Hemmkörper bei Hämophilie A und B

Die Bildung von Hemmkörpern gehört zu den gefürchteten Komplikationen der Hämophilie- behandlung. Spezifische neutralisierende IgG-Antikörper richten sich gegen das substituierte Faktorprodukt und hemmen gezielt die prokoagulatorische Wirkung des Gerinnungsfaktors. Die Patienten neigen zu stärkeren und vor allem spontanen Blutungen, die lebensbedrohlich sein können. Insbesondere bei schwerer Hämophilie A kommt es bei etwa 25 bis 40 % der Patienten zur Entstehung von Hemmkörpern, bei der schweren Hämophilie B deutlich seltener. Es ist entscheidend, Hemmkörper frühzeitig zu erkennen, um eine adäquate Behandlung einzuleiten. In vielen Fällen werden diese durch ein routinemäßiges Hemmkörper-Screening nach den ersten Faktorexpositionen festgestellt. In Abhängigkeit von der Höhe der gemessenen Hemmkörperkonzentration, auch Hemmkörpertiter genannt, stehen verschiedene Therapieoptionen zur Verfügung. Das primäre Ziel der Behandlung ist die dauerhafte Beseitigung des Hemmkörpers durch eine Immuntoleranzinduktion.

In dieser Fortbildung werden neben den pathophysiologischen Mechanismen der Hemmkörperbildung ausführlich die Risikofaktoren für deren Entstehung besprochen. Sie erfahren, mit welchen Tests Hemmkörper festgestellt und quantifiziert werden können. Wir stellen Ihnen die verschiedenen Medikamente vor, die aktuell zur Behandlung von Hemmkörpern zur Verfügung stehen, und erläutern die Vorgehensweise bei der Immuntoleranzinduktion. Schließlich gehen wir auf die Bedeutung der Zusammenarbeit aller an der Versorgung des Hämophiliepatienten beteiligten Personen ein.

Univ.-Prof. Dr. med. Hermann Eichler
Eine frühzeitige Erkennung von Hemmkörpern ist wichtig, um Patienten adäquat behandeln zu können und Hemmkörper dauerhaft zu beseitigen.

PD Dr. rer. biol. hum. Sylvia von Mackensen
Hemmkörper gehören zu den gefürchteten Komplikationen der Hämophilie. Ihre Behandlung stellt Patienten, Hausärzte und Hämophilie-Experten vor große Herausforderungen, die es gemeinsam zu meistern gilt.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709122039070019
Zeitraum 17.04.2022 - 16.04.2023
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte Fortbildung abgelaufen
Zielgruppe Ärzte
Referent Univ.-Prof. Dr. med. Hermann Eichler
PD Dr. rer. biol. hum. Sylvia von Mackensen
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Animierter, interaktiver Vortrag (Webcast)
Lernmaterial Vortrag, Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle; Bearbeitungsdauer: 90 Minuten
Fortbildungspartner Swedish Orphan Biovitrum GmbH
Bewertung 4.2 (227)

Im Überblick: Hämophilie A und B

Hämophilie A wird durch einen Mangel an dem Gerinnungsfaktor VIII, Hämophilie B durch einen Faktor-IX-Mangel verursacht. Die Erkrankung wird in beiden Fällen X-chromosomal rezessiv vererbt. Hämophilie A ist deutlich stärker verbreitet als Hämophilie B: Hämophilie A betrifft rund ein bis zwei männliche Geburten aus 10.000, Hämophilie B kommt in ein bis zwei von 50.000 männlichen Personen vor. Über alle Schweregrade schätzt man die Zahl der Hämophilie-A-Patienten in Deutschland auf ca. 7500 und auf ca. 2500 Hämophilie-B-Patienten. Charakteristische Symptome sind Hämarthrosen und Muskelhämatome. Zu den schwerwiegendsten Komplikationen der Hämophilie gehört die Bildung von Hemmkörpern: Unter einer Substitutionstherapie entwickeln etwa 30 % der Patienten mit Hämophilie A Hemmkörper gegen den Gerinnungsfaktor und 1 bis 5 % der Betroffenen mit Hämophilie B.

Was sind Hemmkörper?

Als Hemmkörper oder Inhibitoren werden Alloantikörper bezeichnet, die die gerinnungsfördernde Funktion der exogen zugeführten Faktorkonzentrate neutralisieren und so die Therapie der Hämophilie erschweren. Hemmkörper treten typischerweise innerhalb der ersten 50 Expositionstage von Faktorkonzentrat-naiven Patienten auf. Bei Patienten mit schwerer Hämophilie kommt es sehr viel häufiger zu einer Hemmkörperentwicklung als bei denen mit leichter und mittelschwerer Hämophilie. Zudem sind von der Hemmkörperbildung deutlich mehr Patienten mit Hämophilie A betroffen als Hämophilie-B-Patienten.

Epidemiologie der Hemmkörperentwicklung

Hemmkörper treten am häufigsten bei Menschen mit schwerer Hämophilie A auf. Deren Lebenszeitrisiko (oder kumulative Inzidenz) beträgt etwa 25 bis 40 % im Vergleich zu Menschen mit moderater oder leichter Hämophilie A, die ein Lebenszeitrisiko von etwa 5 bis 15 % haben. Bei Patienten mit Hämophilie B liegt das Risiko einer Hemmkörperentwicklung bei etwa 1 bis 5 % und wird häufiger bei Patienten mit schwerer Hämophilie B beobachtet (9 bis 23 %). Für die geringe Inzidenz von Hemmkörpern bei Hämophilie B im Vergleich zu Hämophilie A wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt. Eine mögliche Erklärung liegt in der geringeren Inzidenz des schweren Phänotyps bei Hämophilie B. Der schwere Phänotyp bei Hämophilie A ist häufig auf Nullmutationen zurückzuführen, die bei Hämophilie B seltener vorkommen. Da Nullmutationen zu Proteinprodukten führen, die komplett funktionslos sind oder erst gar nicht synthetisiert werden, kann der substituierte Faktor vom Immunsystem besonders leicht als fremd erkannt werden, was Patienten zur Hemmkörperbildung prädisponieren kann.

Hemmkörperentstehung am Beispiel von Hämophilie A

Patienten, die zuvor noch nie eine Faktorsubstitution erhalten haben, sogenannte „previously untreated patients”, kurz PUP, sind besonders gefährdet, Hemmkörper auszubilden. Ihr Immunsystem erkennt den substituierten Gerinnungsfaktor als Fremdprotein und bildet dagegen Alloantikörper. Diese neutralisieren den zugeführten Faktor und machen ihn damit wirkungslos. Im Folgenden sollen die Mechanismen der Entstehung von Hemmkörpern am Beispiel der Hämophilie A erläutert werden. Diese verläuft bei Hämophilie B in Grundzügen vermutlich sehr ähnlich. Aufgrund der geringen Fallzahlen ist dazu jedoch weniger bekannt.

Das Faktor-VIII-Molekülg

Das Faktor-VIII-(FVIII-)Molekül ist ein komplexes Glykoprotein, das hauptsächlich in den Sinusoiden der Leber, aber auch in Nieren und in lymphatischem Gewebe synthetisiert wird. Mit einem Molekulargewicht von ca. 267 kDa ist FVIII einer der größten Gerinnungsfaktoren in unserem Körper. Das Gen, das für FVIII kodiert, befindet sich auf dem X-Chromosom und umfasst 186.000 Basenpaare mit 26 proteinkodierenden Abschnitten, sogenannten Exonen. Die Aminosäuresequenz wurde 1984 aus der DNA-Sequenz des FVIII-Gens abgeleitet. Demnach besteht das Genprodukt aus einem Polypeptid mit 2332 Aminosäuren, das sechs Domänen bildet, die mit A1, A2, B, A3, C1 und C2 bezeichnet werden. Im Blut wird das Protein enzymatisch in zwei Ketten aufgeteilt: eine schwere Kette von 200 kDa (A1-A2-B) und eine leichte Kette von 80 kDa (A3-C1-C2). Die Ketten sind durch eine kovalente Bindung miteinander verbunden. Die A2-, A3- und C2-Domänen sind die primären Regionen, mit denen Anti-FVIII-Antikörper reagieren und die Gerinnungskaskade beeinträchtigen. Studien haben gezeigt, dass bei Patienten mit Punktmutationen in den A2- und C2-Domänen das Risiko der Hemmkörperbildung viermal höher ist als bei Patienten mit Mutationen außerhalb dieser Region. Dies deutet darauf hin, dass jegliche Veränderungen in der dreidimensionalen Struktur dieses Teiles des FVIII-Moleküls seine Immunogenität beeinflussen können.

Zelluläre Prozesse der Hemmkörperentstehung

Was passiert nun auf zellulärer Ebene, wenn Immunzellen auf den infundierten Faktor treffen? Vermutlich findet dieses erste Zusammentreffen in der Milz statt. Dort wird der exogene Gerinnungsfaktor von antigenpräsentierenden Zellen endozytiert und zu kleinen Peptiden verarbeitet, die dann auf der Zelloberfläche präsentiert werden. Diese werden von CD4+-T-Zellen erkannt, die T-Zell-Rezeptoren exprimieren, die spezifisch für Faktorpeptide sind. Die aktivierten CD4+-T-Zellen wandern zu den B-Zell-Follikeln in der Milz, wo sie FVIII-spezifische, naive B-Zellen aktivieren können. Aus dem Knochenmark stammende B-Zellen internalisieren FVIII über rezeptorvermittelte Endozytose mit FVIII-spezifischem membranständigen Immunglobulin und interagieren mit aktivierten CD4+-T-Zellen. Aktivierte B-Zellen proliferieren und differenzieren sich schließlich zu FVIII-spezifischen Gedächtnis-B-Zellen oder Anti-FVIII-Antikörper sezernierenden Plasmazellen. Gedächtnis-B-Zellen sezernieren keine Anti-FVIII-Antikörper. Diese Zellen befinden sich in der Milz oder im Knochenmark und differenzieren sich nach anschließender Exposition gegenüber FVIII schnell und terminal zu Plasmazellen. Eine hochintensive FVIII-Behandlung kann dazu führen, dass FVIII effizienter mit anderen Antigenen um die Aufnahme durch die antigenpräsentierenden Zellen konkurriert, was zu einer effizienteren Präsentation von FVIII-abgeleiteten Peptiden auf CD4+T-Zellen führt. Daher wurde die hochintensive FVIII-Behandlung mit einer höheren Hemmkörperentwicklung assoziiert.

Nicht neutralisierende Antikörper (NNA)

Allerdings führt nicht jede Immunreaktion auf den substituierten Gerinnungsfaktor zur Bildung von Hemmkörpern mit faktorneutralisierenden Eigenschaften. Einige Patienten entwickeln auch nicht neutralisierende Antikörper, kurz NNA. Bei diesen handelt es sich gewöhnlich ebenfalls um IgGAntikörper, die sich häufig gegen die schwere Kette und insbesondere die B-Domäne von FVIII richten. Die klinischen Auswirkungen der NNA sind noch weitgehend ungeklärt. Es wurden auch keine Risikofaktoren für die NNA-Bildung identifiziert. Möglicherweise können diese Antikörper jedoch eine Entwicklung von Hemmkörpern voraussagen. Darüber hinaus können NNA auch die Clearance von verabreichtem FVIII aus dem Kreislauf erhöhen, wodurch die Plasmakonzentration von FVIII verringert und die effektive Hämostase zur Kontrolle von Blutungen eingeschränkt werden. Im Gegensatz zu Hemmkörpern, die durch standardisierte Tests, wie den Bethesda- oder Nijmegen-modifizierten Bethesda-Assay, gemessen werden, gibt es keinen standardisierten Assay zum Nachweis von NNA. Im Vergleich zu den NNA sind die neutralisierenden Antikörper inhibierend. Das heißt, sie binden an funktionelle Stellen des substituierten Faktors, neutralisieren seine Wirkung und stören so die Blutgerinnung. Verschiedene Risikofaktoren können zur Entwicklung von Hemmkörpern beitragen, unter anderem die Intensität der Behandlung, die genetische Disposition und Umweltfaktoren.

Risikofaktoren für eine Hemmkörperbildung

Generell ist die Wahrscheinlichkeit einer Hemmkörperbildung für einen individuellen Patienten von verschiedenen Risikofaktoren abhängig. Neben der Schwere der Hämophilieerkrankung spielen nicht modifizierbare, patientenspezifische Faktoren wie Alter bei Erstexposition von FVIII/FIX, Familienhistorie, ethnische Zugehörigkeit sowie der Mutationstyp der Gene für FVIII und FIX eine Rolle. Zu den potenziell modifizierbaren, therapieabhängigen Faktoren zählen Dosierung und Häufigkeit der Substitutionsbehandlung, frühere prophylaktische Behandlungen und möglicherweise die Art der Faktorkonzentrate. Obwohl bekannt ist, dass einige Patienten aufgrund einer Kombination verschiedener genetischer und umweltbedingter Faktoren ein höheres Risiko für die Hemmkörperentwicklung haben, ist letztlich ungeklärt, warum ein Patient Hemmkörper entwickelt, ein anderer mit einem vergleichbaren Risikoprofil jedoch nicht.

Patientenspezifische Risikofaktoren bei schwerer Hämophilie A

FVIII-Hemmkörper können bei Patienten mit schwerer Hämophilie A lebenslang auftreten. Das Risiko ist in der frühen Kindheit am größten und steigt in höherem Lebensalter nochmals an. In einer britischen Kohortenstudie betrug die Inzidenz neuer Hemmkörper ca. fünf Fälle pro 1000 Behandlungsjahre im Alter von zehn bis 49 Jahren und stieg signifikant auf ca. zehn Fälle pro 1000 Behandlungsjahre bei Patienten über 60 Jahre an. Das höchste Hemmkörperrisiko hatten Patienten unter fünf Jahren mit ca. 64 Fällen pro 1000 Behandlungsjahre. Eine der stärksten Korrelationen ist das Vorliegen einer positiven Familienhistorie sowie eine schwarzafrikanische oder hispanische Abstammung. Die Art des molekularen Defektes gilt ebenfalls als ein starker individueller Prädiktor – von Missense-Mutationen einzelner Nukleotide, die ein geringes Risiko der Hemmkörperbildung aufweisen, bis hin zu größeren Gendeletionen und Nonsense-Mutationen mit hohem Risiko. Polymorphismen in anderen Genen der Immunantwort, z. B. in der Promotorregion von Interleukin-10, sind ebenfalls mit dem vermehrten Auftreten von Hemmkörpern assoziiert. Eine HIV-Infektion ist hingegen mit einem signifikant geringeren Risiko für Hemmkörper assoziiert. Von den patientenspezifischen Risikofaktoren hat die Art des zugrunde liegenden FVIII-Gendefektes und die Familienhistorie den stärksten Einfluss auf die Entwicklung von Hemmkörpern.

Behandlungs- und Umweltbedingte Risikofaktoren bei schwerer Hämophilie A

Bei zuvor unbehandelten Hämophiliepatienten ist das Risiko der Hemmkörperentwicklung innerhalb der ersten zehn bis 20 Tage der Exposition gegenüber FVIII am größten. Danach nimmt das Risiko ab und wird bei zuvor behandelten Patienten, die mehr als 150 Tage lang FVIII-Konzentraten exponiert waren, sehr niedrig. Das Risiko verschwindet jedoch nie; es bleibt lebenslang bestehen und zeigt bei älteren Menschen einen leichten Anstieg. Ob unterschiedliche Substitutionsprodukte ein unterschiedliches Risiko zur Bildung von Hemmkörpern haben, wird kontrovers diskutiert. Faktor VIII (FVIII) wird normalerweise durch Bindung an den von-Willebrand-Faktor (vWF) im Kreislauf stabilisiert. Viele Fallkontroll- und Kohortenstudien, jedoch nicht alle, haben ein geringeres Risiko der Hemmkörperbildung bei Patienten festgestellt, die einen aus Plasma gewonnenen Faktor VIII (pdFVIII) erhalten, der ebenfalls vWF enthält, im Vergleich zum Risiko im Zusammenhang mit rekombinantem Faktor VIII (rFVIII). Es hat sich gezeigt, dass eine intensive Exposition, in denen der Faktor mindestens einmal pro Tag an drei aufeinanderfolgenden Tagen infundiert wird, mit einem erhöhten Risiko der Hemmkörperbildung assoziiert ist. Dagegen soll ein frühzeitiger Beginn der Prophylaxe das Risiko von Hemmkörperbildung verringern, obwohl dies nach wie vor umstritten ist. Weitere Risikofaktoren für die Hemmkörperbildung bei Hämophilie A sind hohe Dosierungen an FVIII, z. B. im Rahmen einer intensiven Substitutionstherapie bei einer schweren Blutung, einer Blutung des Zentralnervensystems, einer Operation oder einem Trauma.

Risikofaktoren bei schwerer Hämophilie B

Aufgrund der geringen Prävalenz von Hämophilie B sind die Eigenschaften der FIX-Antikörper sowie die Risikofaktoren nicht so gut untersucht wie bei Hämophilie A. Ein bekannter patientenspezifischer Risikofaktor scheint jedoch auch hier die Art der genetischen Mutation zu sein. Große Deletionen, Nullmutationen und Frameshift-Mutationen im FIX-Gen erhöhen das Risiko für die Hemmkörperentwicklung bei Patienten mit schwerer Hämophilie B. Die vorherige Exposition spielt ebenfalls eine Rolle. Das Risiko ist am höchsten bei frühen Expositionen – im Mittel traten schon nach elf Expositionstagen Hemmkörper auf. Nach 180 Expositionstagen nimmt das Hemmkörperrisiko ab.

Risikofaktoren je nach Behandlungsstatus

Patienten, die noch kein Faktorkonzentrat erhalten haben, werden als zuvor unbehandelte Patienten oder PUP (previously untreated patients) bezeichnet. Patienten, die bereits Faktorkonzentrate erhalten haben, werden als zuvor behandelte Patienten (previously treated patients, PTP) bezeichnet. In Studien werden für verschiedene Populationen unterschiedliche Grenzen festgelegt. Als PTP werden Kinder unter zwölf Jahren ab 50 Expositionstagen (ED) sowie Jugendliche und Erwachsene ab 150 Expositionstagen bezeichnet. PUP haben während der ersten 50 Expositionstage ein erhöhtes Risiko für die Hemmkörperbildung. Insgesamt geht man davon aus, dass bei etwa 30 % aller Patienten mit schwerer Hämophilie A, die mit einer Faktorsubstitutionstherapie behandelt werden, Hemmkörper auftreten, und zwar innerhalb der ersten 50 Expositionstage. Die kumulierte Hemmkörperinzidenz für FVIII-Konzentrate lag je nach Studie zwischen ca. 21 % und 40 %. Demgegenüber ist das Risiko der Entwicklung von Hemmkörpern bei PTP äußerst gering. Wie eine Metaanalyse zeigte, traten nur bei 43 von 4323 (ca. 1 %) PTP Hemmkörper auf. Die gepoolte Inzidenzrate der Hemmkörperentwicklung aus 25 Studien betrug nur ein bis drei pro 1000 Personenjahre (95 %-Konfidenzintervall 1–4). Außerdem wurde kein signifikanter Zusammenhang zwischen mutmaßlichen Risikofaktoren und der Hemmkörperentwicklung bei PTP gefunden.

Therapieabhängige Risikofaktoren: Gibt es Unterschiede bei Faktorpräparaten?

Die RODIN-Studie

Ziel der „Research of Determinants of Inhibitor Development”-(RODIN-)Studie war es, den Zusammenhang zwischen der Behandlungsintensität und der Hemmkörperinzidenz bei zuvor unbehandelten Patienten (PUP) mit schwerer Hämophilie A zu untersuchen. In der bisher größten Studie mit PUP wurden 576 Kinder im Alter von vier bis neun Jahren mit schwerer Hämophilie A während der ersten 75 Expositionstage (ED) beobachtet. Die kumulative Gesamtinzidenz von Hemmkörpern betrug 32 %, die sich im Median nach 14,5 ED entwickelten. Die Studie zeigte, dass eine hoch dosierte intensive FVIII-Behandlung das Hemmkörperrisiko erhöhte und eine prophylaktische FVIII-Behandlung das Hemmkörperrisiko senkte, insbesondere bei Patienten mit F8-Mutationen. Zwischen plasmatischen (pdFVIII) und rekombinanten (rFVIII) Produkten konnten hingegen keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Hemmkörperentwicklung festgestellt werden. Eine Post-hoc-Analyse ermittelte überraschenderweise jedoch ein größeres Risiko für die Entwicklung von Hemmkörpern bei FVIII-Konzentraten der zweiten Generation im Vergleich zu solchen der dritten Generation. Diese Beobachtung wurde durch Studien in Frankreich und Großbritannien bestätigt.

Die SIPPET-Studie

In der prospektiven, randomisierten SIPPET-Studie (Survey of Inhibitors in Plasma-Product Exposed Toddlers) wurde die Hemmkörperentwicklung bei 251 bislang unbehandelten Kindern unter sechs Jahren mit schwerer Hämophilie in Abhängigkeit vom Faktorpräparat untersucht. Bei Jungen, die plasmatischen FVIII erhielten, entwickelten 26,8 % Hemmkörper im Vergleich zu 44,5 % im Arm mit rekombinantem FVIII. In Cox-Regressionsmodellen war die Rate der Hemmkörperentwicklung bei rekombinantem FVIII um 87 % höher als bei aus Plasma gewonnenem FVIII (Hazard Ratio (HR), 1,87; 95 %-KI: 1,17–2,96). Für hochtitrige Inhibitoren lag die HR bei 1,69 (95 %-KI: 0,96–2,98). Laut der European Medicines Agency (EMA) und des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) reichen die Ergebnisse dieser Studie jedoch nicht aus, um statistisch und/oder klinisch sinnvolle Unterschiede im Hemmkörperrisiko zwischen rFVIII- und pdFVIII-Produkten zu bestätigen.

Risiko für die Entwicklung von Hemmkörpern bei PTP

Das Risiko für die Entwicklung von Hemmkörpern ist bei PTP nur gering. Die gepoolte Inzidenzrate der Inhibitorentwicklung betrug in einer Metaanalyse nur zwei pro 1000 Personenjahre (95%-Konfidenzintervall 1–4). Sowohl Patienten- als auch Ärztebefragungen deuten darauf hin, dass die Abneigung gegen einen Produktwechsel und die Angst vor der Entwicklung von Hemmkörpern nicht evidenzbasiert zu sein scheinen. Denn wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass beim Produktwechsel kein erhöhtes Hemmkörperrisiko besteht. In Ländern, in denen von plasmatischen Konzentraten auf rekombinante Produkte gewechselt wurde, z. B. in Kanada, Großbritannien und Irland, war keine erhöhte Hemmkörperinzidenz feststellbar. Auch gab es keine Anzeichen für ein selteneres Auftreten von Hemmkörpern bei „Nichtwechslern” als bei „Wechslern”.

Messung von Hemmkörpern

Nachweis und Quantifizierung der Hemmkörper erfolgen im Bethesda-Test. Eine Bethesda-Einheit (BE) ist definiert als die Menge des Hemmkörpers, die 50 % des FVIII respektive FIX in der Testplasmaprobe neutralisiert. Wie von der International Society on Thrombosis and Haemostasis (ISTH) empfohlen, beträgt der Grenzwert für das Vorhandensein von Hemmkörpern mindestens 0,6 BE/ml, die bei zwei verschiedenen Gelegenheiten – in der Regel innerhalb von vier Wochen – gemessen wurden. Mit dem Bethesda-Test können Hemmkörper mit niedrigem Titer von Hemmkörpern mit hohem Titer unterschieden werden. Die Kenntnis des Hemmkörpertiters ist klinisch relevant, da Low Responder, also Patienten mit niedrigem Hemmkörpertiter <5 BE/ml, noch mit einer Faktorsubstitution in erhöhter Dosierung behandelt werden können, während dies bei High Respondern mit einem Titer von ≥5 BE/ml in der Regel nicht mehr möglich ist, da selbst hohe FVIII-Dosen durch die große Menge an Hemmkörpern neutralisiert werden.

Klassifizierung von Hemmkörpern in niedrig- und hochtitirige

Wie zuvor beschrieben, werden Hemmkörpertiter von 0,6 bis <5 BE/ml als niedrigtitrig oder LTI (low titre inhibitors) bezeichnet. Low Responder zeigen eine langsamere und schwächere Immunreaktion als High Responder und weisen in der Regel eine geringere klinische Symptomatik auf. LTI lassen sich meist durch höhere Dosen des defizitären Faktors kompensieren und stellen dadurch die Hämostase sicher. Auch hinsichtlich einer Eradikation der Hemmkörper haben diese Patienten eine gute Prognose. Je nach Studie differieren die Angaben zum Anteil von Hemmkörperpatienten mit niedrigem Titer zwischen 20 und 55 %. Es ist wichtig zu wissen, dass viele LTI transient sein können, d. h. innerhalb von ca. sechs Monaten nach der Erstdokumentation spontan und ohne spezielles Management verschwinden. Andererseits kann aus einem niedrigen Hemmkörpertiter auch ein hoher Titer werden. Daher sollten Hemmkörpertiter alle zwei bis vier Wochen mit einem Bethesda-Test überwacht werden. Hochtitrige Hemmkörper, kurz HTI (high titre inhibitors), liegen definitionsgemäß ab ≥5 BE/ml vor. Bei den High Respondern reagiert das Immunsystem stark und rasch auf die Faktorsubstitution, wobei der Hemmkörperlevel häufig auf noch viel höhere Werte ansteigt. HTI sind in der Regel persistent und machen den Patienten quasi resistent gegen Faktorkonzentrate. Dies führt zu einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko und stellt das Behandlungsteam vor erhebliche Herausforderungen. Um Blutungen bei diesen Patienten zu behandeln, werden Bypassprodukte wie rekombinantes FVIIa oder aktivierte Prothrombinkomplexkonzentrate eingesetzt. Ein Nichtfaktorprodukt mit dem bispezifischen monoklonalen Antikörper Emicizumab ist für die Behandlung von Patienten mit schwerer Hämophilie A mit und ohne Hemmkörper zugelassen. Emicizumab kann hier zur Prophylaxe verwendet werden, jedoch müssen auftretende Blutungen bei Hemmkörperpatienten weiterhin mit einem Bypassprodukt behandelt werden. Die Faktorsubstitution bleibt lebensbedrohenden Blutungskomplikationen vorbehalten und kann auch nur dann wirksam sein, wenn der Titer ≤10 BE/ml beträgt. Von allen Patienten, die Hemmkörper entwickeln, sind etwa 41 bis 53 % High Responder. Eine Immuntoleranztherapie konnte bei 70 bis 80 % der Patienten mit schwerer Hämophilie A die Hemmkörper zum Verschwinden bringen.

Hemmkörpermechanismen bei Hämophilie A

FVIII-Hemmkörper bei Patienten mit Hämophilie A sind hauptsächlich Immunglobulin-G-(IgG)Antikörper der Unterklassen IgG1 und IgG4. Bei Patienten mit hochtitrigen Hemmkörpern überwiegen IgG4-Antikörper, während IgG1-Antikörper häufiger bei Patienten mit niedrigtitrigen Hemmkörpern vorkommen. Die FVIII-Hemmkörper binden an funktionelle Epitope, die am häufigsten in den A2-, A3- und C2-Domänen des Faktorproteins zu finden sind. Je nachdem, an welche Domäne des FVIII-Proteins sich der Hemmkörper anlagert, werden unterschiedliche Funktionen des Proteins inaktiviert: Findet beispielsweise eine Bindung des Hemmkörpers an die A2- oder A3-Domäne statt, so kann FVIII keinen Komplex mehr mit dem Gerinnungsfaktor IX (FIX) eingehen. Bindet der Hemmkörper an die C2-Domäne, so ist die Bindung von FVIII an den von-Willebrand-Faktor und an Phospholipide nicht mehr möglich. Darüber hinaus führt die Bindung der Immunglobuline zur Aktivierung von Immunzellen, die zum Abbau des Proteinkomplexes führen. Beides führt dazu, dass die Gerinnungskaskade nicht entsprechend ablaufen kann.

Hemmkörpermechanismen bei Hämophilie B

Da Hemmkörper bei Hämophilie B nur sehr selten vorkommen, sind nur wenige Daten über Risikofaktoren, Pathophysiologie und klinische Aspekte von FIX-Hemmkörper bekannt. Bei den FIX-Antikörpern handelt es sich ebenfalls um polyklonale IgG-Antikörper überwiegend der Subklassen IgG1 und IgG4. Die FIX-Epitope, die von den FIX-Hemmkörpern erkannt werden, umfassen die Gamma-Carboxyglutaminsäure, kurz GLA-Domäne, und die Serinprotease, kurz SP-Domäne. Funktionell hemmen die FIX-Antikörper zum einen die Bindung von FIX an Phospholipide, zum anderen die Phospholipid-unabhängige FIX-Bindung an die leichte Kette von FVIII. Durch die Bindung an Immunglobuline erkennen Makrophagen den Proteinkomplex und sorgen so für eine Proteindegradierung.

Hemmkörpermonitoring

Es ist entscheidend, Hemmkörper frühzeitig zu erkennen, um eine adäquate Behandlung einzuleiten. Bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen wird daher regelmäßig getestet, ob sich Hemmkörper entwickelt haben. Dies hat zum Ziel, mögliche Komplikationen zu vermeiden, wie z. B. wiederkehrende Gelenkblutungen, die in der Langzeitfolge zu Arthrosen führen können. Mindestens die Hälfte der Fälle von Hemmkörpern wird durch ein routinemäßiges Hemmkörper-Screening nach ersten Faktorexpositionen festgestellt. Der übrige Teil der Fälle wird aufgrund eines klinischen Verdachtes erkannt. Klinische Zeichen, die auf das Auftreten eines Hemmkörpers hinweisen können, sind das Ausbleiben des Therapieeffektes der Faktorsubstitution. Blutungen kommen trotz Substitution nicht zum Stillstand, sind unter Prophylaxe nicht rückläufig oder sogar progredient. Durch das erhöhte Blutungsrisiko kann es auch zu lebensbedrohlichen, intrakraniellen Blutungen kommen. Auch ein hoher Faktorverbrauch kann ein Hinweis auf Hemmkörper sein. Für die Patienten kann es bedeuten, statt der zwei bis drei Injektionen pro Woche bis zu vier Injektionen am Tag für eine Blutungsbehandlung oder die Eradikation der Hemmkörper spritzen zu müssen. Bei der Laborüberwachung geben eine verminderte Halbwertszeit, verlängerte aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) und reduzierte Plasmakonzentration von FVIII bzw. FIX Anhaltspunkte für eine Hemmkörperentwicklung. Der zeitliche Verlauf der Faktorkonzentration nach Substitution, die sogenannte Recovery, ist deutlich verringert und die Plasmaspiegel niedriger als erwartet. Besondere Aufmerksamkeit sollte auch zuvor unbehandelten Patienten (PUP) in den ersten 50 Expositionstagen zuteilwerden, insbesondere nach intensiver Faktorexposition oder vor größeren operativen Eingriffen, da das Risiko einer Hemmkörperentwicklung dann besonders groß ist.

Hintergrundwissen: pharmakokinetische Zusammenhänge

Für eine bessere Einordnung der verwendeten Fachbegriffe hier ein kurzer Rückblick auf die pharmakokinetischen Zusammenhänge: Die sogenannte inkrementelle Recovery beschreibt das Verhältnis von verabreichter Faktormenge und dem maximalen Faktorspiegel im Blut. Als Faustregel gilt, dass eine internationale Einheit (IE) FVIII den Plasmaspiegel um 2 % erhöht. Bei FIX erhöht 1 IE den Plasmaspiegel um 1 %. Etwa eine halbe Stunde nach der intravenösen Faktorsubstitution hat sich beispielsweise FVIII gleichmäßig im Blutkreislauf verteilt. Die anschließende Blutprobenentnahme und Messung geben Auskunft darüber, wie stark der Faktorspiegel im Blutplasma nach der Injektion der verabreichten Dosis angestiegen ist bzw. welchen Maximalwert er erreicht hat (Spitzenspiegel). Der niedrigste Faktorspiegel vor der nächsten Injektion hingegen wird als Talspiegel bezeichnet. Spitzenspiegel behandeln Blutungen, Talspiegel vermeiden sie. Es ist darauf zu achten, dass die Talspiegel ein Niveau erreichen, auf dem die Faktoraktivität noch ausreichend ist, um Blutungen zu vermeiden. Die inkrementelle Recovery ist ein individueller Wert und von Patient zu Patient unterschiedlich. Ein weiterer Parameter ist die Area under the Curve (AUC). Sie zeigt das Ausmaß der Verfügbarkeit eines Arzneistoffes nach dessen Aufnahme in den Organismus und ist somit proportional der bioverfügbaren Menge des Arzneimittels.

Gerinnungstest: Nachweis für Hemmkörper

Bei Auftreten von Hemmkörpern zeigt sich z. B. in dem Einstufengerinnungstest eine erhöhte Gerinnungszeit. Dies ist ein Indiz für einen Hemmkörper, der über zwei verschiedene Nachweismethoden dargestellt werden kann: Der klassische Bethesda-Assay wird heute in aller Regel durch die sensitivere Nijmegen-Modifikation ergänzt oder bereits ersetzt. Der Nijmegen-Bethesda-Test ist nicht nur sensitiver (bis 0,4 BE) als der klassische Bethesda-Test (bis 0,6 BE), sondern besitzt auch eine größere Spezifität. Die in dem Test erhaltenen Bethesda-Einheiten geben dann das Maß des Hemmkörpers an. Die Hemmkörper werden wie schon dargestellt in eine hoch- und niedrigtitrige Konzentration unterteilt.

Behandlung von Hämophiliepatienten mit Hemmkörpern

Für die Behandlung von Hämophiliepatienten mit Hemmkörpern stehen verschiedene Behandlungsoptionen in Abhängigkeit von der Höhe der gemessenen Hemmkörpertiter zur Verfügung. Das primäre Ziel der Behandlung ist die dauerhafte Eradikation des Hemmkörpers durch Immuntoleranzinduktion (ITI). Die ITI wird in internationalen und nationalen Leitlinien, in den europäischen Grundsätzen der Hämophiliebehandlung und von Expertengremien für alle Patienten mit schwerer Hämophilie A und hochtitrigen Hemmkörpern (≥5 BE/ml) empfohlen. ITI kann auch bei Patienten in Betracht gezogen werden, bei denen persistierende niedrigtitrige Hemmkörper die Standarddosisprophylaxe oder die Bedarfsbehandlung (on demand) beeinträchtigen. Bei Patienten mit niedrigem Hemmkörpertiter (<5 BE/ml) wird bei akuten Blutungen eine FVIII-Substitutionstherapie empfohlen. Eine sorgfältige Überwachung der klinischen Wirksamkeit ist erforderlich, da eine Dosiserhöhung notwendig sein kann, um eine Hämostase zu erzielen. Patienten, die nicht auf erhöhte Faktordosierungen oder ITI ansprechen, sowie Patienten mit hochtitrigen Hemmkörpern (≥5 BE/ml) sollten mit Bypassprodukten (rFVIIa, aPCC) oder anderen geeigneten Produkten (z. B. porcines rFVIII) behandelt werden. Auch Emicizumab kann zur Prophylaxe bei Hämophilie-A-Inhibitor-Patienten eingesetzt werden, ist aber nicht zur Behandlung von Blutungen geeignet. Daher erfordern Durchbruchsblutungen bei diesen Patienten eine Behandlung mit hoch dosiertem FVIII oder Bypassprodukten.

Medizinisches Management von Hemmkörpern

Die Entwicklung von Hemmkörpern gegen Faktor VIII oder IX macht die Substitutionstherapie mit Gerinnungsfaktoren unwirksam. Bypass-Agenzien sind in der Lage, die Gerinnungskaskade unabhängig von FVIII oder FIX zu aktivieren. Sie werden also durch die Anwesenheit von Hemmkörpern nicht beeinflusst. Aktuell stehen in Deutschland zwei verschiedene Bypassprodukte zur Verfügung: ein aus Plasma gewonnenes aktiviertes Prothrombinkomplexkonzentrat (aPCC) und rekombinanter aktivierter Faktor VII (rFVIIa; Eptacog alfa). rFVIIa und aPCC steuern die Blutgerinnung über unterschiedliche Wege: rFVI-Ia fördert die Hämostase durch Aktivierung der extrinsischen Gerinnungskaskade. rFVIIa führt unabhängig von Tissue Factor zur Bildung von aktiviertem Faktor X (FXa) auf der Oberfläche aktivierter Thrombozyten und gebunden an Tissue Factor zur Bildung von Thrombin. aPCC wirkt auf dem intrinsischen Weg hauptsächlich durch die Bereitstellung der Faktoren IX und X. Dadurch wird die Notwendigkeit von FVIII zur Steuerung der Thrombinbildung umgangen. Der bispezifische monoklonale Antikörper Emicizumab ist in der Lage, die Aktivität von FVIII zu imitieren. Wie Emicizumab seine Wirkung auf molekularer Ebene entfaltet, wird im folgenden Abschnitt genauer dargelegt.

Konzept eines FVIII-mimetischen, bispezifischen Antikörpers

Emicizumab ist ein bispezifischer, humanisierter monoklonaler Antikörper, der mit dem Ziel entwickelt wurde, die Funktion von FVIII nachzuahmen. Daher spricht man auch von einem FVIII-mimetischen Antikörper. Normalerweise bildet der aktivierte Gerinnungsfaktor IX (FIXa) mithilfe von FVIII als Cofaktor, Phospholipiden und Calciumionen den Tenase-Komplex, an dem die Aktivierung des Faktors X stattfindet. Emicizumab übernimmt die Aufgabe von FVIII, indem der Antikörper mit einem Arm an FIXa und mit dem anderen an dessen Substrat Faktor X (FX) bindet. Dadurch werden beide Faktoren in räumliche Nähe zueinander gebracht, sodass die FX-Aktivierung auch ohne Anwesenheit von FVIII stattfinden und die Gerinnungskaskade ablaufen kann. Anwesende Hemmkörper stören den Prozess nicht, da Emicizumab keine strukturelle Beziehung oder Sequenzhomologie zu FVIII aufweist. Bislang lag die Bildung von neutralisierenden Antikörpern in klinischen Studien unter 1 %. Emicizumab ist zur subkutanen Gabe als Routineprophylaxe von Blutungsereignissen bei Patienten mit Hämophilie A mit FVIII-Hemmkörpern sowie bei schwerer Hämophilie A ohne FVIII-Hemmkörper zugelassen. Patienten mit Emicizumab, bei denen Durchbruchblutungen auftreten, benötigen eine Bedarfsbehandlung mit FVIII oder Bypassprodukten. Emicizumab generiert im Gegensatz zu FVIII-Konzentraten ein Äquivalent, das einem konstanten FVIII-Level von ca. 9 bis 15 % entspricht, der bei den meisten Blutungsereignissen nicht ausreichend ist.

Bypassprodukte und Emicizumab: mögliche Herausforderungen

Die Bypassbehandlung und die Therapie mit Emicizumab können mit einigen Herausforderungen verbunden sein. So sind Bypasswirkstoffe aufgrund ihrer kurzen Halbwertszeit und der daraus resultierenden Notwendigkeit häufiger Infusionen (insbesondere bei rFVIIa) oder aufgrund der Notwendigkeit verlängerter Infusionszeiten (bei aPCC) weniger komfortabel in der Anwendung. Emicizumab kann zur Routineprophylaxe bei Hämophilie-A-Patienten eingesetzt werden, ist aber nicht zur Behandlung von Blutungen indiziert. Beide Bypass-Agenzien sind bei der Behandlung und Verhinderung von Blutungen weit weniger wirksam als konventionelle Faktorkonzentrate, wie sie bei Patienten ohne Hemmkörper eingesetzt werden. Auch wurden Thrombosen, insbesondere tiefe Venenthrombosen und Myokardinfarkte, sowohl bei aPCC als auch bei rFVIIa berichtet. In klinischen Studien mit Patienten unter Prophylaxe mit Emicizumab wurden Fälle thrombotischer Mikroangiopathie (TMA) und thromboembolische Ereignisse (TE) beobachtet, nachdem hohe kumulative Dosen aPCC über 24 Stunden oder länger gegeben worden waren. Bisher wurden jedoch keine thromboembolischen Komplikationen bei der gleichzeitigen Anwendung von Emicizumab und FVIII oder rekombinantem aktiviertem FVII zur Blutungsbehandlung oder bei Operationen berichtet. Schließlich gibt es im Gegensatz zur Faktorsubstitution keinen standardisierten und validierten Labortest für die Überwachung und Vorhersage der Reaktion auf Bypasssubstanzen. Abgesehen von indirekten Messungen des gesamten hämostatischen Potenzials muss daher die Beurteilung des Ansprechens auf ein Bypassprodukt auf der Grundlage der klinischen Symptome erfolgen. Da Emicizumab alle auf aPTT basierende Testergebnisse verfälscht, z. B. auch den Einstufentest zur FVIII-Aktivität, müssen chromogen- oder immunbasierte Testverfahren angewendet werden, um die Gerinnungsparameter während der Behandlung zu überwachen. Aufgrund der verminderten Wirksamkeit der Bypassprodukte ist mit einem verzögerten Behandlungserfolg zu rechnen. Bei Kindern mit neu gebildeten Hemmkörpern ist für die vollständige Rückbildung einer Hämarthrose von einer langen Dauer der Bypasstherapie auszugehen.

Eradikation von Hemmkörpern

Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Strategien entwickelt, um eine Eradikation von Hemmkörpern zu erreichen. Dazu gehören die Immunsuppression oder -modulation zur Unterdrückung der Produktion von inhibitorischen Antikörpern, die Immunadsorption oder Plasmapherese zur Entfernung von Hemmkörpern aus dem Plasma sowie die Immuntoleranz-Induktion (ITI). Die Immunsuppression und auch die technisch aufwendige Immunadsorption werden in Einzelfällen im Zusammenhang mit einer ITI angewandt. Die aktuellen Leitlinien geben hierzu jedoch keine Empfehlungen, da kein Konsens besteht und klinische Studien fehlen. Möglicherweise profitieren Patienten nach erfolgloser ITI von einer Immunsuppression mit Rituximab in Kombination mit FVIII. Dabei handelt es sich um eine „Off-Label”-Verwendung, da Rituximab nicht für die Behandlung von Menschen mit Hämophilie zugelassen ist. Die Eradikation von Hemmkörpern lässt sich derzeit am besten durch ITI erreichen. Dazu erhalten die Patienten, die hochtritige Hemmkörper entwickelt haben, FVIII in sehr hohen Dosierungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten bis Jahren. Die ITI ist bei 70 bis 80 % der Patienten mit schwerer Hämophilie A erfolgreich. Das Ansprechen auf die ITI kann bei Patienten mit moderater oder leichter Hämophilie ungünstiger ausfallen. Für Hämophilie B liegen die Erfolgsraten der ITI nur bei etwa 13 bis 31 %.

Immuntoleranzinduktion (ITI)

Die ITI beinhaltet regelmäßige Infusionen von FVIII- oder FIX-Konzentraten mit dem Ziel, eine antigenspezifische Toleranz zu induzieren. Die Vorstellung ist, dass die ständig wiederholte Faktorexposition das Immunsystem so „trainiert”, dass es auf den substituierten Faktor irgendwann nicht mehr reagiert, sondern diesen wieder toleriert. Trotz der zumindest bei den Hämophilie-A-Patienten hohen Erfolgsrate und Sicherheit der ITI sind die lange Behandlungsdauer unter Verwendung eines zentralvenösen Katheters für häufige Infusionen sowie die hohen Kosten die Hauptnachteile dieser Behandlung.

Beispiele für ITI-Behandlungsprotokolle

Verschiedene ITI-Behandlungsprotokolle wurden bislang eingesetzt, darunter sowohl Niedrigdosis- und Hochdosisstrategien als auch solche mit Immunmodulation. In Studien häufig angewandte Schemata sind das Dutch-, das Bonn- und das Malmö-Protokoll. Das Niedrigdosisregime nach dem Dutch-Protokoll beinhaltet tägliche oder zwei- bis dreimal wöchentliche Infusionen von 25 IE FVIII pro kg Körpergewicht. Das bekannteste und am häufigsten verwendete Hochdosisschema ist das Bonn-Protokoll, bei dem 100 bis 150 IE FVIII pro kg und 50 IE aPPC pro kg jeweils zweimal täglich verabreicht werden. Nach dem Malmö-Protokoll erfolgt bei einem Hemmkörpertiter von über 10 BE/ml zunächst eine Immunadsorption, gefolgt von einer Immunsuppression mit Hydrocortison und/oder Cyclophosphamid und anschließender intravenöser Immunglobulingabe sowie einer vier- bis sechsmal täglichen FVIII-Infusion. Welches ITI-Behandlungsprotokoll das optimale darstellt, muss noch untersucht werden. Ein Hochdosisprotokoll hat den Vorteil von weniger Blutungsepisoden und einer kürzeren Zeit bis zur Eradikation als Niedrigdosisprotokolle, ist jedoch mit wesentlich höheren Kosten verbunden. Es gibt Hinweise darauf, dass Patienten mit schlechten prognostischen Faktoren stärker von Hochdosisschemata profitieren.

Das Bonn-Protokoll für hochtitrige Hemmkörper

Gemäß Bonn-Protokoll werden Patienten mit Hämophilie A und hochtitrigen Hemmkörpern zur ITI zweimal täglich mit 100 bis 200 IE FVIII/kg (Kinder) bzw. 100 bis 150 IE FVIII/kg (Erwachsene) behandelt, bis eine normale Recovery und Halbwertszeit erreicht werden und auch über mehrere Monate stabil bleiben. Im Anschluss erfolgt wieder die Umstellung auf eine prophylaktische Therapie. Abhängig vom klinischen Verlauf, z. B. bei erhöhter Blutungsneigung, kann eine begleitende Therapie mit aPCC in einer Dosierung von 50 IE/kg zweimal täglich erfolgen.

Faktoren für eine erfolgreiche ITI

Daten aus Kohortenstudien und ITI-Registern haben verschiedene patienten- und therapieabhängige Variablen identifiziert, die eine erfolgreiche ITI-Behandlung vorhersagen. Es hat sich gezeigt, dass Patienten mit einem historischen Spitzenwert des Hemmkörpertiters von ≤200 BE/ml und einem Hemmkörpertiter von <10 BE/ml vor ITI-Beginn hohe Erfolgsraten bei der Eradikation des Hemmkörpers erzielen können. Auch ein möglichst niedriger Spitzenwert des während der ITI beobachteten Hemmkörpertiters ≤200 BE/ml ging mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einer Eradikation einher. Weitere Prädiktoren für ein besseres Ergebnis waren ein Alter von unter sechs Jahren bei Beginn der ITI sowie ein ITI-Start innerhalb von zwei Jahren nach der Hemmkörperdiagnose. Im deutschen Register stieg die Erfolgswahrscheinlichkeit zudem bei Behandlungs- unter brechungen von unter zwei Wochen Dauer. Auch das FVIII-Produkt (pdFVIII/vWF, rFVIIIFc) kann einen Einfluss auf den Erfolg einer ITI haben.

Klassifizierung der Reaktionen auf ITI-Therapien

Die europäischen Konsensempfehlungen liefern Definitionen für Erfolg, Teilerfolg, Versagen und Rückfall, die bei Therapieentscheidungen nützlich sein können. Demnach wird ein ITI-Therapieerfolg definiert als ein Hemmkörpertiter <0,6 BE/ml für mindestens zwei aufeinanderfolgende monatliche Messungen, begleitet von einer normalen Pharmakokinetik einschließlich einer FVIII-Recovery von mindestens 66 % und einer Halbwertszeit von mindestens sechs Stunden nach einer 72-stündigen Auswaschphase. Sobald ein ITI-Erfolg erzielt wurde, kann die FVIII-Prophylaxe eingeleitet oder wieder aufgenommen werden. Dabei sollte kein Wiederanstieg der Hemmkörperkonzentration nach erneutem Kontakt mit demselben FVIII-Antigen auftreten. Man spricht von einem ITI-Teilerfolg, wenn es gelungen ist, einen hohen Hemmkörpertiter in einen niedrigen von maximal 5 BE/ml zu überführen. Bei einer Bedarfsbehandlung darf der Titer für sechs und bei einer Prophylaxebehandlung für zwölf Monate den Wert von 5 BE/ml nicht überschreiten. Die FVIII-Recovery erreicht keine 66 %, und die FVIII-Halbwertszeit kann unter sechs Stunden betragen. Um ein ITI-Therapieversagen handelt es sich, wenn sich innerhalb von 33 Monaten weder ein Erfolg noch ein Teilerfolg eingestellt haben oder der Hemmkörpertiter frühestens drei Monate nach ITI-Start und über einen Zeitraum von sechs Monaten nicht um mindestens 20 % reduziert werden konnte. Von einem Rezidiv muss man ausgehen, wenn nach zwölf Monaten eines erfolgreichen ITI-Zyklus erneut Hemmkörper auftreten. Insgesamt kann ein Zeitraum von maximal fünf Jahren ITI erforderlich sein, um das Ansprechen auf eine ITI-Behandlung zu beurteilen.

Gesundheitsversorgung von Hämophiliepatienten zwischen Hausarzt und Hämophiliezentrum

Wie Ergebnisse aus Fokusgruppen und Telefoninterviews mit Hausärzten, Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern eines Hämophiliezentrums zeigen, wissen viele Patienten oft nicht, mit welchem Problem sie sich an welchen ärztlichen Fachbereich wenden sollen. Auch findet zwischen einzelnen Behandlern kaum Informationsaustausch statt. In besonderen Situationen wie Operationen oder Notfällen fühlen sich viele Patienten hilflos und alleingelassen. Bei Operationen kam es schon zu Behandlungsfehlern bei Blutungen, die durch bessere Zusammenarbeit verhindert worden wären. Einige Patienten und Angehörige berichten, dass Ärzte sie nicht ernst nehmen oder die Schwere der Krankheit unterschätzen. Angehörige haben oft einen hohen Stellenwert in der Behandlung und gesundheitlichen Versorgung der Betroffenen.

Zusammenarbeit aller Beteiligten

Ein wichtiger Ansprechpartner für den Patienten ist sein Hausarzt, das gilt vor allem für ältere Patienten, die keine weiten Wege mehr zum nächstgelegenen Krankenhaus oder Hämophiliezentrum zurücklegen können. Da Hämophilie zu den seltenen Erkrankungen gehört, sehen Ärzte in ihrem Praxisalltag nicht viele Hämophiliepatienten. Dennoch sind die Betroffenen auf die Unterstützung seitens ihres Arztes angewiesen. Die Hämophiliezentren haben sich auf diese Erkrankung spezialisiert. Sie können Hausärzte zur optimalen und bestmöglichen medizinischen Versorgung ihrer Hämophiliepatienten informieren und beraten. Deshalb ist eine Kooperation zwischen Hausarzt, Patient und Hämophiliezentrum so wichtig und stellt die Grundlage für eine integrierte Versorgung der Patienten dar. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht einen fach- und sektorenübergreifenden Versorgungsprozess, um eine umfassende und optimale Behandlung von Hämophiliepatienten zu gewährleisten.

Verantwortung von Hausarzt und Hämophiliezentrum

Welche Verantwortlichkeiten liegen nun konkret beim Hausarzt und welche eher beim Hämophiliezentrum? Als wichtiger Ansprechpartner bespricht der Hausarzt den Arztbericht des Hämophiliezentrums mit seinem Patienten und ggf. den Angehörigen, kontrolliert Änderungen der Hämophiliemedikation, prüft Termine für kommende Untersuchungen und hält den Kontakt zum behandelnden Zentrum vor elektiven medizinischen Eingriffen, um ggf. Behandlungspläne abzusprechen. Das Hämophiliezentrum seinerseits teilt dem Hausarzt den Maßnahmenkatalog für den Notfall mit, stellt das nötige Informationsmaterial bereit (z. B. Liste geeigneter und ungeeigneter Medikamente) und informiert ihn über die neuesten Erkenntnisse in der Hämophilietherapie und den Einsatz neuer Hämophiliemedikamente.

Empowerment des Patienten

Wünschenswert für alle Seiten ist das „Empowerment” des Patienten. Das bedeutet, den Patienten zu ermutigen, sich über seine Erkrankung ausführlich zu informieren, die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Player zu fördern, Eigeninitiative zu ergreifen, Bedürfnisse oder Probleme aktiv zu äußern und auch die Angehörigen in die Versorgung mit einzubeziehen. Auf diese Weise kann es meinsam gelingen, die Herausforderungen und Probleme, die Hemmkörper bei Hämophiliepatienten mit sich bringen, zu bewältigen.

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