Diagnose und Therapie neurogener Blasenfunktionsstörungen

Als neurogene Blasenfunktionsstörungen (nBFS) werden Dysfunktionen der Harnblase bezeichnet, die durch eine Fehlfunktion oder Verletzung des Nervensystems verursacht werden, beispielsweise durch Rückenmarkverletzungen, Spina bifida, Multiple Sklerose, Schlaganfall oder Morbus Parkinson. Der Leidensdruck der Patienten ist groß, da die Lebensqualität durch Pollakisurie, Harndrang und Harninkontinenz zusätzlich eingeschränkt wird.

Die therapeutischen Maßnahmen orientieren sich an der zugrunde liegenden Pathophysiologie, den damit verbundenen Risikofaktoren, der klinischen Symptomatik und nicht zuletzt an den individuellen Patientenbedürfnissen. Primäres Therapieziel ist der Schutz des oberen Harntraktes und der Nierenfunktion.

Die Erstlinientherapie besteht neben allgemeinen Maßnahmen in der Gabe von Anticholinergika. Allerdings ist die Adhärenz der Pharmakotherapie aufgrund von Nebenwirkungen häufig unzureichend. Somit kommt den Zweitlinientherapien eine starke Bedeutung zu. Hier haben sich die Injektion von Botulinumtoxin A sowie die sakrale Neuromodulation inzwischen fest etabliert. Diese minimalinvasiven Behandlungsalternativen zeichnen sich durch eine gute klinische Wirksamkeit bei guter Verträglichkeit aus.

Univ.-Prof. Dr. med. Arndt van Ophoven
Die Behandlung neurogener Blasenstörungen orientiert sich primär an der individuell vorliegenden Störung.

Kursinfo
VNR-Nummer 2760709124037290011
Zeitraum 28.02.2024 - 27.02.2025
Zertifiziert in D, A
Zertifiziert durch Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland Pfalz
CME-Punkte 2 Punkte (Kategorie D)
Zielgruppe Ärzte
Referent Univ.-Prof. Dr. med. Arndt van Ophoven
Redaktion CME-Verlag
Veranstaltungstyp Fachartikel
Lernmaterial Handout (pdf), Lernerfolgskontrolle
Fortbildungspartner AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG
Bewertung 4.2 (217)

Einleitung

Als neurogene Blasenfunktionsstörung (nBFS) wird eine Störung der Harnspeicherung bzw. der Harnleerung bezeichnet, verursacht durch neurologische Veränderungen im Bereich des Rückenmarkes, in Zentren des Gehirns oder auch in der Peripherie, die eine normale nervale Signalübertragung zur Steuerung der Harnblase behindern, z. B. infolge von Rückenmarkverletzungen, Spina bifida, Multiple Sklerose, Schlaganfall oder Morbus Parkinson. Pollakisurie, Nykturie und Drangsymptomatik sind häufige Symptome einer nBFS. Tiefe Rückenmarkläsionen und Verletzungen peripherer Nervenstrukturen im Becken führen eher zu Blasenentleerungsstörungen mit Restharnbildung. Bei der Therapiewahl sind die im jeweiligen Fall vorherrschende Symptomatik sowie mögliche Nebenwirkungen und Komplikationen zu bedenken und die individuellen Besonderheiten und Bedürfnisse des Patienten zu beachten.

Pathophysiologie

Bei der Harnblase wird zwischen zwei Funktionszuständen unterschieden: einer Füll- und einer Entleerungs- bzw. Miktionsphase. Beide Phasen gehen normalerweise ineinander über und führen zu einer Restharn-freien Blasenentleerung. Die Steuerung der Harnblasenfunktion beruht auf der Übermittlung afferenter Signale von Dehnungs- und Volumenrezeptoren an spinale und höher gelegene Zentren. Je nach Füllungszustand werden dabei verschiedene Regelkreise aktiviert. In der Füllphase kommt es zu einer Kontraktion des quer gestreiften Schließmuskels (somatische Innervation des Sphincter ext.), einer Kontraktion des glattmuskulären Schließmuskels (sympathische Innervation des Sphincter int.) und einer Inhibition der Detrusoraktivität (sympathische Innervation). Die Miktion wird ermöglicht durch eine Erschlaffung des quer gestreiften Schließmuskels (somatische Innervation), Erschlaffung des glattmuskulären Schließmuskels und Öffnung des Harnblasenhalses (sympathische Innervation) und durch eine Detrusorkontraktion (parasympathische Innervation). An der Blasenkontrolle beteiligt sind verschiedene Neurotransmitter und Neuropeptide wie das Acetylcholin (parasympathisches Nervensystem), das Noradrenalin (sympathisches Nervensystem) und weitere Mediatoren wie Adenosintriphosphat (ATP), Stickoxid und 5-HT (Serotonin).

Klassifikation neurogener Blasenfunktionsstörungen

Der oben dargestellte Ablauf kann auf mehreren Ebenen gestört bzw. unterbunden und geschädigt werden. Entsprechend lassen sich durch die verschiedenen Kombinationen von Hyperaktivität und Hypoaktivität von Detrusor und Sphinkter unterschiedliche Störmuster ableiten. Die wichtigsten vier neurogenen Blasenfunktionsstörungen sind in Abbildung 1 dargestellt:
  • Detrusorhyperaktivität
  • Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
  • Hypokontraktiler Detrusor
  • Hypoaktiver Sphinkter

Lokalisation neurologischer Läsionen und ihre Folgen

Läsionen im Bereich des ZNS können über mehrere Mechanismen zu Blasenfunktionsstörungen führen. So kann der Informationsfluss zum Gehirn (afferente Störung) und/oder die Art und Weise, wie das Gehirn die Informationen verarbeitet, gestört sein ebenso die Fähigkeit, angemessene Signale zum Organ zurückzusenden (Störung der Efferenz). Suprapontine Läsionen führen vorrangig zu einer gestörten Harnspeicherung, die sich urodynamisch als hyperaktiver Detrusor bei vorwiegend normaler Sphinkterfunktion manifestiert, und lassen sich häufig nach zerebrovaskulärem Trauma, bei Vorliegen einer Parkinsonerkrankung oder nach Schlaganfall beobachten. Auch Läsionen innerhalb des Ponses, in der das suprasakrale Koordinationszentrum der Blasenentleerung lokalisiert ist, können zu Harnblasenstörungen führen. Aufgrund der komplexen Funktionen des pontinen Miktionszentrums resultiert v. a. eine Dyskoordination, die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie bei Läsionen an dieser Stelle. Spinale Läsionen z. B. infolge einer (kompletten) Querschnittslähmung oder bei Multipler Sklerose können zu einer gestörten Harnspeicherung wie auch zu Miktionsstörungen führen (hyperaktiver Detrusor und/oder Sphinkter). Alle nervalen Schädigungen unterhalb des sakralen Miktionszentrums (S2 bis S4), z. B. als Folge einer Operation im kleinen Becken oder bei einer Polyneuropathie, führen zu einer peripheren, also schlaffen Lähmung (hypoaktiver Detrusor oder Sphinkter) [1].

Klinische Symptomatik und Epidemiologie

Die klinische Symptomatik kann bei den unterschiedlichen zugrunde liegenden Störungen unterschiedlich ausgeprägt sein:

Detrusorhyperaktivität

Die neurogene Detrusorhyperaktivität (Neurogenic Detrusor Overactivity, NDO) ist definiert als Hyperaktivität des Detrusors aufgrund einer relevanten neurologischen Grunderkrankung. Hierzu gehören beispielsweise Rückenmarkverletzungen, eine Multiple Sklerose, ein Schlaganfall oder eine Parkinsonkrankheit. Häufig auftretende Symptome sind:
  • eine Pollakisurie, also mindestens acht Miktionen pro Tag,
  • eine Nykturie, also das nächtliche Erwachen, um Wasser zu lassen,
  • eine Drangsymptomatik, also ein plötzlicher imperativer Harndrang, der sich nur schwer unterdrücken lässt,
  • eine Harninkontinenz.

Rückenmarkschädigung und NDO

Eine Rückenmarkverletzung (RMV) kann großen Einfluss auf die Speicher- und Ausscheidungsfunktion der Blase haben. Sie kann zu einer Unter- oder Überaktivität der Blasenwand und der Sphinktere führen und dadurch zu einer Inkontinenz bis zum vollständigen Verlust der Fähigkeit zu Blasenentleerung. Die Form der Blasenfunktionsstörung wird von der Höhe der RMV bestimmt. Je höher die RMV, desto ausgeprägter die resultierende Detrusorüberaktivität. Bei Conus-Cauda-Läsionen resultiert typischerweise eine hyposensitive und unteraktive Blase mit Restharnbildung. Der Anteil der Patienten, die eine NDO entwickeln, ist abhängig von der Lokalisation und Schwere der Schädigung. Mehr als 98 % der Patienten mit vollständiger Paraplegie und mehr als 99 % mit Tetraplegie weisen eine dauerhafte Dysfunktion der unteren Harnwege auf.

Multiple Sklerose und NDO

Die Multiple Sklerose (MS) wird meist im Alter von 20 bis 40 Jahren diagnostiziert [9]. Bis zu 80 % der MS-Patienten berichten über mindestens ein Symptom der Harninkontinenz wie beispielsweise die Pollakisurie. Häufig wird auch eine Drang- und Harninkontinenz beklagt. 62 bis 81 % der MS-Patienten mit Symptomen leiden an einer Detrusorhyperaktivität, wobei etwa 5 bis 10 % bereits zu Beginn der MS-Erkrankung Blasensymptome aufweisen. Die Blasensymptome von MS-Patienten werden häufig nicht angemessen behandelt. So wird nur etwa jeder zweite Patient mit mäßigen bis schweren Symptomen des unteren Harntraktes mit Anticholinergika behandelt [10]. Jene, die medikamentös behandelt werden, brechen die Therapie frühzeitig ab. Ein amerikanisches Forscherteam um Anna D'Souza fand in einer retrospektiven Datenbankanalyse heraus, dass nur 13,2 % der Patienten ihre initiale Therapie mit Oxybutynin oder Tolterodin über den Zeitraum von mindestens ein Jahr fortgesetzt hatten. Die mittlere Einnahmedauer bis zum Absetzen betrug 31 Tage.

Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie

Typisch für die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) sind ein häufig unterbrochener Harnstrahl und Startschwierigkeiten bei der Miktion sowie Pollakisurie mit Restharnbildung. 20 bis 25 % der MS-Patienten können unter einer DSD leiden. Dabei kontrahiert die Blase unwillkürlich (Detrusorüberaktivität, DÜ) und versucht, häufiger Urin auszuscheiden als normal. Gleichzeitig erschlafft der Sphinkter nicht ausreichend, wodurch die Urinausscheidung eingeschränkt ist. Etwaiger Restharn (RH) fördert wiederum die DÜ. Die DSD ist für den Patienten oft sehr unangenehm, da der Harndrang trotz Miktion persistiert. Der resultierende RH kann zudem Harnwegsinfekten Vorschub leisten. Die DÜ im Rahmen einer DSD geht oftmals mit hohen intravesikalen Drücken einher und stellt eine Gefahr für den oberen Harntrakt dar, da es zu einer Nierenschädigung kommen kann.

Weitere Dysfunktionen der unteren Harnwege

Bei einem hypokontraktilen Detrusor stehen ein schwacher Harnstrahl, ein Restharngefühl und rezidivierende Harnwegsinfektionen im Vordergrund. Häufige zugrunde liegende Erkrankungen sind die Polyneuropathie, tiefer Bandscheibenprolaps und Nervenläsion nach Operationen (vor allem nach Rektumresektion und Hysterektomie bei 10 bis 60 %). Bei einem hypoaktiven Sphinkter kommt es zum Verlust der reflektorischen Kontraktion des Sphinkters bei Anstieg des abdominellen Druckes und Belastungsinkontinenz, z. B. unter Husten, Niesen oder Lachen.

Diagnostisches Vorgehen

Die Diagnostik der einzelnen Formen der neurogenen Blasenstörung unterscheidet sich kaum. Sie basiert auf einer
  • umfassenden Anamnese sowie einer
  • körperlichen Untersuchung, die das Abdomen und das Becken umfasst und zu der auch eine rektale Untersuchung gehört sowie eine
  • fokussierte neurologische Untersuchung.
Miktionstagebücher sind hilfreich, um Miktionsfrequenz und funktionelles Blasenvolumen zu erfassen. Eine Harnanalyse dient der Abklärung des Vorliegens von Harnwegsinfekten. Mittels Ultraschalluntersuchung des Harntraktes lassen sich Komplikationen wie Blasensteine ausschließen sowie RH-Messungen durchführen. Zur vollständigen diagnostischen Abklärung und Aufschlüsselung der exakten neuro-urologischen Situation gehören eine Harnstrahlmessung (Uroflow), eine Urethrozystoskopie, eine (Video-)Uro-dynamik mit Beckenboden-EMG, eine Nierensonografie sowie die Bestimmung von Kreatinin, Harnstoff und eventuell eine 24-Stunden-Kreatinin-Clearance und ein Furosemid-Isotopen-Nephrogramm. Wichtig ist insbesondere der Ausschluss nicht neurogener Ursachen wie zum Beispiel Blasentumoren oder eine gutartige Prostatavergrößerung (BPH).

Rationale der Behandlung neurogener Blasenfunktionsstörungen

Störungen der Blasenfunktion können schwere Auswirkungen auf viele Aspekte des täglichen Lebens von Patienten haben:
  • Psychologisch: Menschen mit nBFS können durch ihre Harninkontinenz und den Uringeruch Schuldgefühle, Depression und geringes Selbstwertgefühl entwickeln.
  • Sozial: Patienten mit überaktiver Blase schränken möglicherweise ihre sozialen Aktivitäten ein, weil sie Angst vor Inkontinenz, Pollakisurie und Toilettensuche entwickeln (soziale Isolation).
  • Häuslich/Finanziell: Patienten mit nBFS benutzen nachts Einwegunterlagen auf dem Bett oder spezielle Inkontinenzunterwäsche. Diese Artikel werden evtl. nicht von der Krankenversicherung übernommen (Eigenkosten).
  • Beruflich: Eine überaktive Blase kann zu einer geringeren Produktivität und erhöhten Fehlzeiten am Arbeitsplatz führen.
  • Sexuell: Vor allem bei Frauen führen die Symptome der überaktiven Blase zu Angst vor Inkontinenz mit Einschränkungen im Bereich der Vita sexualis und der sexuellen Intimität.
  • Körperlich: Einige körperliche Aktivitäten wie Sport können aufgrund der häufigen Notwendigkeit zum Wasserlassen oder der Angst vor dem unwillkürlichen Harnabgang eingeschränkt sein.

Behandlungsziele

Die Therapie neurogener Blasenstörungen verfolgt mehrere Ziele:
  • Sie dient dem Schutz des oberen Harntraktes und der Nierenfunktion.
  • Sie soll die Kontinenzsituation bessern,
  • die Lebensqualität steigern
  • sowie die Funktion des unteren Harntraktes möglichst wiederherstellen.
Bei der Therapiewahl sind mögliche Nebenwirkungen und Komplikationen zu bedenken und die individuellen Besonderheiten und Bedürfnisse des Patienten sowie die Kosteneffektivität zu beachten.

Therapieoptionen im Überblick

Die Behandlung orientiert sich primär an der individuell vorliegenden Störung [1]:
  • Eine Detrusorhyperaktivität kann durch ein Blasentraining, durch die pharmakologische Therapie mit einem Anticholinergikum, die chronische Sakralwurzelstimulation, die intravesikale Botulinumtoxin-Injektion sowie durch die Blasenaugmentation oft erfolgreich behandelt werden.
  • Bei der Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie kommen therapeutisch ein Einmalkatheterismus, eine antimuskarinerge Therapie, die intravesikale Botulinumtoxin-Injektion, die sakrale Vorderwurzelstimulation, die Sphinkterotomie sowie die Blasenaugmentation in Betracht.
  • Bei einem hypokontraktilen Detrusor sollte ein Therapieversuch mit einer vorübergehenden suprapubischen Harndauerableitung, eine Therapie mit einem Cholinergikum, mit einem Alphablocker, eine chronische Sakralwurzelstimulation sowie ein sauberer Einmalkatheterismus unternommen werden.
  • Bei einem hypoaktiven Sphinkter kommen Beckenbodentraining, Biofeedbacktraining, die Therapie mit Duloxetin, ein artifizielles Sphinktersystem sowie eine transurethrale Unterspritzung des Sphinkters mit sogenannten „Bulking agents“ infrage.

Behandlungsmanagement

Die Therapie beruht im Wesentlichen auf drei Säulen und muss sich den individuellen Gegebenheiten des Patienten anpassen. Primär sollte versucht werden, durch Verhaltensänderungen, also durch eine Veränderung des Lebensstils und insbesondere des Trinkverhaltens, Einfluss auf die Störung zu nehmen. Die Patienten können Vorlagen und Urinflaschen nutzen, und bei Blasenentleerungsstörung und erhöhten Restharnwerten kann eine intermittierende Katheterisierung oder ggf. ein Bauchdeckenkatheter sinnvoll sein. Führen diese Maßnahmen nicht zum Erfolg, ist eine Pharmakotherapie angezeigt, wobei vor allem Anticholinergika (= Muskarinrezeptorantagonisten/Antimuskarinika) zur Detrusordämpfung bei DÜ verabreicht werden. Wird ein adäquater Therapieerfolg durch konservative Maßnahmen nicht erreicht, so sind minimalinvasive Therapien wie Neuromodulation oder Injektion von Botulinumtoxin A in Betracht zu ziehen. Ultima Ratio stellen chirurgische Eingriffe wie Blasen(teil)entfernung mit Harnableitung oder Blasenaugmentation durch Darm oder eine Sphinkterotomie dar. Letztere kann durch die Schließmuskelzerstörung eine intravesikale Niederdrucksituation sicherstellen.

Konservative Therapie

Zu den konservativen Maßnahmen bei neurogenen Blasenfunktionsstörungen gehören regelmäßige Bewegung, soweit dies möglich ist, der Verzicht auf das Rauchen und eine gesunde Ernährung sowie ein adäquates Trinkverhalten [19]. Die Patienten sind in einem angemessenen Inkontinenzschutz zu unterweisen. Außerdem sind im Rahmen einer Rehabilitation ein Blasentraining indiziert und abhängig von den individuellen Gegebenheiten auch Beckenbodenübungen, eine Beckenbodenstimulation sowie Biofeedbackverfahren [19, 5].

Pharmakotherapie

Die initiale Therapie des überaktiven Detrusors besteht in der oralen Gabe von Anticholinergika (Syn.: Antimuskarinika). Für diese Medikamentengruppe gibt es eine lange Anwendungserfahrung. Sie stellt eine wirksame Therapieoption für die überaktive Blase dar und kann außerdem die Lebensqualität der Patienten verbessern. Oxybutynin, Trospiumchlorid, Propiverin und Tolterodin sind die klassischen antimuskarinergen Substanzen. Alternativ kann der Einsatz von Mirabegron, einem ß3-Adrenorezeptoragonisten, erwogen werden (Off-Label, da Zulassung nur für die idiopathische überaktive Blase (engl.: idiopathic overactive bladder, iOAB)), auch kombiniert mit Anticholinergika. Alphablocker wie Tamsulosin oder Terazosin werden in Kombination mit Detrusor-tonisierenden Parasympathomimetika (z.B. Distigmin) zur Behandlung des hypokontraktilen Detrusors u/o RH-Bildung eingesetzt. Beschriebene Nebenwirkungen sind orthostatische Hypotonie, Herzrhythmusstörungen, Übelkeit, Durchfall, Mundtrockenheit, Schwindel und Benommenheit.

Systemische Nebenwirkungen von Anticholinergika

Bei der Verordnung von Anticholinergika ist eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich. Dabei sind insbesondere die systemischen Wirkungen und damit die potenziellen Nebenwirkungen der Substanzen zu beachten. Diese können infolge der weiten Verbreitung der antimuskarinischen Rezeptoren zu Restharnbildung, Obstipation, Akkommodationsstörung, Mundtrockenheit, Tachykardie, Rhythmusstörungen, Anstieg des Augeninnendruckes, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen führen. Bei Parkinsonpatienten kann es zudem zu Psychosen kommen. Neurogene Patienten benötigen unter Umständen höhere Antimuskarinika-Dosen als Patienten mit einer idiopathischen Detrusorüberaktivität. Unerwünschte Ereignisse infolge einer Aufdosierung können sich jedoch negativ auf die Adhärenz auswirken [3, 21, 22]. Daher sollten auch alternative Darreichungsformen wie z. B. die transdermale Applikation oder eine intravesikale Instillation von Oxybutynin in Betracht gezogen werden, um Nebenwirkungen zu reduzieren.

Minimalinvasive Verfahren

Sind Allgemeinmaßnahmen sowie eine Pharmakotherapie nicht ausreichend effektiv und kommt es auch beim Wechsel auf ein anderes Anticholinergikum nicht zur adäquaten Besserung der Beschwerden und damit verbunden zur Steigerung der Lebensqualität, empfehlen die nationalen und internationalen Leitlinien zwei weitere Therapieoptionen: die Injektion mit Botulinumtoxin A und die sakrale Neuromodulation.

Sakrale Neuromodulation

Die sakrale Neuromodulation (SNM) ist eine minimalinvasive Behandlungsmethode für die überaktive Blase und weitere Beckenfunktionsstörungen. Hierbei gibt ein im oberen Gesäßbereich implantierter Schrittmacher über eine Elektrode schwache elektrische Impulse an die Sakralnerven ab. Durch die hauptsächlich afferent wirkende Stimulation der Sakralnerven werden spinale Reflexe moduliert und neuronale Netzwerke im Gehirn reorganisiert. PET-Untersuchungen haben gezeigt, dass durch die chronische sakrale Neuromodulation Gehirnstrukturen beeinflusst werden, die für die Detrusorhyperaktivität, die Wahrnehmung der Blasenfüllung, das Harndranggefühl und das Einleiten der Miktion verantwortlich sind. Kernschritt des minimalinvasiven Verfahrens ist die unter Allgemeinanästhesie durchgeführte Elektrodenimplantation, typischerweise am Sakralnerv S3. Die SNM hat sich als Behandlungsmethode international etabliert und gilt allgemein als sicher. Zudem bietet das Verfahren eine kurzfristige Evaluierung vor einer möglichen Langzeitlösung. Mögliche Komplikationen sind chirurgisch gut beherrschbar. Allerdings liegen im Gegensatz zu nicht neurogenen Blasenfunktionsstörungen bei neurogenen Blasenfunktionsstörungen (noch) keine randomisierten Studien vor; bei kompletter Querschnittslähmung wird die SNM zurzeit (noch) nicht eingesetzt.

Behandlung mit Botulinumtoxin A

Die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin A in den Detrusor vesicae hat sich als Therapie der medikamentenrefraktären neurogenen Detrusorhyperaktivität sowie bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie fest etabliert. Das minimalinvasive Verfahren verbessert die urodynamischen und subjektiven Parameter sowie die Lebensqualität der Betroffenen deutlich. Es schließt die Lücke zwischen der medikamentösen und der offenen operativen Therapie und kann letztere potenziell reduzieren. Daher empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie in ihrer „Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen“ diese Therapieoption. Auch in den europäischen Leitlinien wird die Botulinumtoxin-A-Injektion mit dem Evidenzgrad 1A bei der NDO bewertet. Onabotulinumtoxin A ist derzeit das einzige zugelassene Botulinumtoxin A zur Behandlung der Harninkontinenz bei Erwachsenen mit neurogener Detrusorhyperaktivität bei neurogener Blase infolge einer stabilen subzervikalen Rückenmarkverletzung oder Multipler Sklerose. Die Behandlung mit Botulinumtoxin A wurde zum 1. Januar 2018 in den EBM aufgenommen. Die Leistung können Urologen und Gynäkologen abrechnen. Die Honorierung erfolgt extrabudgetär. Voraussetzung für die Abrechnung ist eine Genehmigung der KBV. Diese wird erteilt, wenn einmal pro Jahr die Teilnahme an einer von den jeweiligen Landesärztekammern anerkannten Fortbildung zur Therapie von Blasenfunktionsstörungen im Umfang von mindestens acht CME-Punkten nachgewiesen wird.

Wirkmechanismus

Botulinumtoxin A hemmt die Freisetzung von Acetylcholin sowie weiterer Neurotransmitter und senkt damit die Aktivität des Detrusormuskels. Nach der Injektion erschlafft der Blasenmuskel, was eine
  • Senkung des Blasendrucks zur Folge hat,
  • eine Steigerung der Blasenkapazität sowie
  • eine Verminderung des Harndranges und
  • eine Reduktion der Miktionsfrequenz.

Klinische Wirksamkeit

Im Rahmen des Studienprogramms wurde die Wirksamkeit und Sicherheit von Botulinumtoxin-A-Injektionen bei 858 NDO-Patienten geprüft. Die Behandlung bewirkte eine signifikante Reduktion der Inkontinenzepisoden als primärem Endpunkt, wobei 37 % der Patienten in der Woche 6 zu 100 % kontinent waren. Die gleichzeitige Anwendung von Anticholinergika hatte keinen Einfluss auf den Therapierfolg. Die Behandlung führte ferner zu einer signifikanten Zunahme der maximalen zytometrischen Kapazität [32] sowie zu einer signifikanten Reduktion des maximalen Detrusordruckes im Vergleich zu Placebo. Erzielt wurde zudem eine signifikante Besserung der Lebensqualität, wobei die Mehrheit der Patienten angab, mit der Therapie zufrieden zu sein. Die Wirkung der Injektionen hielt im Mittel über acht bis zehn Monate an. Die Therapieabbruchrate war mit unter 3 % aufgrund unerwünschter Ereignisse (UAE) sehr niedrig. Auch bei wiederholter Anwendung traten nicht vermehrt UAE auf.

Chirurgische Eingriffe

Chirurgische Eingriffe werden erwogen, wenn konservative Maßnahmen versagt haben. Die Augmentation-Zystoplastik ist ein chirurgisches Verfahren, das bei Erwachsenen und Kindern eingesetzt wird, die keine angemessene Blasenkapazität oder Detrusor-Compliance besitzen. Eine anatomische Vergrößerung der Blasenkapazität über Augmentation-Zystoplastik mit Hilfe von Darmsegmenten ist bei therapierefraktärer Detrusorhyperaktivität etabliert. Zu den Komplikationen der Enterozystoplastik gehören jedoch Stoffwechsel- und Elektrolythaushaltstörungen, Perforationsgefahr beim intermittierenden Selbstkatheterismus, Bakteriurie oder Harnwegsinfekte infolge Schleimproduktion, die ebenfalls zu Entleerungsstörungen führen kann. Eine Autoaugmentation strebt an, die Blasenkapazität ohne Transplantat oder Öffnen der Blase zu erhöhen, und wurde entwickelt, um die mit der Enterozystoplastik verbundene Morbidität zu umgehen. Die meisten Patienten, die sich einem Augmentationsverfahren unterziehen, sind nicht in der Lage, die Blase vollständig zu entleeren und benötigen einen intermittierenden Selbstkatheterismus.

Zusammenfassung

Die aktuellen Leitlinien klassifizieren die wichtigsten neurogenen Innervationsstörungen des unteren Harntraktes in Detrusorhyperaktivität, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD), hypokontraktiler Detrusor und hypoaktiver Sphinkter. Die Detrusorhyperaktivität ist durch unwillkürliche Detrusorkontraktionen während der Füllphase gekennzeichnet, die spontan auftreten oder provoziert werden können. Die Störung kann durch neurodegenerative Erkrankungen wie beispielsweise Multiple Sklerose, Morbus Parkinson oder auch durch Rückenmarkläsionen bedingt sein. Ist durch allgemeine Maßnahmen keine adäquate Besserung zu erzielen, kommen üblicherweise Anticholinergika zum Einsatz. Nebenwirkungen sowie eine unzureichende Adhärenz beeinträchtigen den Erfolg der Pharmakotherapie jedoch allzu oft. Als minimalinvasives Verfahren empfehlen die Leitlinien in solchen Fällen die Injektion von Botulinumtoxin A, das eine signifikante Reduktion der Harninkontinenz bei guter Verträglichkeit bewirkt. Das Verfahren schließt eine Behandlungslücke zwischen der Pharmakotherapie und einer chirurgischen Intervention.