern sowie künftige Nierenschäden begrenzen. Für Patienten mit Hämaturie und leichter Hämophilie oder rezidivierender Hämaturie bei Patienten jeglichen Schweregrades wird eine Überweisung zum Urologen empfohlen; sie sollte auch für ältere Patienten in Betracht gezogen werden, um eine zugrunde liegende Malignität auszuschließen.
Osteoporose bei Hämophilie A
Schon länger ist bekannt, dass viele Hämophilie-Patienten eine verringerte Knochenmineraldichte (BMD, bone mineral density) aufweisen. Eine US-amerikanische Querschnittstudie hat bei männlichen Hämophilie-Patienten im Alter von ≥50 Jahren eine Prävalenz von 38 % ermittelt. Zum Vergleich: In der männlichen Allgemeinbevölkerung wird eine Prävalenz bei Männern ab 50 Jahren von 4,3 % angenommen, wie eine aktuelle Auswertung der NHANES-Studie zeigt. Eine größere Anzahl arthropathischer Gelenke, fehlende Gelenkbewegung und zu Muskelschwund führende Inaktivität sind mit einer verringerten BMD assoziiert. Außerdem scheint ein Zusammenhang mit dem FVIII-Mangel zu bestehen. Denn neuere Untersuchungen haben ergeben, dass bei Hämophilie-Patienten die Marker des Knochenstoffwechsels und die zirkulierenden Zytokinspiegel abnormal verändert sind. Ein kurz zuvor infundiertes Faktorprodukt kehrte viele dieser Unterschiede um, was darauf hindeutet, dass die FVIII-Substitution zur Verbesserung dieser Pathologie beitragen könnte.
Frakturen bei Hämophilie-Patienten
Frakturen sind die wichtigsten Auswirkungen einer verringerten BMD und können zu chronischen Schmerzen und Behinderungen beitragen. Die retrospektive Analyse von 382 Hämophilie-Patienten, die zwischen 2003 und 2012 an einem amerikanischen Hämophilie-Zentrum in Behandlung waren, ergab eine signifikant erhöhte Frakturrate (p < 0,0001) im Vergleich zu einer geschlechts- und altersangepassten Kontrollgruppe. Nach den aktuellen Leitlinien erfordert die Behandlung einer Fraktur eine sofortige Faktorsubstitution. Idealerweise sollten die Patienten eine kontinuierliche Prophylaxe erhalten. Faktorkonzentrationen von mindestens 50 IE/dl sollten für mindestens eine Woche lang aufrechterhalten werden. Anschließend sind niedrigere Konzentrationen ausreichend, die für zehn bis 14 Tage beibehalten werden, bis sich die Fraktur stabilisiert hat.
Förderung der Knochengesundheit
Zu den Maßnahmen zur Förderung der Knochengesundheit gehören die Vorbeugung von Hämarthrosen, die Verbesserung der BMD durch regelmäßige Bewegung, eine angemessene Vitamin-D- und Calciumzufuhr sowie der Verzicht auf Tabak und übermäßigen Alkoholkonsum. Unabhängig vom Schweregrad der Hämophilie sollten Hämophilie-Patienten ab 50 Jahren und jüngere Menschen unter 50 Jahren mit einer Fragilitätsfraktur oder einem erhöhten Frakturrisiko mittels Dual-Röntgen-Absorptiometrie (DXA) auf eine verringerte BMD untersucht werden. Sobald die Osteoporose auf der Grundlage der DXA diagnostiziert ist, sollte das Frakturrisiko die Behandlung bestimmen. Derzeit erfolgt die Behandlung ähnlich wie bei Menschen ohne Hämophilie und umfasst in der Regel Bisphosphonate.
Schmerzen – ein lebenslanges Problem für Hämophilie-Patienten
Für die meisten Hämophilie-Patienten sind Schmerzen ein lebenslanges Problem. Schon in jungen Jahren leiden die Patienten häufig unter akuten und chronischen Schmerzen, insbesondere aufgrund von Gelenkblutungen oder Gelenkverschleiß, aber auch aufgrund von therapeutischen Interventionen. Eine 2013 in Deutschland durchgeführte Patientenbefragung zeigte, wie sehr Schmerzen die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen. Von den 685 befragten Patienten litten 86 % zumindest gelegentlich unter Hämophilie-bedingten Schmerzen. Gelenkschmerzen waren die häufigste Schmerzart (92 %), bemerkenswerterweise sogar schon bei 80 % der jungen Patienten (bis 17 Jahre). Die Hälfte der Patienten erhielt eine medikamentöse analgetische Therapie und 46 % der Patienten eine Physiotherapie. Zufrieden mit der Schmerztherapie waren 56 % der Teilnehmer; 18 % fühlten sich jedoch nicht ausreichend behandelt.
Medikamentöse Schmerztherapie bei Erwachsenen mit Hämophilie
Die Schmerzbehandlung bei Patienten mit Hämophilie ist in vielen Fällen immer noch unzureichend. Italienische Hämophilie-Spezialisten waren sich darin einig, dass der Schmerz bei jedem Besuch beim Hämatologen mithilfe eines validierten, quantitativen Instrumentes abgefragt werden sollte. Dabei sollen akute und chronische Schmerzen sowie nozizeptive und neuropathische Schmerzen unterschieden und im Rahmen eines individualisierten Ansatzes behandelt werden. Die von einer interdisziplinären Expertengruppe in Österreich erarbeiteten Empfehlungen zur Schmerztherapie bei Hämophilie beinhalten grundsätzlich die gleichen Kriterien und Empfehlungen wie für andere Schmerzpatienten, jedoch mit einigen Ausnahmen und Besonderheiten.
Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR)
Schmerzmittel, die Acetylsalicylsäure enthalten, sind für Hämophilie-Patienten ungeeignet. Selbst geringe Dosen (30 bis 50 mg) blockieren die Cyclooxygenase(COX)-1 und unterdrücken so die Blutgerinnung. Das gilt auch für alle Kombinationen, die ASS enthalten. Zu vermeiden sind ebenfalls die NSAR Naproxen, Ibuprofen, Diclofenac und Mefenaminsäure. Zusammen mit einem Protonenpumpeninhibitor (PPI) können NSAR für kurze Zeit als pharmakologische Erstbehandlung bei Schmerzen aufgrund einer akuten Hämarthrose und/oder eines Muskelhämatoms eingesetzt werden, wenn Paracetamol kontraindiziert oder unwirksam ist.
Selektive COX-2-Hemmer (Coxibe)
Coxibe wie Celecoxib und Etoricoxib sind für erwachsene Patienten besser geeignet, da sie neben ihrer entzündungshemmenden Wirkung ein geringeres Risiko für gastrointestinale Nebenwirkungen aufweisen. Allerdings führt die COX-2- Hemmung bei Patienten mit kardiovaskulären Komorbiditäten zu einem stark erhöhten Risiko für wiederkehrende kardiovaskuläre Ereignisse. Schwere kardiovaskuläre Grunderkrankungen und Herzinsuffizienz sind daher als Kontraindikationen für COX-2-Hemmer zu betrachten. Wegen einer möglichen Potenzierung des Risikos unerwünschter Wirkungen sollten verschiedene COX-Hemmer nicht miteinander kombiniert werden.
Paracetamol
Die pharmakologische Behandlung der ersten Wahl bei Schmerzen aufgrund einer akuten Hämarthrose und/oder eines Muskelhämatoms bei erwachsenen Patienten ist orales Paracetamol in einer wirksamen analgetischen Dosis von 1000 mg alle acht Stunden. Dies sollte mit einem Opioid kombiniert werden, wenn die Schmerzen stark sind oder innerhalb von vier Stunden keine ausreichende Linderung erzielt werden kann. Da Paracetamol eine gewisse COX-2-Hemmung zeigt, erhöht eine längere Gabe das kardiovaskuläre Risiko. Bei Leberinsuffizienz ist Paracetamol kontraindiziert. Patienten mit Begleiterkrankungen (z. B. Hepatitis C und HIV-Infektion, die mit einer antiretroviralen Therapie behandelt werden) sollten wegen der möglichen Lebertoxizität geringe Paracetamol-Dosen erhalten.
Metamizol
Metamizol stellt eine Alternative zu den NSAR dar. Es wirkt fiebersenkend und hat im Vergleich zu Paracetamol eine relativ hohe analgetische Potenz. Metamizol verfügt über ein geringes Interaktions- und Nebenwirkungspotenzial. Bei längerer Verabreichung sind jedoch regelmäßige Blutbildkontrollen angezeigt. Bei bekannter Thrombozytenfunktionsstörung wird die Anwendung von Metamizol nicht empfohlen. Da bei der Hämophilie aber vor allem der Faktormangel im Vordergrund steht, kann Metamizol zumindest kurzfristig eingesetzt werden. Durch die Kombination von zwei Nichtopioiden mit unterschiedlicher Wirkungsweise, z. B. Coxib plus Metamizol, kann die analgetische Wirkung erhöht werden.
Opioide
Wenn die Nichtopioide nicht die gewünschte analgetische Wirkung erzielen oder wenn die Schmerzintensität hoch ist, sollte die Therapie so bald wie möglich mit Opioiden ergänzt werden. Dies ist auch wichtig, um eine Chronifizierung möglichst zu verhindern. Der Einsatz von Opioiden ist immer in Kombination mit Nichto-pioiden als Basismedikation indiziert. Dabei müssen unbedingt hepatische und renale Komorbiditäten berücksichtigt werden.
Weitere Komorbiditäten bei Hämophilie
Es ist bekannt, dass die Prävalenz von Diabetes mellitus unter Hämophilie-Patienten höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Generell sollten die gleichen Strategien zur Kontrolle des Diabetes angewandt werden wie bei Menschen ohne Gerinnungsstörungen. Wenn eine Behandlung mit Insulin angezeigt ist, können subkutane Injektionen verabreicht werden, ohne dass es zu Blutungen kommt und ohne dass ein Faktorersatz erforderlich ist. Außerdem weisen Patienten mit Hämophilie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung tendenziell ungünstigere Kniefunktionswerte und häufiger postoperative Komplikationen nach endoprothetischen Knieoperationen auf. Dies ist hauptsächlich auf komplizierende Faktoren und die Beteiligung mehrerer Gelenke zurückzuführen. Zudem tragen sie ein höheres Risiko, an einer Sekundärinfektion zu erkranken.
Generelle Leitlinienempfehlungen bei Hämophilie und Komorbiditäten
Mit zunehmendem Alter benötigen Patienten mit Hämophilie Aufklärung und präventive Strategien, um die Risiken und Auswirkungen altersbedingter Morbiditäten zu verringern. Auch Patienten mit leichter Hämophilie sollten auf mögliche Begleiterkrankungen aufmerksam gemacht werden. Das Hämophilie-Team sollte eng in die Planung und das Management von altersbedingten Aspekten und Komplikationen einbezogen werden. Eine enge Absprache mit anderen an der Versorgung beteiligten, wie Hausärzte, Kardiologen, Nephrologen und Schmerzmedizinern, ist erforderlich und erleichtert die Abstimmung der Behandlungspläne.
Fazit
Immer mehr Patienten mit schwerer Hämophilie A erreichen ein höheres Lebensalter. Daher nimmt die Bedeutung von Begleiterkrankungen weiter zu. Zu den häufigen Komorbiditäten bei älteren Hämophilie-Patienten gehören kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD), Diabetes mellitus, chronisches Schmerzsyndrom, chronische Gelenk- oder Muskelerkrankungen sowie chronische Nierenerkrankungen. Eine arterielle Hypertonie ist für Hämophilie-Patienten ein wesentlicher Risikofaktor für eine intrakranielle Blutung und muss daher adäquat behandelt werden. Die Inzidenz von ischämischen Schlaganfällen und tiefen Venenthrombosen ist bei Hämophilie-A-Patienten ebenfalls erhöht. Insgesamt kann nicht von einer schützenden Wirkung des hypokoagulablen Zustandes bei Hämophilie A ausgegangen werden. Das CVD-Management stellt angesichts des erhöhten Blutungsrisikos eine Herausforderung dar, die eine enge Abstimmung zwischen Hämophilie-Spezialisten und Kardiologen erfordert. Schmerzen sind für viele Hämophilie-Patienten ein lebenslanges Problem, zu dem u. a. Hämarthrosen, aber auch Frakturen aufgrund einer verringerten Knochendichte beitragen. In der medikamentösen Schmerztherapie gilt es, einige Besonderheiten und Kontraindikationen zu beachten. Wichtig ist eine enge Absprache der Behandler und die Abstimmung der Therapiepläne.
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